Die Austreibung der Schönheit II. Warum das Buch von Monelle mich traurig macht.

Kolumnist Sören Heim hat ein literarisches Kleinod entdeckt, das es wohl in kein zeitgenössisches Verlagsprogramm schaffen würde. Sogar, wenn er selbst dort für das Sortiment verantwortlich wäre.

eigenes

Es ist ja wahr. Wahrscheinlich erscheinen heute pro Tag mehr ordentlich geschriebene, sauber durchkomponierte, im Großen und Ganzen starke literarische Werke als vor 100 Jahren in einem Jahr. Und trotzdem werde ich selbst beim Lesen von starken Texten wie „Die Geschichte von Kat & Easy“, „Saint X“ oder sogar noch „Der Gott der kleinen Dinge“ (zwei der besten Titel des Jahres und einer der besten aller Zeiten) manchmal traurig. Weil sich nicht immer verdrängen lässt, wie sehr auch sie für ein Mainstreaming in der über den Markt vermittelten Literatur stehen, das es immer schwerer macht, dass in größeren Verlagen wirklich außergewöhnliche Literatur erscheint. Man erinnere sich nur, was selbst in Deutschland in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg in Publikumsverlage fand. Solch crazy Shit etwa wie die Texte des jungen Arno Schmidt. Johnsons Jahrestage. Peter Weiss‘ Genitiv-Kaskade Der Schatten des Körpers des Kutschers. Und zugegeben: Nicht nur Gutes, aber dennoch Einzigartiges: Ich halte wirklich nicht viel von Günter Grass, aber ob die Sprache selbst eines zahmen Grass wie „Katz und Maus“, geschweige denn der „Blechtrommel“ oder „Der Butt“, heute noch die Lektorats-Verteidigungswälle des Luchterhand-Verlages überwinden könnte? Klar, manchmal erscheint noch sprachlich oder formal Ungewöhnliches, besonders wenn es in ein Themenfeld passt, das gerade gehyped wird. Doch selbst die ungewöhnlichen Werke heute wirken ungewöhnlich kalkuliert. Ein zeitgenössischer „poetischer“ Text ist meilenweit von den verschlungenen dichten Zwischenkriegsmeisterwerken etwa einer Else-Lasker-Schüler oder eines Robert Walsers entfernt; ein zeitgenössischer „kryptischer“ Text folgt einer Kryptik, die meist wohlkalkuliert, dadurch oft auch etwas imitatorisch, wirkt und seltenst die Faszination eines Franz Kafka oder eines Bruno Schulz ausüben wird.

Ich hätte es wohl selbst aussortiert

Gerade lass ich Marcel Schwobs „Das Buch von Monelle“. Aber auch hier kam mir dieser Gedanken wieder. Ich gebe zu, wäre ich ein gehetzter Verlagslektor, ich wäre wahrscheinlich gar nicht bis zu der Stelle vorgedrungen, an dem das Buch seine Güte offenbart. Denn die ersten zehn Seiten enthalten kleine Predigten oder Sinnsprüche der Titelheldin Monelle, die durch den Text meist mit wie heilig wirkender Abwesenheit glänzt. Ja: Sie scheint tatsächlich so eine Art Heilige der Moderne, die den Erzähler leiten soll, doch sie sagt: „Ich komme aus der Nacht und verschwinde in der Nacht, denn auch ich bin eine kleine Prostituierte.“ Und dann predigt sie, mit Anklängen an Nietzsche, und diese zehn Seiten waren sicher damals schlecht und sind es heute, und dann verschwindet sie.

Erst jetzt zeigt sich „Das Buch von Monelle“ als jenes Kleinod, das es ist. Denn nun folgt unter dem Titel „Die Schwestern der Monelle“ eine Sammlung sehr kurzer Erzählungen, die immer etwas Märchenhaftes haben und meist einen rätselhaften, teils kaum wirklichen Schluss, in dem oft das Erlangen einer fantastischen anderen Welt und das Sich-Verlieren an diese (und/oder den Tod) nah beieinander liegen. Die Texte stehen meist nebeneinander, aber nicht immer; ein oder zwei dieser Texte wirken, als seien sie sich der anderen Texte bewusst und die meisten teilen zumindest einige Motive miteinander. Besonders prägnant sind dabei Spiegel, die neben Selbsterkenntnis meist auch von finsterem Schrecken umwoben sind. Es folgt unter dem Titel „Monelle“ eine weitere Textsammlung, die nun noch enger verbundene Texte versammelt. Verschiedene Inkarnationen der Monelle spielen die Hauptrolle, bis sich der Erzähler schließlich selbst von ihr entführen lässt in ein fantastisches Reich, das gelernt hat, die Lüge zu lieben.

Nein, dieses Buch ist kein wohlkomponiertes Werk und 99 von 100 Büchern gereichte das zum Nachteil. Die ersten zehn Seiten dürfen vielen Lesern so auf den Nerv gehen, dass sie das Buch auf die Seite legen. Ich war kurz davor. Und warum sind einige Geschichten offenkundig sich der Existenz der anderen Geschichten bewusst, während andere meist relativ berührungslos nebeneinander stehen? Selbst mit der Rückkehr der Monelle findet das Buch nicht zu letzter Konsequenz, einige der Texte aus dem letzten Drittel könnten ganz gut auch im längeren Buch „Die Schwestern der Monelle“ stehen. Und doch glaube ich nicht, dass das Werk im Ganzen durch eine strengere Komposition zu einem besseren würde. Es ist eben wie bei Kafka, wo man zweifeln darf, ob „Das Schloss“ oder „Der Prozess“ gewönnen, hätte der Autor die Werke fertiggestellt. Das Buch von Monelle stellt in genau der Form, in der es eben erschienen ist, den Leser vor immer wieder neue Wunder. Es schillert, es leuchtet, es lässt Nebel aufziehen – es entzieht sich einem Verständnis, das am Ende klar sagt: Aha, so ist das alles gedacht. Und ohne, dass ich behaupten möchte, dass genau das nun eben das bewusste Kompositionsprinzip sei, findet sich darin der Charakter der sich meist entziehenden Monelle doch wieder gut aufgehoben.

Nochmal:
Das idiotische Ressentiment gegen den Selbstverlag.

So oder so: Wie so viele literarische Kleinode des späten 19. und des 20 Jahrhunderts hätte dieses Buch wohl heute keine Chance, anderswo als im Selbst- oder Kleinstverlag zu erscheinen. Und deshalb macht mich, so viel Mist von Selbstverlegern auch produziert werden mag, das idiotische Ressentiment gegen den Selbstverlag immer wieder wütend, in das zwar Kleinstverlage oft nicht explizit eingeschlossen werden, das diese aber genauso treffen müsste, denn in Wahrheit haben diese kleinen Ein-Personen-Unternehmen ja oft ähnlich wenig Ressourcen für Lektorat und Marketing wie Selbstverleger. Aber: Hier wird sich die ganz große, die besondere Literatur finden, auch wenn sie unglaublich schwer aufzufinden ist zwischen all den Publikationen, angesichts derer man manchmal das Gefühl hat, heute übertreffe die Zahl der Publizierenden längst sogar die Zahl der Lesenden. In den Publikumsverlagen findet man dagegen neben der breiten Masse des unerträglich Banalen vor allem noch das sauber Gearbeitete, das zwar wohlkomponierte, sich aber doch selbst in der Spitze und international immer mehr Ähnelnde. Auch so entstehen gewiss Meisterwerke. Aber die Vielfalt, aus der am ehesten etwas ganz Neues sprießen kann, stirbt. Ja, selbst bei Autoren, die an komplett unterschiedlichen Enden des literarischen Spektrums stehen – sagen wir Pynchon oder Rushdie auf der einen Seite und der spätere Tom Wolfe auf der anderen – gibt es mittlerweile mehr formale und stilistische Ähnlichkeit als zwischen den Kriegen etwa, die Heinrich Mann und Alfred Lasker Schüler oder William Faulkner und John Steinbeck ausgefochten haben.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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