Das „Wunder an der Weichsel“? Zum 100. Jahrestag des polnisch-sowjetischen Krieges

Der polnisch-russische Gegensatz, der eine sehr lange Tradition hat, erfuhr mit dem im April 1920 ausgebrochenen polnisch-sowjetischen Krieg eine zusätzliche Zuspitzung. Die entscheidende Schlacht dieses Krieges fand vor etwa hundert Jahren vor den Toren Warschaus statt und ging in die Geschichte als das „Wunder an der Weichsel“ ein. Der Leiter der diplomatischen Mission der Westmächte in Warschau – der britische Staatsmann Lord D´Abernon – bezeichnete den polnischen Sieg vom August 1920 als eine der entscheidendsten Schlachten der Weltgeschichte. Diesem Ereignis und seiner Vorgeschichte ist die folgende Kolumne gewidmet.


Józef Piłsudski zwischen 1910 und 1920.  Library of Congress

Polens „geopolitische Falle“

Bevor ich auf die Ereignisse von 1920 eingehe, möchte ich einiges über die prekäre geopolitische Lage sagen, in der sich Polen insbesondere seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert befand. Polens mächtige Nachbarn (Russland, Österreich und Preußen) waren bekanntlich nicht bereit, sich mit der Souveränität Polens abzufinden und bereiteten ihr 1795 mit der dritten Teilung des Landes ein Ende. 1797 erklärten sie den polnischen Staat völkerrechtlich für erloschen. Die politische Klasse Polens fand sich indes mit diesem sogenannten „Verdikt der Geschichte“ nicht ab. Der Kampf um die Wiederherstellung der Unabhängigkeit stellte Generationen lang den roten Faden der polnischen Geschichte dar.  Ihr Ziel konnten die Verfechter der polnischen Unabhängigkeit aber erst am 11. November 1918 verwirklichen, also am Tag, an dem der Erste Weltkrieg offiziell zu Ende ging. Der Ausgang dieses Krieges war für Polen ausgesprochen günstig. Alle drei Teilungsmächte hatten den Krieg verloren und diese ihre Niederlagen stellten die wohl wichtigste Voraussetzung für die Wiederherstellung der polnischen Souveränität dar. Dennoch blieb die geopolitische Lage Polens auch nach der Gründung der „Zweiten Polnischen Republik“ (1918-1939) außerordentlich prekär.  Für seine beiden mächtigen Nachbarn – Deutschland und Sowjetrussland – verkörperte Polen die von ihnen vehement abgelehnte Versailler Ordnung. Seine größten territorialen Verluste hatte Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg im Osten hinzunehmen, also ausgerechnet dort, wo es den Krieg gewonnen hatte. Und zum größten Nutznießer dieser Entwicklung wurde der neuentstandene polnische Staat, an den das Deutsche Reich etwa 46 000 Quadratkilometer seiner früheren Territorien abtreten musste. Das Streben nach der Revision der deutschen Ostgrenze stellte ein außenpolitisches Axiom der Weimarer Republik dar. Dieses Streben habe beinahe mystische Züge angenommen, sagt in diesem Zusammenhang der amerikanische Historiker Harald von Riekhoff. Die Aussage des Oberkommandierenden der Reichswehr Hans von Seeckt vom September 1922 veranschaulicht deutlich, welche Intensität damals die antipolnischen Ressentiments in der preußischen Oberschicht erreichten. Seeckt schrieb nämlich in einem Brief an den damaligen Reichskanzler Wirth folgende Sätze:

„Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muss verschwinden und wird verschwinden durch eigene innere Schwäche und durch Russland – mit unserer Hilfe.“

Für das bolschewistische Russland war die Existenz des polnischen Staates ebenso lästig wie für Deutschland, denn er behinderte die direkte Verbindung zwischen Russland und Deutschland. Deutschland hatte in den weltrevolutionären Plänen der Bolschewiki zunächst die absolute Priorität. Abgesehen davon betrachtete die bolschewistische Führung das Deutsche Reich aufgrund seiner scheinbar unversöhnlichen Gegnerschaft zu den Siegermächten als einen wertvollen Verbündeten im Kampfe gegen die bestehende europäische Ordnung. Für alle ihre Pläne brauchten die Bolschewiki eine gemeinsame Grenze mit Deutschland. Polen stand ihnen also im Wege. Die Situation Polens erschwerte sich zusätzlich durch die Tatsache, dass es nur wenige Verbündete hatte, die ihm in seinem Überlebenskampf hätten wirksam helfen können. Die einzige Siegermacht, die Polen beinahe vorbehaltlos unterstützte, war Frankreich, aber geographisch war es viel zu weit von Polen entfernt und seine Machtreserven waren begrenzt. Von einer sofort wirksamen Hilfe konnte angesichts dieses Sachverhalts kaum die Rede sein. Im Kampfe um die Sicherung seiner Existenz war also Polen im Großen und Ganzen auf sich selbst gestellt. Davon ging der polnische Staatsgründer Józef Piłsudski auch aus. Deshalb konzentrierte er seine Bemühungen unmittelbar nach der Wiederherstellung des polnischen Staates in erster Linie auf den Ausbau der eigenen Streitkräfte.

Piłsudskis Pläne

Das Verhalten Piłsudskis während des russischen Bürgerkrieges, als er sich weigerte, den „weißen“ Gegnern der Bolschewiki zu helfen, weil sie für das „einige und unteilbare Russland“ kämpften, zeigt, dass er nicht den Bolschewismus, sondern die russischen imperialen Bestrebungen als solche am stärksten fürchtete. Die Bolschewiki wurden für ihn erst dann zum Hauptkontrahenten im Osten, als sie etwa Ende 1919 den Bürgerkrieg im Wesentlichen zu ihren Gunsten entschieden und das russische Reich in seinem territorialen Bestand weitgehend wiederhergestellt hatten. Piłsudski wollte den Bolschewiki keine Zeit lassen, sich innenpolitisch zu konsolidieren und die außenpolitische Isolierung zu durchbrechen. Unmittelbar nach dem Bürgerkrieg war Sowjetrussland noch relativ schwach und von der Außenwelt isoliert. Piłsudski war sich aber darüber im Klaren, dass jedes Jahr Frieden die Bolschewiki innerlich stärken und sie einem Modus vivendi mit dem Westen näherbringen werde. Die ersten Zeichen für die Anerkennung der Bolschewiki durch die Siegermächte waren schon vorhanden. Am 16. Januar 1920 wurde die Blockade gegen Sowjetrussland von den Siegermächten aufgehoben. Am 27. Februar 1920 erklärten die Ententemächte, sie würden Kriege der Nachbarstaaten Russlands gegen die Bolschewiki nicht mehr unterstützen. Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen des sowjetischen Staates mit der Außenwelt begannen sich zu entwickeln. Die Stabilisierung der bolschewistischen Macht ging schnell voran. Nicht zuletzt deshalb entschloss sich Piłsudski im April 1920 zu einem Angriff. Sein Ziel war die Schaffung einer starken Föderation derjenigen Völker, die ein Gegengewicht zu der deutschen und russischen Hegemonie in Osteuropa hätten bilden können. Unter der Führung Polens sollten Ukrainer, Weißrussen, Litauer und vielleicht auch noch andere Nationen des ehemaligen russischen Reiches in diese Föderation eintreten. Aber Piłsudskis Plan hatte eine Schwäche, die das ganze Unternehmen zum Scheitern verurteilen sollte: die Völker, die er von den Bolschewiki zu befreien und in eine Föderation mit Polen zusammenzuschließen gedachte, lehnten die polnische Hegemonie ebenso vehement ab wie die russische.

Am 26. April 1920 begann Piłsudski seine Offensive, am 7. Mai 1920 nahmen die Polen Kiew ein. Aber diese Erfolge waren kurzfristig. Piłsudski gelang es nicht, in der Ukraine einen antibolschewistischen Aufstand zu entfesseln.

Der polnische Angriff verursachte in ganz Russland eine allgemeine nationale Empörung. Sogar die monarchistischen Kreise Russlands unterstützten jetzt die Bolschewiki, weil sie für das unteilbare Russland gegen einen traditionellen Nationalfeind kämpften. Diese nationalen Gefühle nutzten die Bolschewiki geschickt aus. Die ehemaligen Zarengeneräle Brusilow und Poliwanow riefen die russischen Offiziere auf, in die Rote Armee einzutreten. Polens Annexionspläne im Osten waren sogar für die unversöhnlichsten Gegner der Bolschewiki unannehmbar. Der Kampf für das unteilbare Russland war für sie Pflicht, sogar unter der Führung der Bolschewiki. Der Krieg entfesselte extreme nationalistische Leidenschaften auf beiden Seiten.

Die bolschewistische Gegenoffensive

Am 13. Juni 1920 räumten die Polen Kiew, und so begann die sowjetische Gegenoffensive, die ununterbrochen bis Mitte August dauerte und erst bei Warschau aufgehalten wurde. Die Lage Polens schien ab Juli 1920 beinahe aussichtslos. Eine bolschewistische Armee unter dem populären sowjetischen Militärführer Tuchatschewski näherte sich Warschau, die zweite unter Jegorow und Budennyj, die politisch von Stalin betreut wurde, belagerte Lemberg. Der Westen kümmerte sich, abgesehen von Frankreich, kaum um Polens Schicksal. Dessen Lage wurde zudem durch probolschewistische Sympathien der westeuropäischen Arbeiter erschwert. Wegen dieser Sympathien waren den Ententeregierungen die Hände gebunden, selbst wenn sie sich zu einem Krieg zur Rettung Polens entschlossen hätten. Polen musste also die bolschewistische Gegenoffensive ganz allein abwehren.

Die Rote Armee, die in Richtung Warschau vorrückte, wurde nun von den Bolschewiki als Befreiungsarmee dargestellt. Sie sollte angeblich den polnischen Arbeitern und Bauern helfen, ihre nationalistisch gesinnte Herrenschicht zu stürzen. Die Bolschewiki appellierten an die Klasseninstinkte der polnischen Werktätigen. Die Antwort der „polnischen Werktätigen“ war aber eindeutig. Statt die Bolschewiki als Befreier zu begrüßen, solidarisierten sie sich mit den eigenen Streitkräften. Diese Identifizierung der polnischen Volksschichten mit dem neuen Nationalstaat stellte im Grunde die wichtigste Voraussetzung für sein Überleben dar. Am 24. Juli 1920 entstand in Warschau die „Regierung der nationalen Verteidigung“ unter dem Bauernführer Wincenty Witos. Alle wichtigen politischen Parteien Polens, abgesehen von den Kommunisten, waren an ihr beteiligt. Sie mobilisierte zusätzlich mehr als 200 000 Mann, darunter auch freiwillige Bauernbataillone. Diese nationale Erhebung rettete Polen vor dem Schicksal der Ukraine oder der transkaukasischen Völker, die ihre Souveränität verloren und zum Bestandteil des Sowjetreichs wurden. Piłsudski schreibt in seinen Erinnerungen, dass er während der gesamten bolschewistischen Offensive niemals Angst um das polnische Hinterland gehabt hätte. Überall, wo dies möglich gewesen sei, hätten die polnischen Bauern die Bolschewiki entwaffnet. Und dann fügt Piłsudski hinzu: Die Polen wären die letzten gewesen, die sich für das russische Experiment entschieden hätten. Sie seien Russland viel zu nah, um sich eine solche Nachahmung zu erlauben.

Man warnte Lenin von allen Seiten. Vor allem die polnischen Kommunisten, aus ihrer Kenntnis der tiefen Abneigung gegen die Russen in allen Schichten der polnischen Bevölkerung, warnten ihn vor einem zu weiten Vordringen in ethnisch polnische Gebiete. Der bolschewistische Deutschlandexperte, Karl Radek, der aus Galizien stammte und die polnischen Verhältnisse sehr gut kannte, erklärte Lenin, die Polen würden die Russen nie als Befreier ansehen. Auch Leo Trotzki war gegen eine Offensive in rein polnische Gebiete. Aber Lenin war nicht zu überzeugen. Er sah hier die einmalige Möglichkeit, mit einem Schlag, die ganze bürgerliche Ordnung in Europa zu zerstören. Er hoffte, nach der Eroberung Polens direkten Kontakt mit Deutschland aufnehmen zu können, um dort eine Revolution zu entfesseln. In allen seinen revolutionären Plänen war Deutschland das Hauptziel.

Auch Stalin, der sich zur Zeit des Vormarsches der Roten Armee in Richtung Warschau im Stab der sowjetischen Süd-West-Front in Charkow (Ostukraine) befand, beurteilte die militärische Lage der Bolschewiki äußerst optimistisch. Am 13. Juli 1920 telegraphierte er an Lenin:

„Die polnischen Armeen zerfallen gänzlich. Ihre Kommunikationskanäle funktionieren nicht mehr, sie sind führerlos … Ich denke, der Imperialismus war noch nie so schwach wie jetzt, im Augenblick der polnischen Niederlage, und wir noch nie so stark.“

Das „Wunder an der Weichsel“?

Diese Unterschätzung des Gegners, und zwar sowohl seiner politischen als auch seiner militärischen Stärke, sollte sich alsbald rächen. Zwischen der sowjetischen Nordarmee, die in Richtung Warschau vorstieß, und der Südarmee, die Lemberg belagerte, klaffte eine immer größere Lücke. Piłsudski warf all seine Reserven in diesen Zwischenraum und machte dadurch die Vereinigung der beiden sowjetischen Armeen unmöglich. Sie blieben voneinander isoliert und die polnischen Streitkräfte konnten sie aufreiben bzw. zum Rückzug zwingen.

Durch den Sieg vom August 1920 hatte Polen nicht nur seine formelle Unabhängigkeit bestätigt. Es hatte auch den Plan der Bolschewiki, „die Weltrevolution auf den Spitzen der Bajonette der Roten Armee in das Herz Europas zu tragen“, zum Scheitern gebracht.

Lenin gestand ein, dass er die Intensität der antirussischen Gefühle bei den Polen falsch eingeschätzt hätte. Die deutsche Kommunistin Clara Zetkin erinnert sich an folgende Sätze Lenins:

„Es ist in Polen gekommen, … wie es vielleicht kommen musste. Sie kennen doch alle die Umstände, die bewirkt haben, dass unsere tollkühne, siegessichere Vorhut keinen Nachschub von … Munition und nicht einmal … (trockenes) Brot erhalten konnte. Sie musste Brot und anderes Unentbehrliche bei den polnischen Bauern und Kleinbürgern requirieren. Und diese erblickten in den Rotarmisten Feinde, nicht Brüder und Befreier. Sie fühlten, dachten und handelten keineswegs sozial, revolutionär, sondern national, imperialistisch. Die Bauern und Arbeiter, von den Piłsudski-Leuten … beschwindelt, verteidigten ihre Klassenfeinde, sie ließen unsere tapferen Rotarmisten verhungern, lockten sie in Hinterhalte und schlugen sie tot.“

Auf der dritten Sitzung der 9. Konferenz der bolschewistischen Partei am 23. September 1920 wurden viele bolschewistische Führer, insbesondere Stalin für eine allzu optimistische Bewertung der Siegesaussichten der Roten Armee in Polen kritisiert. Besonders scharf wurde Stalin von Trotzki angegriffen. Für diese Offenheit, die in der bolschewistischen Führung zu Beginn der 1920er Jahre noch als selbstverständlich galt, sollten später viele Kritiker Stalins teuer bezahlen.

Im Oktober 1920 unterzeichneten Sowjetrussland und Polen in Riga einen Waffenstillstand und im März 1921 einen Frieden, der die polnisch-sowjetische Grenze endgültig fixierte. Polen behielt nun den größten Teil der Gebiete, die es bereits vor dem Ausbruch des polnisch-sowjetischen Krieges kontrolliert hatte.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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