12 Euro Mindestlohn: Gebot der Stunde oder Jobkiller?

Wo die Tarifparteien versagen, muss es einen gesetzlichen Mindestlohn geben, sagt Kolumnist Henning Hirsch. Und der sollte so bemessen sein, dass die Menschen nicht im Jobcenter um Aufstockung betteln müssen


Das von der Basis frisch gekürte SPD-Spitzenduo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans forderte im innerparteilichen Wahlkampf eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns (ML) auf 12 Euro/ Stunde.

In einem Facebook-Thread, den ich mit der Überschrift …

Mindestlohn 12€ finde ich gut. Befreit von staatlicher Stütze und kurbelt die Nachfrage an

… gestartet hatte, oszillierten die Reaktionen von:

Wissenschaftler haben errechnet, dass 12.98 Euro notwendig sind, um Altersarmut zu verhindern.

über:

Ist immer eine Frage des Standpunktes. Die bei mir angestellten Architekten bekommen sicher viel mehr, aber Werkstudenten kann ich mir dann nicht mehr leisten.
&
12 Euro liegen deutlich über dem, was in meiner Branche für angestellte Trainer üblich ist.

bis hin zu:

Ist Lohn ein Sozialhilfe-Instrument oder die Vergütung für Arbeit?
&
Eine betriebsbedingte Entlassung ist die Alternative und kein adäquates Instrument Altersarmut zu verhindern, finde ich.

Von Anfang an stark umstritten

Nun war das im Vorfeld des Beschlusses über die  Einführung des MLs im Sommer 2014 (Gesetz trat am 1. Januar 2015 in Kraft) nicht viel anders gewesen, Geschrei und Kassandrarufe erreichten schon damals schwindelerregende Ausmaße. Das Abwandern kompletter Wirtschaftszweige ins benachbarte Ausland wurde prognostiziert, ein dramatischer Niedergang des heimischen Gewerbes herbeiorakelt. Und passiert ist im Nachgang herzlich wenig. Also passiert auf der negativen Seite. Weder kam es zu Massenentlassungen, noch starben Branchen den Kostenexplosion-Sekundentod. Ganz im Gegenteil: der Konjunkturmotor brummt. Die aktuell 9.19€ ML helfen den Niedriglöhnern, besser über die Runden zu kommen und stärken die Binnennachfrage, da das mehr verdiente Geld zum überwiegenden Teil in den Konsum fließt.

So weit, so gut. Trotzdem müssen Fragen erlaubt sein:
(a)   Wie viel ML verträgt die Wirtschaft? Kann der problemlos jährlich immer weiter angehoben werden?
(b)   Ist der ML für sämtliche Branchen praktikabel?
(c)   Sollen alle Arbeitnehmer davon partizipieren? Was ist bspw. mit Praktikanten, Werkstudenten und Schüleraushilfen?

Denn natürlich soll der Mindestlohn nicht dazu führen, dass Menschen, die nur eine temporäre Arbeit – z.B. in den Semesterferien –, suchen, in Zukunft aufgrund zu hoher Lohnkosten nicht mehr eingestellt werden. Wie ist der ML für Kleingewerbetreibende, die eine 20-Stunden-Aushilfe beschäftigen möchten, zu sehen? Ein flächendeckender, starrer ML kann durchaus einen negativen Beschäftigungseffekt bewirken. Es wäre blauäugig, dies nicht wahrhaben zu wollen.

Andererseits – wer vierzig Stunden pro Woche arbeitet, sollte NICHT:
■ sich abends bei McDonald’s an die Kasse setzen …
■ am Wochenende im Eroscenter die Warmmiete hinzuverdienen …
■ als Zweitberuf Banken ausrauben oder Millionärsgattinnen entführen …
■ im Jobcenter aufstocken …
… müssen.

Schon Roosevelt lehnte Magerlöhne ab

Der frisch gewählte US-Präsident Franklin D. Roosevelt formulierte seine Abneigung gegen Löhne, die nicht zum Leben ausreichen, im Sommer 1933 auf diese Weise:

Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben. (…) Mit einem zum Leben ausreichenden Lohn meine ich mehr als das bloße Existenzminimum – ich meine Löhne, die ein anständiges Leben ermöglichen.

9.19€/ Stunde bedeuten hochgerechnet auf den Monat ein Gehalt in der Größenordnung von rund 1600€ brutto. Davon kann, nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben, wahrlich niemand ein anständiges Leben, wie es Roosevelt vorschwebte, führen. Vermutlich reicht es noch nicht mal zum eigenen Mini-Apartment, sondern allenfalls zur möblierten Untermiete in einer Vorort-WG. Bei einer Anhebung auf 12€ resultierte daraus ein Monatssalär von immerhin etwas über 2000€. Schwer vorstellbar, dass es Branchen gibt, die das ihren Arbeitnehmern nicht ausbezahlen können. Und große Sprünge kann der Angestellte dann immer noch nicht machen. Weder teure Urlaubsreisen noch Eigenheim oder sorgenfreie Altersvorsorge sind damit möglich.

Während die beiden oben genannten Sondertatbestände temporäre Beschäftigung (Praktikanten, Werkstudenten) und Kleingewerbe durchaus Ausnahmen nach unten rechtfertigen, greift der Vorwurf des Eingriffs in die Tarifautonomie nicht so richtig. Es steht den Tarifpartnern ja durchaus frei, höhere Standards zu vereinbaren. Bloß unter die 9.19 Euro dürfen sie bei ihrer Vereinbarung nicht gehen. In vielen Branchen wird deshalb mehr bezahlt als der gesetzliche Mindestlohn.

Der Markt hilft den Niedriglöhnern auch nicht weiter

Auch ist den Niedriglöhnern nicht mit den abgedroschenen Hinweisen auf ihre (angeblich) niedrige Qualifizierung und den Markt, der (auch hier: angeblich) alles regelt, geholfen. Zum einen trifft es nicht nur gering Qualifizierte, zum anderen müssen ebenfalls schlecht Ausgebildete, die fulltime malochen, ein Gehalt beziehen, das ihre Lebenshaltungskosten deckt. Wer will dem dauerarbeitslosen Romanisten mit gutem Gewissen sagen: „Hättest du vor dreißig Jahren mal besser nicht Italienisch und Französisch studiert, sondern was Anständiges gelernt“? Und als Tipp geben: „Lass dich von der Arbeitsagentur auf Programmierer umschulen. Die werden von der Wirtschaft händeringend gesucht. Oder bewirb dich als Aushilfskraft in nem Altersheim“? Die Weiterbildungskapazität von Menschen ist begrenzt. Aus einem arbeitslosen Bäcker lässt sich nicht so einfach ein IT-Experte machen. Ein Hartz4-LKW-Fahrer wird nicht über Nacht zum Krankenpfleger. Ein jobsuchender Deutschlehrer kann nicht bis zur Rente in einem Call Center telefonieren. Wer bei diesen menschlichen Dramen schulterzuckend auf deren nicht marktfähige Ausbildungsgänge verweist, drückt damit vor allem eins aus – nämlich dass ihm das Schicksal dieser Menschen gepflegt am Arsch vorbeigeht.

BGE könnte eine Alternative sein

Unterstellt, es gibt Branchen, die einen Lohn von 12 Euro nicht zahlen können, weil die höheren Personalkosten nicht auf die Verkaufspreise umwälzbar sind – dann böte sich eine weitere Variante der Kompensation an: Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Das muss nicht sehr hoch bemessen sein. Man könnte mit 500 Euro/ Monat starten. BGE plus Entlohnung unter ML werden steuerfrei gestellt und mit einem reduzierten Beitragssatz zu den Sozialversicherungen belastet. Das wäre ein möglicher Weg, um Vollzeit-40 Stunden-Niedriglöhnern den entwürdigenden Gang zum Jobcenter zu ersparen, um dort nach Aufstockung zu betteln.

Ein Gehalt, das zur Abdeckung der Lebenshaltungskosten ausreicht, dient so ganz nebenbei der Stärkung der Selbstwertschätzung des einzelnen Arbeitnehmers und nimmt damit Druck aus dem Kessel der täglich spürbarer werdenden Einkommensungleichheit und -ungerechtigkeit. Ein positiver, deeskalierender Effekt, der in einem Gemeinwesen nicht unterschätzt werden sollte.

Von daher sind 12€ neuer Mindestlohn – von den oben genannten Ausnahmen abgesehen – sinnvoll und zu befürworten.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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