Der einen ihr Kopftuch ist der anderen das Goldkettchen

Wenn wir Symbole aus Schulen verbannen wollen, darf ein Verbot sich nicht aufs Kopftuch beschränken, meint Henning Hirsch


Kopftuch, Kopftuch … egal, was ich lese, höre oder mir im Fernsehen anschaue: überall und ständig wird über das Kopftuch diskutiert. Ein patriarchalisches Unterdrückungssymbol sei es, schimpfen die einen, während die anderen sagen: Soll jede das tragen, wonach ihr der Sinn steht.

Als ich vergangenen Sonntag am späten Vormittag die Treppe runter zum Parkplatz laufe, um mir beim Bäcker ein paar Brötchen für mein spätes Frühstück zu besorgen, begegne ich ihr unten vor der Haustür: der türkischen Großfamilie, die die Stockwerke drei und vier in unserem Hochhaus bewohnt.

»Guten Morgen«, sage ich.
»Günaydın! Nasılsın?«, kommt es zurück.
»Bei mir ist alles okay. Hoffe, bei Ihnen ebenfalls.«

Die türkische Gruppe umfasst an diesem Morgen rund ein Dutzend Personen, die sich auf drei Generationen verteilen. Zwei Kopftuchträgerinnen befinden sich darunter. Allerdings weder die Tochter – circa Mitte 30 – noch deren Töchter – die taxiere ich auf 5 und 10 –, sondern die Großmutter und eine alte Tante, die beide – im Unterschied zur restlichen Familie – unsere Sprache nur radebrechen, während alle anderen sich in perfektem Deutsch mit mir unterhalten können.

Es handelt sich um eine Einzelfallbeobachtung, die keinesfalls repräsentativ ist. So viel Ahnung habe ja auch ich von Statistik. Also erkundige ich mich am Tag darauf bei der Leiterin des nebenan befindlichen Kindergartens, die ich morgens zufällig auf der Straße treffe, wie die Kopftuchsituation im Bullerbü ausschaut: »Gibt’s bei uns nicht«, antwortet sie. »Und in der Grundschule?«, hake ich nach. »Weiß ich nicht zu hundert Prozent. Aber soweit ich informiert bin, trägt ebenfalls dort kein Mädchen einen Hijab.« Auch diese Angabe ist Lichtjahre entfernt von repräsentativ; jedoch beschleicht mich der Eindruck, dass wir in Punkto Kopftuch eine Phantomdebatte führen. Das Straßenbild selbst in Kölner Vierteln wie Ehrenfeld, Kalk und Nippes mit seit Jahrzehnten hohem moslemischem Bevölkerungsanteil wird davon nicht beherrscht, schon gar nicht bei den jungen Frauen. Und an Grundschulen und Kindergärten dürfte das Kopftuch eher die absolute Ausnahme denn die Regel darstellen. Thema wegen Nicht-Relevanz eigentlich erledigt. Oder doch nicht?

Viel Wind um ein kleines Stück Stoff

Nachdem der österreichische Kanzler Kurz vergangene Woche vehement am Kopftuch zupfte, indem er ein Verbot an Schulen und in Kindergärten in Aussicht stellte, zieht nun die Landesregierung NRW nach.

Religionsunmündige Kinder dürfen nicht dazu gedrängt werden, ein Kopftuch zu tragen,

meint der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp (FDP).

Parteichef Christian Linder springt ihm zur Seite. Ein solches Verbot sei verhältnismäßig und stärke die Persönlichkeitsentwicklung der Mädchen.

Es ist zugleich ein leider notwendiger Hinweis, dass unsere moderne Gesellschaft die individuelle Religionsfreiheit auch innerhalb von Familien verteidigt.

Wow, denke ich. Selbst die Liberalen, denen die Kleidung anderer Menschen eigentlich völlig egal sein sollte, sagen nun dem Kopftuch den Kampf an. Ist das nicht eher Empörungspotenzial für Konservative? Also Laschet, Klöckner, Seehofer und Dobrindt. Was für ein Wirbel um ein harmloses Stück Stoff.

Nun kann man selbstverständlich contra Kopftuch sein. Warum auch nicht? Ich mag fünfhundert Sachen, angefangen mit dämlichen Försterhüten über hässliche Prinz-Heinrich-Mützen bis hin zu albernen Panamastrohdeckeln überhaupt nicht und würde die am liebsten sofort aus allen Verkaufsregalen entfernen. Wir müssen dann aber sauber argumentieren und die Religion der anderen, von der wir noch weniger Ahnung als von unserer eigenen haben, außen vor lassen. Anstatt also über die angebliche Unterdrückung der Frau im Islam mittels steinzeitlicher Kleidervorschriften zu philosophieren, sollten wir ehrlich sagen: »Wir mögen Kopftuch und Hijab nicht, weil diese Stofffetzen unserem ästhetischen Empfinden zuwiderlaufen. Die westliche Frau trägt ihr Haar offen. Kopfbedeckungen sind einzig bei Dauerregen, auf der Skipiste, chronischen Ohrenschmerzen und beim Sommerfest des Bundespräsidenten erlaubt«. Das ist eine klare Ansage, die jeder versteht. Diese Art der Argumentation korrespondiert in etwa mit der Aussage eines arabischen Kollegen, der mir vor ein paar Jahren im Suq von Dubai erklärte: »Miniröcke und ärmellose Oberteile eurer Frauen verletzen UNSERE Gefühle. Deshalb dürfen sie solch freizügige Kleidung nur innerhalb der Hotelanlagen tragen; aber nicht, wenn sie durch unsere Straßen spazieren«. Das leuchtete mir ein. Er sagte übrigens nicht: »Ihr Christen hängt einer Religion ohne Moral und Anstand an und zwingt eure Frauen zur Befriedigung eurer Geilheit in Bikinis und Hotpants hinein«. Er begnügte sich damit, darauf hinzuweisen, dass die Kleidungsvorschriften in seinem Teil der Welt von denjenigen des Westens abweichen. Und genauso sollten wir – wenn wir sie denn unbedingt lostreten möchten – die Diskussion um den Hijab ebenfalls führen – nämlich komplett losgelöst von religiösen Spekulationen.

Schulen von sämtlichen religiösen Symbolen befreien

Abgesehen davon, dass die Kopftuchdebatte ohnehin nur auf einen kleinen Prozentsatz Muslima zielt – denn so viele sind es in Deutschland nicht, die es täglich anziehen -, müssen wir, wenn wir dieses Kleidungsstück aus öffentlichen Gebäuden verbannen wollen, ohnehin einen Schritt weitergehen und  sämtliche Symbole, die am Körper getragen werden, genauer unter die Lupe nehmen. Denn es kann ja nicht sein, dass ein moslemisches Mädchen A kein Kopftuch tragen darf, während ihre gleichaltrige Mitschülerin B mit einem zur Kommunion geschenkten Goldkettchen, an dem ein Kreuz baumelt, neben ihr sitzt, und gleichzeitig Schülerin C, deren Eltern einer evangelikalen Sekte angehören, selbst im Hochsommer mit wadenlangem Rock und Kniestrümpfen zum Unterricht erscheint. Was ist mit einem jüdischen Jungen, der eine Kippa aufsetzt? In Deutschland steht es jedem frei – insofern er dabei nicht gegen die guten Sitten verstößt, indem er beispielsweise öffentlichen Ärger erregt, die Allgemeinheit belästigt oder verfassungswidrige Symbole zur Schau stellt – sich so zu kleiden, wie es ihm beliebt. So lange Kinder das noch nicht eigenständig hinbekommen, übernehmen zumeist die Mütter die Auswahl an Hosen, Schuhen, Hemden und Kopfbedeckung.

Damit es jetzt nicht heißt, „der Hirsch propagiert das Kopftuch selbst für kleine Mädchen, die sich nicht dagegen wehren können“ – nein, das tue ich nicht. Ich sehe diese Altersgruppe genau wie Sie lieber mit wehendem Haar über den Schulhof tollen; aber: Ich bezweifele stark, dass ein Symbolverbot, das sich auf den Hijab begrenzt, vor dem Verfassungsgericht Bestand haben wird. Wir müssen dann schon alle religiösen Zeichen aus Kindergärten und Schulen verbannnen. Ebenfalls das goldene Kommunionskettchen der Nachbarstochter. Denn die war, als man es ihr um den Hals legte, auch erst 9 und damit weit entfernt von religionsmündig.

Persönliche Ansprache durch Lehrer sinnvoller als Verbot

Wer legt fest, welche Kleidung für ein Kind angemessen ist: Eltern oder der Staat? Wäre es nicht sinnvoller, die Lehrer führten Einzelgespräche mit Mutter und Vater, als jetzt mal wieder populistisch die Verbotskeule hervorzuholen?

Querbeet durch die Parteienlandschaft stehen deutsche Politiker dem österreichischen Vorschlag deshalb skeptisch bis ablehnend gegenüber:

Ich halte es juristisch für extrem schwierig, das Elternrecht auf Religionsfreiheit einzuschränken
Ekin Deligöz (Bündnis 90/ Die Grünen)

Mädchen, die aus religiösen Gründen unter Druck gesetzt werden, brauchen keine Verbote, sondern gut ausgebildetes pädagogisches Personal an Schulen und ausfinanzierte Hilfs- und Beratungsangebote
Christine Buchholz (Die Linke)

Ich persönlich halte nichts von solchen Verboten. Themen wie Toleranz, Weltoffenheit und Diversität gehören an jede Schule und an jeden Kindergarten. Deshalb arbeiten wir auch nicht mit Untersagen.
Susanne Eisenmann (CDU, Kultusministerin in Baden-Württemberg)

Ich kann die Motivation dafür zwar gut nachvollziehen, bei einer solchen Maßnahme stellen sich aber schwierige verfassungsrechtliche Abwägungsfragen. Ein Verbot löst auch nicht das Problem, das dahinter steht. Es müssen die Eltern erreicht und die Mädchen stark gemacht werden, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen.
Annette Widmann-Mauz (CDU, Integrationsbeauftragte der Bundesregierung)

Klingt für mich durch die Bank weg vernünftiger als der Ruf nach dem Verbot. Wer will übrigens beurteilen, ob das Tragen eines Kopftuchs stets unfreiwillig erfolgt und Ausdruck einer intoleranten religiösen Gesinnung ist? Was ist mit der Muslima, die es aus traditionellen Gründen, oder weil sie es hübsch findet, tut? Selbst wenn sie es aufgrund ihres Glaubens aufsetzte – was wäre daran verwerflich? Nur weil sich Teile der heimischen Bevölkerung kilometerweit vom Christentum entfernt haben, kann das ja nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Moslems in dieselbe atheistische Richtung marschieren müssen.

Mal wieder über Schuluniformen nachdenken

Für einen Symbolbann aus Schulen kann ich mich dennoch erwärmen. Der müsste dann aber eine Radikallösung sein: weg mit religiösen und Statuszeichen. Einheitliche Uniform für alle, keinerlei Kopfbedeckungen, Kruzifixe abhängen in den Klassenzimmern. Ein striktes Neutralitätsgebot für Bildungseinrichtungen, die von der öffentlichen Hand betrieben werden (Ausnahme: Hochschulen; da die Studenten volljährig sind). Von nicht verfassungskonformen Flickwerkverboten halte ich hingegen überhaupt nichts. Heute der Hijab, morgen das Dharma-Rad und übermorgen dann die Kippa. Entweder behandeln wir alle Religionen und ihre Symbole gleich, oder wir müssen uns den Vorwurf – zu Recht – gefallen lassen, dass wir die Muslime bei der freien Auswahl der Schulkleidung gegenüber den anderen Glaubensrichtungen benachteiligen wollen.

Hier nochmal eine Kurzzusammenfassung am Ende der Kolumne:
(A) Kopftuch ist ein künstlich aufgebauschtes Problem
(B) Aus welcher Intention heraus es die Frauen und Mädchen aufsetzen, weiß außer der Trägerin niemand so ganz genau
(C) So lange keine guten Sitten verletzt werden, geht es den Staat Nullkommnull an, wer sich wie anzieht
(D) Wer symbolfreie Schulen haben möchte, der muss diese Forderung auf sämtliche Symbole ausweiten
(E) Ein Symbolverbot, das einzig auf das Kopftuch zielt, ist nichts anderes als religiöse Diskriminierung.

Und nun bin ich bei der türkischen Großfamilie zum Abendessen eingeladen. Gibt heute Köfte mit Tomaten-Zwiebel-Salat. In dieser Familie sagen übrigens die Frauen den Männern, wo es langgeht. Von mittelalterlichen Geschlechterrollen kann keine Rede sein.

PS. vor knapp zwei Jahren erschien schon mal ein Beitrag aus der Feder von Nina Scholz und Heiko Heinisch Kopftuch und Islamismus bei den Kolumnisten, in dem die Autoren zu anderslautenden Schlussfolgerungen als ich gelangten

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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