Seehofer und die höchsten Güter
„Sicherheit ist das höchste Gut einer Demokratie.“ meint der neue Bundesinnen-. Bau- und Heimatminister, Horst Seehofer. Da hat er vielleicht etwas falsch verstanden
2013 erfand bzw. fand der damalige Bundesinnenminister Friedrich ein Supergrundrecht auf Sicherheit. Solche Erfindungen sind bei Politikern immer dann beliebt, wenn es darum geht, die Freiheit der Bürger einzuschränken. Nun will also Seehofer, der Mann, den sie in Bayern nicht mehr brauchen konnten, als Chef des BMIBH – das erste Ministerium mit BH – den alten Quark weiter breit treten. Hat allerdings den Vorteil, dass ich für diese Kolumne auf große Teile einer früheren zurückgreifen kann. Damals schrieb ich zu Friedrichs Hirnblähungen.
Das kam mir alles irgendwie bekannt vor. Das war nicht Friedrichs Idee, das war was Altes. Längst abgehakt. Aber mir fiel einfach nicht ein, wo ich das schon mal gehört oder gelesen hatte. Sie kennen das bestimmt auch. Man kommt nicht auf Anhieb drauf, aber das Gehirn grübelt einfach mal so still vor sich hin. Ohne dass man bewusst nachdenkt.
Die Erinnerung
Und dann plötzlich die Erinnerung. Professor Isensee, Examensrepetitorium an der Universität Bonn. Ich sah ihn wieder vor mir. Den kleinen, quirligen Professor vorne am Pult des Hörsaals. Er wütete gegen alles und jeden, wusste alles besser und das meiste anders. Stockkonservativ, aber äußerst eloquent, brillant argumentierend und richtig unterhaltsam, ein Freidenker. Wer mit ihm diskutieren wollte, musste mutig sein. Ich war’s damals nicht.
Es muss 1982 gewesen sein, als Isensee uns alle damit überraschte, dass er ein „Grundrecht auf Sicherheit“ ge- oder sagen wir lieber mal erfunden hatte. Er nannte das zwar nicht „Supergrundrecht“ wie Friedrich, aber gemeint war dasselbe. Die gleiche, auf den ersten Blick überzeugende Erkenntnis, dass die schönsten Freiheitsrechte ja nichts taugen, wenn man tot ist. Dass der Staat erst mal die Sicherheit garantieren muss, damit es für die Bürger überhaupt Freiheit geben kann. Dass es die Aufgabe des Schäfers ist, für die Sicherheit der Herde zu sorgen und dass die Schafe ihre Freiheit für die Sicherheit einschränken lassen müssen. Dass die Freiheit zurückstehen muss, wenn die Sicherheit in Gefahr ist und so weiter und so fort. Eine genial begründete verfassungsrechtliche Grundlage für Hardliner und Sicherheitsfanatiker. Scheinbar stimmig. Man wusste zwar instinktiv, dass da was nicht stimmen konnte, aber man fand den Fehler nicht auf Anhieb.
Die Vorlesungen bei Isensee waren immer ein Erlebnis, weil er rhetorisch fantastisch war. Auch wenn man politisch völlig anderer Ansicht war, konnte man seine Argumentationsketten und -tricks genießen. Auch das ist eine Spezialität der juristischen Ausbildung. Man lernt, jeden Unfug argumentativ sexy zu verpacken und an den Mann, die Frau oder „das Volk“ zu bringen.
Dass niemand im Grundgesetz selbst so ein Sicherheits-Grundrecht finden konnte, war für ihn und seine Anhänger überhaupt kein Grund, ein solches nicht trotzdem dort zu finden. Das ist wie bei einem Zauberer. Man weiß zwar, dass es ein Trick ist, aber man versteht nicht, wie er es gemacht hat. Und es brauchte auch eine Weile des Nachdenkens, bis sein Argumentationstrick erkennbar wurde. Dabei bin ich sicher, dass es ein bewusster Trick und nicht etwa ein Denkfehler war. Dazu war/ist er zu intelligent.
Isensee hatte die ursprüngliche Mittel-Zweck-Relation von Sicherheit und Freiheit einfach dadurch ausgehebelt, dass er der Sicherheit einen eigenen Grundrechtscharakter verpasste. Also behauptet, Sicherheit sei ein Grundrecht wie alle anderen und damit ein Wert an sich. So ist das aber nun gerade nicht, auch wenn’s so locker runtergeht und einleuchtend erscheint.
Sicherheit als solche ist erst einmal wertneutral und bekommt einen Wert erst durch das, was sie sichern soll. Man kann sich das Vorstellen wie eine Waffe, mit der die Freiheit verteidigt werden soll. Wenn der Inhaber der Waffe plötzlich die Waffe selbst als zu verteidigenden Wert an sich ansieht, wird’s gefährlich.
Der Trick
Diesen Trick – und noch einige mehr – wendet nun Seehofer erneut an. Er bereitet gerade das Feld für eine unglaubliche Ausweitung der Rechte des Staates zulasten der Freiheitsrechte der Bürger. Ob er sich dabei im Hinblick auf die Wahl in Bayern von der AfD getrieben fühlt, oder ob er aus eigenem Antrieb eine weitere Stufe zum Polizeistaat vorbereitet, kann ich nicht beurteilen. Tatsache ist aber, dass der Polizei durch das von ihm favorisierte Polizeiaufgabengesetz, dessen Gültigkeit er sich in allen Bundesländern wünscht, Überwachungs- und Eingriffsbefugnisse eingeräumt würden, wie es sie in Deutschland seit Gestapo und Stasi keine Behörde mehr hatten.
Aufgrund dieses Gesetzes darf die Polizei künftig bei Demonstrationen filmen, auch wenn gar keine Straftaten erwartet werden. Sie darf sogenannte Übersichtsaufnahmen machen und die dann mit anderen Bilddateien abgleichen. Dabei dürfen „Systeme zur automatischen Erkennung und Auswertung von Mustern, bezogen auf Gegenstände und das Verhalten von Personen“ eingesetzt werden. Sogar die automatische Identifizierung von Personen mit Gesichtserkennung, soll erlaubt werden. Wohlgemerkt, bei Personen, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen.
Dass durch solche Maßnahmen tief in das Grundrecht der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen wird, kümmert den Minister nicht die Bohne.
Der Totengräber
Weiter darf die Polizei künftig präventiv in die Telekommunikation eingreifen und „Kommunikationsverbindungen durch den Einsatz technischer Mittel unterbrechen oder verhindern“. Wenn also ihr Telefonat plötzlich beendet wird, muss das nicht an einem Fehler der Verbindung liegen. Außerdem darf künftig präventiv Post beschlagnahmt werden, bei Gefahr im Verzug sogar ohne richterliches Einverständnis. Ergo, die Polizei bekommt geheimdienstliche Befugnisse, also etwas, was die Mütter und Väter der Verfassung vor dem Hintergrund der Nazidiktatur unter keinen Umständen mehr in Deutschland sehen wollten. Der Hüter der Verfassung wird damit zum Totengräber des demokratischen, freien Rechtsstaats. Übermäßige Aufregung darüber gibt es darüber in der Bevölkerung nicht. Womöglich weil Seehofers Nebelkerze, „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, die Gemüter etwas von der eigentlichen Gefahr abgelenkt hat. Die geht nämlich weniger von unseren Muslimen, als von unseren Law and Order Politikern aus.
In einem freiheitlichen Rechtsstaat sind es die Menschen- und Grundrechte der dort lebenden Menschen, denen die Sicherheit zu dienen hat. Das wird wohl jedem einleuchten, der sich einmal Sicherheitsapparate in autokratischen Systemen ansieht. Diese Sicherheitssysteme sichern eben nicht die Rechte ihrer Bürger, sondern sie sichern ausschließlich die Sicherheit des Staates bzw. die der Machthaber auf Kosten der Freiheit. Und ohne jede Rücksicht auf andere Werte. Welcher Ideologie diese Systeme folgen, ist dabei völlig gleichgültig. Das können politische oder politisch-religiöse Systeme sein.
Wenn das System wichtiger wird als die in ihm lebenden Menschen, ist Sicherheit kein Wert, sondern eine Qual. Wer in einer „sicheren“ Zelle sitzt, wird dieser Sicherheit ebenso wenig Positives abgewinnen können wie der, um dessen Land eine Mauer gebaut wird, auch wenn er dort ausreichend mit Nahrung versorgt wird. Wer in einem „sicheren“ Staat lebt, der alles und jeden bespitzelt, wird das ebenfalls nur dann als positiv empfinden, wenn er zu den Spitzeln gehört. Die anderen wollen mit Sicherheit raus aus dieser Sicherheit.
Sicherheit hat ihre Berechtigung nur und ausschließlich da, wo sie dazu dient, die Freiheitsrechte der Bürger zu sichern. Sie kann nur Mittel zum Zweck sein und nicht Selbstzweck, wie die unveräußerlichen Grund- und Menschenrechte, die keiner weiteren Begründung oder Legitimation bedürfen.
Wer wie Seehofer behauptet, dass Sicherheit das höchste Gut einer Demokratie sei, der redet entweder bewusst oder unbewusst Unfug. Bei Seehofer nehme ich an, dass er das eher bewusst tut, um das neue bayerische Polizeiaufgabengesetz bald bundesweit durchzudrücken.
Wer nun, wie Isensee, Super-Isensee Friedrich oder nun der Werte-Horst, die Sicherheit als Grundrecht, als Supergrundrecht oder gar als höchsten Wert postuliert, spielt falsch. Da wird versucht, durch einen semantischen Trick den Eindruck zu erwecken, die Sicherheit und die Freiheitsrechte stünden auf einer gleichen verfassungsrechtlichen Ebene bzw. die Sicherheit stehe über den Grundrechten.
Dieser Argumentationstrick führt schon mal dazu, dass man eine „Balance“ zwischen Sicherheit und Freiheit fordern kann. Das kennt man vom Kinderspielplatz. Auf der Wippe sitzt rechts die Sicherheit und links die Freiheit, oder halt umgekehrt. Und wenn einer der beiden schwerer als der andere ist, dann neigt sich die Wippe in dessen Richtung. Ist die Sicherheit richtig schön fett, dann hängt die Freiheit buchstäblich in der Luft. Schön ist es dann, wenn die andere Seite ein zusätzliches Gewicht bekommt und sich alles wieder in die Schwebe hebt. Das ist das Bild, das in Ihrem Kopf entstehen soll. Aber es ist falsch.
Wenn Justitia da blind mit Augenbinde und mit ihrer Waage rumsteht, dann kann auch sie in die Waagschalen nicht einfach reinschmeißen, was sie will. Wenn Grundrechte gegeneinander abzuwägen sind, dann dürfen da auch nur Grundrechte auf die Waage und nichts anderes. Seehofer geht noch weiter. Wenn die Sicherheit der „höchste Wert“ ist, wird sie zum Joker, der alle anderen Grundrechte sticht. Das dickste Kind auf der Wippe.
Sicherheit ist kein Selbstzweck
Das bedeutet nun aber nicht, dass Sicherheit nicht wichtig wäre und schon gar nicht, dass der Staat nicht auch für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen hätte. Nein, natürlich hat der Staat eine Schutzfunktion und eine Schutzverpflichtung. Aber immer nur mit dem Ziel, die Freiheit der Bürger zu schützen. Und es gilt unter ganz engen Beschränkungen.
Wenn es in Art. 1 des Grundgesetzes heißt …
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
… dann wird bereits dort, ganz am Anfang der Verfassung, klargestellt, dass die Achtung und der Schutz – also das, was Sicherheitspolitik und Polizeiarbeit ausmacht – nicht in erster Linie dem Schutz des Staates als solchem, sondern dem Schutz der Menschenwürde zu dienen haben. Die Sicherheit ist zweckgebunden. Der staatliche Schutzauftrag ist zweckgebunden. Auch und gerade wenn es um sogenannte präventive Vorfeldermittlungen geht. Auch die dürfen nicht absolut gesehen werden.
Und wenn es dann Situationen oder Gefährdungen durch Terroranschläge oder neue Techniken oder Krankheiten gibt, die aus Sicht der Sicherheitspolitik neue Maßnahmen erfordern, dann stehen diese deshalb eben unter einem erheblichen Begründungszwang. Nicht der Bürger muss begründen, warum er seine Freiheitsrechte behalten möchte, sondern die Politik muss begründen, warum sie es für unbedingt erforderlich hält, in diese einzugreifen. Nicht alles, was sicherheitstechnisch möglich ist, ist auch erlaubt.
Wie würden Sie es denn so finden, wenn man wegen der tausende Verkehrstoten nur noch Autos zuließe, die maximal 30 km/h fahren und zudem von der „Bundeszentralstelle für totale Verkehrssicherheit“ per GPS gesteuert würden? Oder wenn Sie zur Vermeidung von Gesundheitsgefahren einem zwangsweisen Sport- und Ernährungsprogramm unterzogen würden? Alkohol, Nikotin, fette Speisen, süße Speisen aus Gründen der Gesundheitssicherheit bei Strafe verboten würden? Und selbst wenn das so wäre, wären damit weder Unfälle noch Krankheiten aus der Welt.
Ja, werden Sie sagen. Das ist jetzt aber polemisch. Hier geht es doch um die schreckliche Bedrohung durch Terroranschläge und die schlimme Kriminalität. Und ja, Terroranschläge und Kriminalität soll der Staat im Rahmen seiner Schutzfunktion möglichst verhindern. Ja, das stimmt. Aber eben nicht um jeden Preis und nicht mit jedem verfügbaren Mittel. Die zu ergreifenden Maßnahmen müssen erst einmal verhältnismäßig sein. Das bedeutet: sie müssen erforderlich sein, sie müssen geeignet sein und sie müssen angemessen sein. Erfüllt eine geplante oder bereits durchgeführte Sicherheitsmaßnahme auch nur eines dieser Kriterien nicht, dann ist sie verfassungsrechtlich nicht akzeptabel.
Wollt Ihr die totale Überwachung?
Nimmt man die vollständige Überwachung der Kommunikation – egal ob sie bereits besteht oder auch nur geplant ist – durch PRISM und TEMPORA, dann sind diese Maßnahmen zumindest schon einmal nicht angemessen, weil sie einen massiven Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung jedes einzelnen Bürgers darstellen. Dasselbe gilt für eine flächendeckende Videoüberwachung mit automatischer Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. Der Grundsatz, dass man sich den Staat jedenfalls dadurch vom Hals halten kann, dass man sich gesetzestreu verhält, wird damit ausgehebelt. Jeder wird behelligt, jeder überwacht. Und demnächst soll wohl jeder, den die Polizei als Gefährder einstuft – nach welchen Kriterien auch immer – bis zu drei Monate in Haft genommen werden dürfen. Bei Deniz Yücel waren wir uns doch alle einig, dass so etwas nur in einem autokratischen System möglich ist. Will Seehofer von Erdogan lernen, wie man seine Macht sichert? Es mag aber sein, dass das Volk heute begeistert JA ruft, wenn Seehofer die Frage stellt: „Wollt Ihr die totale Überwachung?“
Ob dieser Überwachungsoverkill zur Verhinderung von Anschlägen und Straftaten überhaupt geeignet ist, wäre die nächste Frage. Spätestens seit dem Bekanntwerden der Überwachung werden vermutlich nur noch völlig schwachsinnige Terroristen miteinander per Telefon oder Internet miteinander kommunizieren. Und fanatische Einzeltäter werden sich kaum selbst E-Mails schicken, bevor sie losziehen. Selbst wenn man eine Erforderlichkeit noch irgendwo erkennen könnte, würde das zur Rechtfertigung dieser Eingriffe eben nicht reichen.
Wenn nun unser neuer Innenminister glaubt, er könne Angriffe auf Grundrechte – ganz gleich wer sie begeht – mit einem Menschenrecht auf Sicherheit – so nannte er es gestern bei seiner Antrittsrede im Bundestag – rechtfertigen, dann irrt er gewaltig. Sein verfassungsmäßiger Auftrag besteht vielmehr in der Abwehr solcher Ein- und Angriffe. Übrigens auch, wenn sie von NATO-Partnern kommen. Wir sind in einem Verteidigungsbündnis, nicht in einem westlichen gegenseitigen Spionage-Swingerclub, in dem jeder mal mit jedem darf.
Es ist ja menschlich verständlich, wenn ein Innenminister seinen Berufserfolg in erster Linie daran messen will, dass in seiner Amtszeit kein Terroranschlag begangen wird. Aber – und dieses Aber kann gar nicht oft genug wiederholt werden – dafür darf er Menschenrechtsverletzungen weder befürworten noch dulden noch selbst begehen.
Einzig beruhigend ist, dass wir in Deutschland ein funktionierendes Verfassungsgericht haben, dass all diese feuchten Träum des Null-Toleranz-Ministers ruhig und gelassen in die Tonne klopfen wird.
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