Anstand tut Not
Die Sprache verroht, insbesondere in den sozialen Hetzwerken zunehmend. Anstand ist nicht mehr gefragt. Dabei wäre er jetzt genau das, was die Gesellschaft braucht.
Mein Verhältnis zum Anstand war als Kind eher zwiespältig. Wenn meine Mutter zu mir sagte,
Benimm Dich anständig!
dann war das ein Signal, still zu sitzen, nicht dazwischenzureden, nicht zu kleckern oder keinen Popel an die Tischdecke zu kleben. Ich empfand das als Einschränkung meiner persönlichen Freiheit. Ich fand es auch gar nicht lustig, dass ich im Bus für wildfremde Omas aufstehen sollte oder meine Schokolade mit anderen Kindern teilen sollte, damit deren „Herzchen nicht blutet“. Anständig sein empfand ich als mindestens anstrengend. Auf die Frage, warum ich etwas nicht machen dürfe, bekam ich häufig die Antwort:
Das gehört sich nicht.
Als Jugendlicher machte ich denselben Scheiß, den auch andere Jugendliche machten, nicht strafbar, aber eben auch nicht wirklich anständig. Einen Lehrer mobten wir sogar mit unserer Unanständigkeit in die Frühpensionierung. Wir fanden das lustig. Strafbar war da nichts. Anständig war das aber auch nicht und heute schäme ich mich dafür. Nein, das gehörte sich wirklich nicht.
Für Weicheier
Als Jurastudent glaubte ich, der Anstand sei eine antiquierte Vorstellung/Einrichtung von verknöcherten Greisen zur Einschränkung der Freiheit und es reiche völlig aus, wenn jeder sich an die Gesetze hält. Was nicht verboten ist, kann man machen. Anstand ist was für Weicheier.
Und heute? Heute weiß ich, dass Gesetze zwar durchaus wichtig sind, um eine Gesellschaft zu strukturieren, um die wichtigsten Rechtsgüter unter einen gewissen Schutz des Staates zu stellen, um den Versuch einer Annäherung an so etwas wie Gerechtigkeit zu unternehmen, dass das aber bei Weitem nicht genügt, um ein im Wortsinn menschliches gesellschaftliches Miteinander zu gestalten.
Die Stunde der Pöbler
Heute wird nicht etwa derjenige beachtet, der sich seinen Mitmenschen gegenüber anständig verhält, sondern der, der jeden Anstand vermissen lässt. Es ist die Stunde der Pöbler. Die sozialen Netzwerke mutieren zunehmend zu asozialen Hetzwerken. Je schlimmer der Tabubruch, um so höher der Effekt. Wenn der amerikanische Präsident einen höchst unanständigen Tweet absondert, dann erhält er dafür nicht nur die Aufmerksamkeit der Welt und allzu häufig noch Zustimmung seiner glühenden Anhänger, sondern auch noch ein unangebrachtes Presseecho.
Ich werde den Verdacht nicht los, dass es genau diese und nur diese Aufmerksamkeit ist, die die Unanständigkeiten verbreitenden Zeitgenossen erreichen wollen. Dass sie damit Erfolg haben, lässt sie immer unanständiger werden. Eine stufenweise Radikalisierung der Wortwahl ist nicht mehr zu übersehen. Das wird man doch noch sagen dürfen, ist die Parole dieser Leute. Das wird man doch noch sagen dürfen! Und wer ihnen widerspricht und an die simpelsten Regeln des Anstandes oder der Pietät erinnert, dem wird entgegengehalten, dass die entsprechende Äußerung doch der Meinungsfreiheit unterfällt, was sie meistens tatsächlich tut.
Meinungsfreiheit
So dürfte der Tweet
Meinen Sie, die barbarischen, muslimischen, gruppenvergewaltigenden Männerhorden so zu besänftigen?
entgegen der Auffassung der Kölner Polizei und mehrerer hundert Anzeigeerstatter tatsächlich nicht unter den Tatbestand der Volksverhetzung fallen – was man gerne bedauern darf. Den Tatbestand wegen einer sogenannten Schutzlücke auf derartige Äußerungen zu erweitern, bringt auch nicht wirklich etwas, weil die durchaus juristisch gebildeten Hetzer nahezu immer eine neue Provokation finden werden, die gerade noch so nicht strafbar ist.Dass es ausgerechnet drei Juristen sind, die in der letzten Zeit durch Unanständigkeit auffielen, schmerzt mich besonders. Und weil die Meinungsfreiheit nun tatsächlich ein hohes Gut unserer Demokratie ist, sollten wir sie auch nicht weiter einschränken. Es geht ja auch gar nicht darum, den politischen Meinungskampf zu regulieren. Der ist wichtig und darf auch mit harten Bandagen ausgetragen werden. Aber eben nicht dadurch, dass man den Anderen unter die Gürtellinie schlägt oder ihm ein Ohr abbeisst. Das ist nicht nur beim Boxen unfair und es disqualifiziert den Angreifer. Wer die besseren Argumente hat, benötigt keine Tiefschläge.
Ähnliches gilt für den bereits letzter Woche zitierten Tweet des Dresdner Rechtsanwaltes zum gewaltsamen Tod des Mädchens Mia in Kandel
Vater der ermordeten 15jährigen wusste, dass Afghane älter ist und hat Beziehung gefördert. Das arme Kind hatte keine Chance bei derlei Multikulti-versifften Eltern. Grauenhaft. #Kandel
Dass derartige Äußerungen gegenüber den Betroffenen äußerst verletzend und für jeden anständigen Menschen unakzeptabel sind, ändert nichts daran, dass das Strafrecht da wohl keine wirkliche Handhabe bietet, obwohl ich den Begriff „Multikulti-versifft“ durchaus gerne einmal überprüft gesehen hätte. Beim „Halbneger“-Tweet des Schuldkultbeenders kann das womöglich ganz anders aussgehen, als der Twitterer sich das gedacht hat. Familie Becker hat einen Anwalt beauftragt.
Dass das Recht diesen Widerlichkeiten nicht beikommt, ja schon aus Kapazitätsgründen gar nicht beikommen kann, weil man sonst eine Art Sprachpolizei und starre Äußerungsregeln schaffen müsste, was natürlich kein halbwegs vernünftiger Mensch will, bedeutet nun aber nicht, dass die Gesellschaft diesen Aufmarsch der Unanständigen einfach so tatenlos hinnehmen müsste.
Das gehört sich nicht!
Was könnte man tun? Zunächst einmal wäre es hilfreich, den Unanständigen die Aufmerksamkeit zu entziehen. Warum nicht einfach kurz sein Missfallen durch ein knackiges „Ekelhaft“ oder „Unanständig“ oder gerne auch „Das gehört sich nicht!“ zum Ausdruck bringen und sie ansonsten schneiden, wäre ein möglicher Umgang.
Niemand ist gezwungen, mit Unanständigen zu reden oder auf sie einzugehen. Man kann mit Rechten,Linken, Grünen, Gelben, Schwarzen, Blauen oder Andersfarbigen reden, man muss es aber nicht mit Unanständigen tun. Es gibt auch keinen rechtfertigenden Grund, seine politischen Auffassungen durch plakative Unanständigkeit und menschenverachtende Wortwahl auszudrücken. Unanständige Worte kommen von unanständigen Gedanken und führen zu unanständigen Handlungen.
Kein Wunder übrigens, dass gerade diesen Menschen nicht nur der Islam und das Judentum, sondern auch die christliche Religion ein Dorn im Auge ist. Egal ob es Papst Franziskus, Bischof Woelki oder andere Priester sind, die in ihren Predigten auf der Basis der Bibel für Nächstenliebe und Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten werben, ihnen wird eine unzulässige Politisierung der Religion vorgeworfen. Das heißt auf gut Deutsch, die sollen sich gefälligst nicht einmischen und nicht gegen den grassierenden Hass und die Unanständigkeit anpredigen. Tatsächlich geht es dabei vermutlich ja auch eher darum, dass die von den Religionen vermittelten Werte – die jenseits der gesetzlichen Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens wirken – den Unanständigen nicht behagen. Barmherziger Umgang mit Fremden ist für einen völkisch denkenden Menschen ein Gräuel. Man muss kein Christ sein, um zu bemerken, dass die z.B. in der Bergpredigt genannten Seligpreisungen sich auf Menschen beziehen, die in höchsten Maße „anständig“ sind.
Die Seligpreisungen, Matthäus 5
3 Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.
4 Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.
5 Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben.
6 Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden.
7 Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.
8 Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen.
9 Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.
10 Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich.
11 Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen.
12 Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. So wurden nämlich schon vor euch die Propheten verfolgt.
Da wird nicht denjenigen das Land versprochen, die andere niedermachen, sondern den Sanftmütigen. Da wird nicht derjenige gepriesen, der trauernde Eltern mit widerlichen Äußerungen traktiert, sondern den Trauernden wird Trost versprochen. Da wird den Barmherzigen Erbarmen versprochen und da werden die Friedensstifter gelobt.
Dass diese Botschaft denjenigen, die mit ihren Hetzereien dabei sind, mit Absicht die Gesellschaft zu zersetzen, nicht gefallen kann, ist kein Wunder. Umso wichtiger sind diese Botschaften, auch wenn sie gar nicht zwingend aus religiösen Quellen stammen müssen, sondern einfach aus der Erkenntnis heraus, dass für ein gedeihliches Zusammenleben unterschiedlichster Menschen neben den staatlichen Gesetzen auch noch andere Regeln, wie die des Anstands, erforderlich sind.
Die Basis
Die Basis unserer Verfassung lautet
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Das ist zwar zunächst nur ein Gebot an den Staat, die Menschenwürde der im Lande lebenden Menschen zu achten und zu schützen, es ist aber auch ein Grundsatz, den die Bürger untereinander einhalten sollten. Ein Deutschland, in dem Andersgläubige verfolgt und industriell vernichtet wurden, hatten wir schon einmal und auch da fing alles mit der Verrohung der Sprache an. Wer Menschen als Abschaum, Dreck, Müll oder ähnliches bezeichnet, ist nicht weit davon weg, diesen Abschaum, Dreck oder Müll zu entsorgen, sobald er dazu in der Lage ist.
Nicht alles, was rechtlich erlaubt ist, muss auch gesagt oder getan werden, wenn es andere Menschen verletzt. Eine Gesellschaft von zunehmend in ihrem Menschsein verletzten Menschen, wird am Ende eine verletzte Gesellschaft sein. Da nun die Unanständigen sich aufgemacht haben, diese Gesellschaft und ihre Grundlagen mit Hohn und Häme zu überziehen und den Versuch unternehmen, diese zu spalten, bedarf es des Zusammenhalts aller Anständigen, diese in die Schranken zu weisen. Das hat gar nicht mal etwas mit einer bestimmten politischen Richtung zu tun, auch wenn man zur Zeit den Eindruck hat, die Unanständigen hätten sich in Europa in der rechten Ecke postiert. Die Mittel des Staates und der Gesetze reichen dazu nicht aus. Die Frage lautet, ob die Anständigen das schaffen können? Die Antwort ist, sie müssen es.
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