Papier ist geduldig – Videovernehmung jetzt!

In Strafverfahren wird immer noch protokolliert wie zu Kaisers Zeiten. Papier ist zwar geduldig, die Protokolle dokumentieren aber nicht die Aussagen, sondern nur das, was der jeweilige Vernehmer davon aufgenommen hat. Es ginge besser. Im Interesse beider Seiten und der Wahrheitsfindung. Ein Appell für die Videovernehmung.


Es ging in einem Mordprozess um die Frage, ob der Beschuldigte bei seiner ersten Vernehmung von der Polizei ordnungsgemäß über seine Rechte belehrt worden war. Das war aus mehreren Gründen zweifelhaft. Zum einen war die Belehrung im Vernehmungsprotokoll nicht unterschrieben, zum anderen sprach der Beschuldigte kein Deutsch, außerdem hatte er ordentlich Alkohol im Blut. Der Kripobeamte konnte sich verständlicherweise nicht mehr so richtig an die Vernehmung erinnern, hatte aber die Eier, das auch zuzugeben. Also wurde die Dolmetscherin vernommen. Und die erinnerte sich lebhaft.

Ja, natürlich habe sie den Beschuldigten belehrt. Dass es nicht Aufgabe der Dolmetscherin ist, den Beschuldigten zu belehren, sondern nur das zu übersetzen, was der Beamte und der Beschuldigte sagen, störte bei der Vernehmung offenbar weder sie noch den Beamten. Hammer immer so gemacht. Der richtige Knaller kam dann aber, als die Dolmetscherin die Frage beantwortete, mit welchen Worten sie den Beschuldigten denn so belehrt habe.

Wie immer“, meinte sie, „ich habe ihm gesagt, dass er hier die Wahrheit sagen muss!“.

Das mag in dem Land, aus dem die Dolmetscherin stammt, vielleicht richtig sein, in Deutschland geht es allerdings kaum falscher. Immerhin hatte sie ihm nicht gesagt, dass er sonst gefoltert würde.

Die Belehrung

Es sogar ausdrücklich im Gesetz, worüber der Beschuldigte zu belehren ist.

§ 136
[Erste Vernehmung]
(1) Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, dass es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Er ist ferner darüber zu belehren, dass er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 Absatz 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und 3 beanspruchen kann. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.

Ganz einfach. Und weil es so einfach ist, ist eine korrekte Belehrung auch in den meisten Protokoll-Vorlagen bereits vorgedruckt. Sogar fett. Damit man das nicht vergisst und nicht überliest. Ob der Beschuldigte, der diesen Passus separat unterschreibt, das auch wirklich verstanden hat, weiß allerdings kein Mensch.

Sprecken nix Deuts

Es weiß auch niemand, ob die eingesetzten Dolmetscher richtig übersetzen. Später ist das nicht mehr nachprüfbar, da es in der Regel keine Ton- oder Videoaufzeichnung gibt. Papier ist geduldig. Und die meisten Beschuldigten sind viel zu nervös, um das Protokoll noch enmal vollständig zu lesen und zu verstehen, bevor sie es als richtig unterschreiben. Und ob der Dolmetscher richtig übersetzt hat, wissen sie auch nicht. Üble Falle.

Ich erinnere mich an ein Verfahren, in dem die Polizei von einem Schmuggel mit radioaktivem Material fantasierte, weil mehrfach das polnische Wort „siłownia“ nicht zutreffend mit „Fitnesscenter“, sondern mit seiner anderen Bedeutung „Kraftwerk“ gedolmetscht worden war. „Wir treffen uns heute Abend im Kraftwerk und da bekommst Du die Ware“, klingt natürlich recht dramatisch. Man weiß ja nicht, ob Homer Simpson einen Brennstab übergeben will.  Das Problem falscher Übersetzungen tritt übrigens nicht nur in Strafverfahren auf, sondern z.B. auch bei Asylverfahren. Auch dort kann eine falsche Übersetzung zu persönlichen Katastrophen führen.

Wäre im Eingangsfall die fehlende Unterschrift im Vernehmungsprotokoll nicht gewesen, dann wäre die Frage der Belehrung vermutlich gar nicht ernsthaft vom Gericht überprüft worden.

Wenn man sich vor Augen führt, dass bereits vor Beginn einer Beschuldigtenvernehmung ein derart gravierender Fehler passieren kann, dann kann man sich leicht vorstellen, wie das bei der weiteren Protokollierung der Aussage aussieht. Bei Zeugenaussagen ist das nicht anders.

Wie vor über 100 Jahren

In Deutschland, einem der größten Industrieländer der Welt, dessen Bürger stolz auf die dort entwickelte Technik sind, wird noch protokolliert wie vor über 100 Jahren. Lediglich die Schreibmaschinen wurden mittlerweile durch Computer ersetzt, die allerdings auch nur wie  etwas komfortablere Schreibmaschinen eingesetzt werden.

Andere Rechtsstaaten sind da weiter. In Großbritannien werden Vernehmungen audio-visuell dokumentiert. Als Standard, nicht als Ausnahme. Und zwar nicht etwa auf Druck übersensibler Menschenrechtler, wie man vielleicht annehmen könnte, nein, sondern weil die Polizei es sich so gewünscht hat.

Wenn es um vermeintliche Sicherheit geht, wimmelt es mittlerweile nur so vor Überwachungskameras und Aufzeichnungsmöglichkeiten. Alleine in den Bussen und Bahnen in und um München werden 7800, in Berliner U- und S-Bahnen 13.643 Kameras eingesetzt. Die Sicherheit der Wahrheitsfindung durch korrekte Dokumentierung von Aussagen und damit die Verbesserung der Entscheidungsrichtigkeit im Strafverfahren steht da nicht so im Mittelpunkt. Warum eigentlich? Die Gerichte sind auf korrekte Aussageerfassung angewiesen, wenn sie Recht finden und sprechen wollen.

Würden Vernehmungen grundsätzlich per Videoaufzeichnung dokumentiert, dann könnte ein Beschuldigter, der vor Gericht behauptet, er habe dieses oder jenes gar nicht gesagt, er sei gezwungen oder bedroht oder gar geschlagen worden, schnell eines Besseren belehrt werden. Wäre doch fein für den Beamten, dem unzulässige Vernehmungsmethoden vorgeworfen würden. Und es wäre auch fein, wenn verbotene Vernehmungsmethoden beweisbar würden. Fehler in der Niederschrift der Aussagen wären damit ein für allemal von Tisch.

Alles klingt gleich

Dass die Vernehmungsprotokolle das wiedergeben würden, was der Vernommene tatsächlich gesagt hat, entspricht leider selten der Realität. Vielmehr laufen die meisten Vernehmungen so ab, dass der Beschuldigte einige Sätze – oder auch Nichtsätze – von sich gibt  und der Beamte das dann so wiedergibt, wie er das verstanden zu haben glaubt. Und zwar mit eigenen Worten und eigenen Rechtschreibfehlern. Das sind in aller Regel keine Wortprotokolle, sondern mehr oder weniger freie Nacherzählungen und oftmals auch recht freie Interpretationen des Gehörten. Ich hatte schon mal an eine Wette bei „Wetten, dass ..?“ gedacht, wo ich aus 1000 anonymisierten Vernehmungsprotokollen den Vernehmungsbeamten erkenne. Da hat jeder so seinen eigenen Stil, der dann dem Vernommenen unbemerkt untergejubelt wird.

Wenn ein Verteidiger bei der Vernehmung dabei ist, lassen sich einzelne grobe Schnitzer zwar häufig noch korrigieren, aber das, was sonst so im Protokoll steht, hat oft nur wenig mit dem zu tun, was und wie es tatsächlich gesagt wurde.

Ich wundere mich nicht selten, dass reine Dialektsprecher erstmals in ihrem Leben angeblich zwei Stunden lang reines Hochdeutsch – oder das was der Beamte dafür hält – gesprochen haben sollen. Wenn ein Eifeler in tiefstem Eifeler Platt aussagt: „ Der wor öm.“ dann möchte ich das auch genauso im Protokoll stehen haben und nicht, „Der Betroffene war bereits verstorben.“

Manipulation durch Weglassen von Fragen

Außerdem werden offenbar immer wieder Fragen, Aufforderungen oder fiese Bemerkungen des Beamten gerne mal weggelassen. Kann man verstehen, dient aber gerade nicht der Wahrheitsfindung.

Es ist ja wahnsinnig nett, wenn ein Vernehmungsbeamter sich so sehr um das psychische Wohl eines Verdächtigen sorgt, dass er ihm ausschließlich aus diesem Grund rät, von seinem Schweigerecht keinen Gebrauch zu machen und stattdessen „sein Gewissen zu erleichtern“, weil es ihm dann besser ginge. Es ist auch recht fürsorglich, wenn er einem starken Raucher erklärt, dass er für den Fall, dass er jetzt – nach stundenlanger Vernehmung – endlich geständig ist, eine Zigarette rauchen darf. Wirklich erlaubt sind solche Vernehmungsmethoden natürlich nicht. Blöd ist nur, dass man dem Beschuldigten hinterher selten glaubt, dass die Vernehmung genau so verlaufen ist, wenn der Beamte das weit von sich weist und sich darauf beruft, dass davon ja nichts im Protokoll steht. Die richterliche Frage, warum der Beamte denn lügen sollte, kann ich schon nicht mehr hören. Dabei ist sie so leicht zu beantworten – weil er sich nicht korrekt verhalten und womöglich strafbar gemacht hat. Wer würde schon zugeben, dass er dem Beschuldigten Prügel angedroht hat, wenn er jetzt kein Geständnis ablegt?

Jeder Depp ein Filmemacher

In Zeiten der sozialen Netzwerke und der allgegenwärtigen Smartphones kann mittlerweile jeder Depp Videoaufzeichnungen machen. Das beweisen Abermillionen von Videos, die täglich neu im Internet erscheinen. Manche Straftäter sind sogar schon so freundlich, ihre Straftat gleich als Livestream zu dokumentieren. Und Filmen kann auch die Polizei. Sie kann es ja auch bei Demos, warum dann nicht auch im Vernehmungsraum?

Die komplette Videoaufzeichnung jeder Vernehmung – auch der in Gerichtsverfahren – würde alle Zweifel über den Verlauf und den Inhalt einer Vernehmung beseitigen. Jedenfalls über den Teil der Vernehmung, der dann auch aufgezeichnet wurde. Das und nur das, was in dem ungeschnittenen Video gesagt wurde, dürfte als Aussage verwertet werden. Man bräuchte den Beamten nicht mal mehr als Zeugen für den Verlauf der Vernehmung stundenlang im Gericht von seiner eigentlichen Polizeiarbeit abzuhalten. Es würden auch hundertausende polizeiliche Überstunden vermieden, die dadurch entstehen, dass die Beamten im Ein-Finger-Suchsystem über ihren Tastaturen nach den Buchstaben fahnden. Die elenden Unterbrechungen bei den Vernehmungen, die dadurch zustande kommen, dass Satz für Satz getippt werden muss, wären passé. Die Vernehmungen ließen sich in der Hälfte der Zeit durchführen. Auch das ein feiner Nebeneffekt. Warum das nicht längst gesetzlich vorgeschrieben ist, ist mir ein Rätsel.

Kein Ohr für Sarkasmus

Dazu kommt noch, dass es völlig ironiefreie und humorlose Beamte gibt, die z.B. die sarkastische Äußerung eines Beschuldigten, der nach stundenlanger Befragung sagt: „Na wenn Sie unbedingt meinen, dass ich den erstochen habe, dann wird das wohl so sein“ ernsthaft als Geständnis protokollieren. Dass Kommunikation nicht nur aus gesprochenen Worten besteht, sondern auch Mimik und Gestik, Tonfall und unwillkürliche Geräusche – wie verächtliches Schnauben – eine Rolle spielen können, sollte auch in der Justiz angekommen sein.

Auch fehlerhafte Übersetzungen durch Dolmetscher ließen sich so auch später noch nachweisen. Ich habe einmal eine Russischdolmetscherin in der Hauptverhandlung erlebt, deren Fahne von Moskau bis zur Richterbank stank. Mein Mandant, ein russischer Staatsbürger mit rudimentären Deutschkenntnissen, stubste mich an und wies mich darauf hin, dass die Übersetzung falsch und die Dame besoffen sei. Glücklicherweise waren Polizeibeamte mit einem Atemalkoholtestgerät im Sitzungssaal, die in der Sitzungs-Unterbrechung eine Atemalkoholkonzentration jedenseits von Gut und Böse feststellten. Mir wäre zwar vielleicht der Alkoholgeruch, aber nicht die falsche Übersetzung aufgefallen.

Es gibt die Audio-Video-Dokumentation in der Strafprozessordnung. Der § 58a StPO ist allerdings nur eine Kann- und nur bei sexuellem Missbrauch von Kindern eine Soll-Vorschrift. Immerhin sind also die Kameras vorhanden und kein technisches „Neuland“. Sie werden nur viel zu selten mal benutzt. Wenn sie andere überwachen wollen, bestehen die Ermittlungsbehörden doch auch immer auf moderner Technik. Bei sich selbst fremdeln sie damit.

Deshalb fordern Strafverteidiger schon seit geraumer Zeit eine Ausweitung der Videodokumentation von Vernehmungen. Wenigstens schon mal auf alle die Fälle, in denen später mit einer notwendigen Verteidigung gerechnet werden muss, also bei Verbrechen oder wenn absehbar ist, dass der Beschuldigte sich nicht selbst angemessen verteidigen kann. Daran sieht man auch, dass die Strafverteidiger die Rolle als Organ der Rechtspflege durchaus ernst nehmen und nicht darauf spekulieren, von den Protokollfehlern zu profitieren.

Es wäre so einfach

Schon seit 2010, also seit 7 Jahren, liegt ein kompletter „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von Bild-Ton-Technik“ vor, den der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer erarbeitet hat. Scheint aber bisher den Gesetzgeber nicht zu interessieren. Also wird schön auf Papier weiter gewurschtelt wie anno dunnemals.

Bis zur Wahl passiert ja nun eh nichts mehr. Dass etwas gegen diesen Gesetzesentwurf sprechen würde, ist für mich nicht erkennbar. Gegen ein „gewissenhaftes rechtsförmiges Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit“ kann doch niemand sein. Die Justiz schon gar nicht. Der nächste Justizminister bräuchte nur den Entwurf zu übernehmen, und dann könnte man die Gesetzesänderung meintwegen auch flink und geräuschlos in der Halbzeitpause eines Länderspiels durchwinken. Ob ich daran glaube? Eher nicht.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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