Eine Revolution „neuen Typs“ – vor 100 Jahren formulierte Lenin seine „April-Thesen“

Im Oktober 1917 errichteten die Bolschewiki in Russland das erste totalitäre Regime der Moderne und eröffneten dadurch ein neues Kapitel in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dieses Ereignis hatte einen programmatischen Prolog. Es handelte sich dabei um die von Lenin etwa sieben Monate zuvor formulierten April-Thesen


„Der selbstlose Egoist“

Der amerikanische Sowjetologe Betram Wolfe bezeichnete Lenin seinerzeit als einen selbstlosen Egoisten. Im Privatleben sei Lenin äußerst bescheiden und anspruchslos gewesen, im Bereich der Ideen hingegen habe er die Selbstherrlichkeit und Selbstgefälligkeit geradezu verkörpert. Er sei felsenfest davon überzeugt gewesen, dass er allein Marx richtig verstanden habe, dass die von ihm konzipierte Kampfstrategie die einzig richtige sei, um den Sieg der „proletarischen Revolution“ zu sichern.

In dieser Selbstgefälligkeit Lenins steckte allerdings ein Körnchen Wahrheit. Er gehörte zweifellos zu den erfolgreichsten Revolutionären des 20. Jahrhunderts. 1902 entwarf er in seiner programmatischen Schrift „Was tun?“ das Modell einer revolutionären „Partei neuen Typs“ – einer straff disziplinierten, zentralisierten Organisation von Berufsrevolutionären: „Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Russland aus den Angeln heben!“, verkündete er damals. Und mit diesem seinem Wunsch stimmte Lenin im Grunde mit den russischen Unterschichten überein. Auch die überwältigende Mehrheit der russischen Arbeiter und Bauern wandte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Zarenglauben ab und begann von einer Revolution zu träumen. Diese Übereinstimmung Lenins mit den Sehnsüchten der russischen Volksschichten verlieh seiner 1903 gegründeten Partei der Bolschewiki eine beträchtliche Anziehungskraft. Das offenbarte sich vor allem nach dem Sturz des Zaren im Februar/März 1917. Als Lenin die russischen Soldaten zur Desertion und die Bauern zur sofortigen gewaltsamen Enteignung des Gutsbesitzer  – „raubt das Geraubte!“ – aufrief, verletzte er zwar alle Spielregeln des soeben errichteten demokratischen Systems in Russland. Aber auch die Mehrheit der russischen Bauern, Soldaten und Arbeiter wollte von diesen Spielregeln nichts wissen. Der russische Philosoph, Fjodor Stepun, der zu den Akteuren der damaligen Ereignisse zählte, schrieb in seinen Erinnerungen:

Die Offenheit Lenins gegenüber allen Stürmen der Revolution hatte sich mit den dunklen, destruktiven Instinkten der russischen Massen zusammengefunden.

Ein anderer Zeitzeuge der damaligen Ereignisse, der Philosoph Nikolaj Berdjajew, fügte hinzu:

Lenin fühlte, dass seine Stunde gekommen war und dass sie dank des Krieges gekommen war, der mit sich die Zersetzung der alten Ordnung gebracht hatte. Er musste in ein Bauernland die erste proletarische Revolution der Welt bringen. Er fühlte sich frei von all den stereotypen Dogmen, mit denen ihn die Marxisten, Menschewiki (die gemäßigten russischen Sozialdemokraten) langweilten…. Er entschloss sich von der Bauernschaft Gebrauch zu machen, um (mit ihrer Hilfe) eine proletarische Revolution durchzuführen, und das gelang ihm zum Erstaunen der marxistischen Dogmatiker.

 „Keinerlei Unterstützung der provisorischen Regierung“

Bereits am 4. April 1917 – einen Tag nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil nach Russland – verkündete Lenin seine berühmt gewordenen „Aprilthesen“, die „Russland ein halbes Jahr später aus den Angeln heben sollten“ – so die Autoren eines 1991 in Moskau erschienenen Geschichtswerks „Unser Vaterland“. Lenin sagte:

Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Russland besteht im Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die in Folge des unterentwickelten Klassenbewusstseins und der ungenügenden Organisiertheit des Proletariats der Bourgeoisie die Macht gab, zur zweiten Etappe der Revolution, die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen muss. Dieser Übergang ist gekennzeichnet einerseits durch ein Höchstmaß an Legalität (Russland ist zur Zeit von allen kriegführenden Ländern das freieste Land der Welt), andererseits dadurch, dass gegen die Massen keine Gewalt angewandt wird, und schließlich durch die blinde Vertrauensseligkeit der Massen gegenüber der Regierung der Kapitalisten, der ärgsten Feinde des Friedens und des Sozialismus.

Danach verkündete der Führer der Bolschewiki folgende Parolen: „3. Keinerlei Unterstützung der provisorischen Regierung … 4. … Aufklärung der Massen darüber, dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind “

Nicht nur für die gemäßigten russischen Sozialisten, sondern auch für die Mehrheit der bolschewistischen Führer stellten die Thesen Lenins einen wahren Schock dar. Lenin habe aufgrund seiner langjährigen Emigration den Bezug zur russischen Realität verloren, meinten übereinstimmend viele Beobachter, sogar manche Bolschewiki. Stalin kritisierte damals die Thesen Lenins als schematisch und zu abstrakt. Ein anderer führender Bolschewik, Lew Kamenew, wandte sich gegen Lenins Behauptung, die bürgerlich-demokratische Revolution in Russland sei bereits vollendet.

Ungeachtet dieser massiven Kritik aus den eigenen Reihen setzte sich Lenin in der bolschewistischen Partei sehr schnell durch. Mitte April wurde Lenins Kurs von der Petrograder und Ende April von der Allrussischen Parteikonferenz der Bolschewiki akzeptiert. Dies war vielleicht einer der wichtigsten Siege Lenins im Verlaufe seiner gesamten politischen Karriere. Dass Lenin die innerparteiliche Opposition mit einer derartigen Leichtigkeit zu bezwingen vermochte, wird vom Vertreter des linken Flügels der menschewistischen Partei, Nikolaj Suchanow, folgendermaßen erklärt:

Die bolschewistische Partei ist allein Lenins Schöpfung. Dutzende, Hunderte von Menschen folgten einander auf den verantwortlichen Posten, Generationen von Revolutionären wechselten einander ab. Lenin aber blieb auf seinem Posten, bestimmte unumschränkt das Gesicht der Partei und teilte mit keinem die Macht. … Es gab (in der Partei) einige bedeutende Generäle, aber sie waren nichts ohne Lenin, wie Planeten ohne Sonne … Von einer Ersetzung Lenins durch einzelne Individuen, Paare oder Kombinationen konnte keine Rede sein. Die bolschewistische Partei hatte ohne Lenin weder einen selbständigen ideologischen Gehalt, noch eine organisatorische Basis, also weder Ziele noch Existenzmöglichkeiten.

Der mehr oder weniger solidarische Block der „revolutionären Demokratie“, der in Russland unmittelbar nach dem Sturz des Zaren entstand,  erhielt nun einen Riss, der im Verlaufe des Jahres 1917 immer tiefer wurde. Am Ende dieses Prozesses stand die Spaltung des sozialistischen Blocks mit verhängnisvollen Folgen für alle Beteiligten.

Die Radikalisierung der Massen

Wie Lenin in den April-Thesen mit Recht sagte, war Russland nach der Februarrevolution „von allen kriegführenden Ländern das freieste Land der Welt“. Wenn man dabei bedenkt, dass Russland vor dem Sturz des Zaren mit besonders strenger Hand regiert worden war, wird die Bedeutung der Zäsur vom Februar 1917 offensichtlich. Das Land befand sich in einem Freiheitsrausch. Den Appellen der gemäßigten Sozialisten, die die Bevölkerung zu maßvollem und verantwortungsbewusstem Handeln aufriefen, wurde immer weniger Gehör geschenkt. Die Forderungen der Arbeiter und der Bauern nach einer umfassenden Veränderung der bestehenden Besitzverhältnisse wurden immer radikaler.

Aber nicht nur die Arbeiter und die Bauern, sondern auch die Soldaten wurden immer ungeduldiger. Über ihre Stimmung schreibt Alexander Kerenski –  die wohl zentrale Figur der nach dem Sturz des Zaren entstandenen Provisorischen Regierung:

Nach drei Jahren bitteren Leidens fragten sich Millionen kriegsmüder Soldaten: Warum muss ich jetzt sterben, wenn in der Heimat ein neues, freieres Leben beginnt?

Der Paradigmenwechsel

Dass die russischen Soldaten nicht bereit waren, die Früchte der in der Februarrevolution neu gewonnenen Freiheit vor dem äußeren Feind zu verteidigen, stellte für die Vertreter der national gesinnten liberalen Kreise Russlands eine gänzliche Überraschung dar. Sie waren davon überzeugt, dass die Einstellung der Bevölkerung zum Krieg, sich nach dem Sturz der unpopulären Romanow-Dynastie, radikal ändern würde. Sie erwarteten eine revolutionäre Kriegsbegeisterung vergleichbar derjenigen, die im revolutionären Frankreich im Jahre 1792 nach dem Ausbruch des Krieges gegen die legitimistischen Mächte geherrscht hatte. Nichts dergleichen ist aber geschehen. Die Februarrevolution hat es nicht vermocht, das weltanschauliche Vakuum, das im Bewusstsein der russischen Unterschichten infolge der Erosion des Glaubens an den Zaren entstanden war, auszufüllen. Man muss in diesem Zusammenhang allerdings Folgendes hinzufügen: Die Abkehr der russischen Unterschichten vom Zarenideal führte keineswegs dazu, dass sie ihre traditionellen Vorstellungen vom politischen Führungsstil gänzlich aufgegeben hätten. Gemäß dieser Tradition musste die Staatsmacht stark, unabhängig und ungeteilt sein. Der Doppelherrschaft, die sich infolge der Februarrevolution etablierte (die Provisorische Regierung auf der einen und die Sowjets auf der anderen Seite), fehlten aber all diese Eigenschaften. Bei den russischen Volksschichten war nun das Gefühl verbreitet, sie lebten nicht in einem richtigen Staat, sondern in einem Provisorium. Diese Stimmung spiegelte sich in einigen Aussagen russischer Bauern wider, die der erste Außenminister der Provisorischen Regierung, Pawel Miljukow, in seinen Erinnerungen zitiert. So weigerten sich z.B. die Bauern, Steuern zu zahlen, mit dem Argument, dass sie nicht wüssten, an wen man jetzt die Steuern zahlen solle. Es gebe keine echte Regierung und keine Gesetze. Um so weniger waren die Bauern und ihre Söhne bereit, der Obrigkeit, die in ihren Augen keine war, ihr Leben zu opfern.

Die westlichen Alliierten, die am Durchhaltewillen Russlands zu zweifeln begannen, forderten von der Provisorischen Regierung, vor allem von dem bereits erwähnten Außenminister Miljukow, ein eindeutiges Bekenntnis zum Krieg. Als Miljukow dem französischen Botschafter in Petersburg, Maurice Paléologue die prekäre Lage der vom Wohlwollen des Sowjets abhängigen Provisorischen Regierung zu erklären suchte, stieß er bei dem französischen Diplomaten auf kein Verständnis. Die französische Regierung sei nicht bereit, irgendwelche Zweideutigkeiten in der Frage des russischen Kriegseinsatzes zu dulden. Aber der Druck der Alliierten war sicher nicht die wichtigste Ursache für die Erklärung Miljukows vom 27. März, in der vom Streben Russlands, den Krieg bis zum siegreichen Ende zu führen, die Rede war. Miljukow handelte auch aus innerer Überzeugung. Die Fortsetzung des Krieges an der Seite der Alliierten hielt er, ähnlich wie die national gesinnten liberalen Kreise Russlands, für eine Sache der nationalen Ehre. Es kam für ihn nicht in Frage, die Verbündeten, aus welchen Gründen auch immer, im Stich zu lassen. Dennoch entwickelte die Revolution allmählich einen neuen Ehrenkodex, in dem die nationalen Ehrbegriffe als antiquiert galten. Nur diese radikale Umwertung der Werte, nur dieser neue revolutionäre Ehrenkodex machte es möglich, dass Lenin, dem eine Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner vorgeworfen und nachgewiesen wurde, so gut wie keinen Schaden davontrug und letztendlich die Alleinherrschaft im Lande erringen konnte.

Verirrte Brüder?

Man sollte sich hier indes vor einem geschichtlichen Determinismus hüten, dem viele Beobachter verfallen, die den Sieg der Bolschewiki als den einzig möglichen Ausgang der russischen Krise von 1917 betrachten. Diese Betrachtungsweise lässt die Tatsache außer Acht, dass Lenins Triumph nicht in erster Linie durch seine angeblich so effiziente Taktik verursacht wurde. Viel wichtiger war in diesem Zusammenhang das Verhalten seiner Kontrahenten, die die bolschewistische Partei, die allmählich zur größten Gefahr für die soeben entstandene russische Demokratie wurde, nicht als eine solche ansahen. In erster Linie betraf dies die gemäßigten russischen Sozialisten, die das Rückgrat der „ersten“ russischen Demokratie bildeten. Wenn man von solchen Ausnahmen wie Iraklij Tsereteli, einer der zentralen Figuren des Petrograder Sowjets, absieht, vertrat die Mehrheit der sozialistischen Kontrahenten der Bolschewiki die Meinung, die Revolution habe keine Feinde auf der Linken. Sie betrachteten die Bolschewiki trotz all ihrer Versuche, die wohl freiheitlichste Gesellschaftsordnung in der Geschichte des Landes zu zerstören, als Gesinnungsgenossen – als „verirrte Brüder“. Nicht einmal der von den Bolschewiki Anfang Juli 1917 unternommene Versuch, die bestehende Staatsordnung mit Gewalt zu beseitigen, führte zu ihrem Ausschluss aus der „sozialistischen Solidargemeinschaft“. Die verhafteten bolschewistischen Anführer des gescheiterten Putschversuchs wurden nach einigen Wochen freigelassen, der geplante Prozess gegen sie fand nicht statt.

Die Milde der „ersten“ russischen Demokratie gegenüber ihren radikalen Feinden wurde von der Bolschewiki als Schwäche aufgefasst, die sie skrupellos ausnutzen, um den „freiesten (Staat) der Welt unter allen kriegführenden Ländern“ (Lenin), letztendlich zu zerstören.

Nicht-wehrhafte und wehrhafte Demokratien

Die Vorgänge, die sich in Russland im Jahre 1917 abspielten, besaßen einen paradigmatischen Charakter für den europäischen Kontinent als solchen. 5 Jahre später sollte die italienische und 15 Jahre später die deutsche Demokratie an vergleichbaren Herausforderungen scheitern. Auch sie gewährten ihren totalitären Verächtern beispiellose Handlungsspielräume, die diese dazu nutzten, um die jeweilige Gesellschaftsordnung zu zerstören. Nicht zuletzt aufgrund dieser traumatischen Erfahrung wurde im Nachkriegsdeutschland nach 1945 das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ entwickelt. Man zog nun aus dem Scheitern der Weimarer Republik die Lehre, dass die Stabilität einer „offenen Gesellschaft“ vor allem davon abhängt, ob sie imstande ist, sich gegen ihre radikalen Feinde zu wehren. So forderte der Sozialdemokrat Carlo Schmid, ein führendes Mitglied des Parlamentarischen Rates, der seit September 1948 über die neue Staatsordnung Deutschlands beriet: „den Mut zur Intoleranz denen gegenüber, … die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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