Noch bevor die Tränen trocknen konnten

Am Montag nach dem Attentat in Jerusalem wurde das Brandenburger Tor mit den israelischen Farben bestrahlt. Doch die Solidarität mit Israel wirkt zaghaft und verblasst neben den brachialen Versuchen, politische Schlüsse zu ziehen.


Am Sonntag, den 8. Januar stehen einige Gruppen junger Soldat*innen gerade in Armon haNaziv (Jerusalem) und sammeln sich, als ein LKW in die Gruppe rast. Mehrfach setzt er vor und zurück, um die bereits am Boden liegenden Verletzten zu ermorden. Vier junge Menschen sterben. Sie sind zwischen 20 und 22 Jahren alt. Ihre Namen waren Shir, Yael, Shira und Erez – drei junge Frauen und ein junger Mann, die alles noch vor sich hatten.

Unbeholfene Solidaritätsbekundungen

Attentate, die im Namen des politischen Islam ausgeführt werden, häufen sich auch in Europa in den letzten zwei Jahren. Was bleibt, sind bruchstückartige Erinnerungen, Orte und Namen, die nicht vergessen werden, weil sie mit so viel Schmerz verbunden sind: Charlie Hebdo, Orlando, Bataclan, Istanbul, Molenbeek, Nizza, zuletzt der Berliner Weihnachtsmarkt. Die Illuminierung des Brandenburger Tors als Zeichen der Trauer und des Mitgefühls scheint mittlerweile dazuzugehören. Belgiens Farben, Frankreichs Farben, die der Türkei, in Solidarität mit der LGBT*-Community der Regenbogen und zuletzt schwarz-rot-gold prangten auf dem Wahrzeichen Berlins, um der Opfer des Terrors zu gedenken. Und obwohl der Terror und die ständige Gefahr zum Alltag der Bürger*innen Israels dazugehört, blieb das Brandenburger Tor dunkel, als ein Mann am 1. Januar 2016 in einem Café in Tel Aviv zwei Menschen erschoss und zahlreiche weitere verletzte.

Als am Montag nach dem Tod der vier jungen Menschen in Jerusalem die blau-weiße Fahne auf das Brandenburger Tor projiziert wurde, wirkte es etwas unbeholfen, als man versuchte, den Davidstern auf der Unebenheit der Torbögen in Position zu bringen. Als sei die Solidarität mit Israel etwas Zaghaftes, was nicht so recht passen wolle.

Die Sache mit den Schuldzuschreibungen

Nicht so zaghaft war man allerorts indessen mit Kritik. Nicht, wie zu erwarten wäre, mit der Verurteilung des Attentats und den seit über einem Jahr regelmäßigen Angriffen auf Jüd*innen oder einer klaren Verurteilung der Freuden-Demonstrationen in Gaza, die nach dem Attentat stattfanden. Das wäre vielleicht zu erwarten, spräche man über jedes andere beliebige Land und nicht über Israel – den „Judenstaat“.

Susanne Knaul, die Auslandskorrespondentin der taz in Israel und den palästinensischen Gebieten, hatte am Tag nach dem Anschlag, noch bevor die Opfer beerdigt werden konnten, nichts Besseres zu tun, als die Motivation des Attentäters Fadi Al Kunbar in Schutz zu nehmen, jegliche Ideologie auszublenden und durch seine „Verzweiflung“ zu ersetzen. Außerdem habe er sich gegen Soldat*innen gewandt und nicht – wie Anis Amri auf dem Berliner Weihnachtsmarkt – gegen unschuldige Zivilist*innen: Als würde die Tatsache, dass diese jungen Menschen Soldat*innen waren, sowohl seine Motive verständlicher machen als auch sie zu Mitschuldigen des Nahostkonflikts machen, aus dem seine Verzweiflung resultiere. Und bevor die Tränen der Hinterbliebenen, der Familien und Freund*innen trocknen konnten, stellt Knaul – und damit ist sie bei weitem nicht die einzige! – Forderungen an die israelische Politik: Als läge die Verantwortung für das Geschehene bei Netanyahu, wirft sie ihm vor, sich der Verantwortung zu entziehen, anstatt Verantwortung zu übernehmen. Man müsse dem Terror konstruktiv begegnen. Was das heißen soll, benennt sie noch nicht einmal selbst.

Terror und die bürgerliche Gesellschaft

Wann wurde jemals ein konstruktiver Umgang mit Terror gefordert? Und was soll das überhaupt bedeuten? Wie oft wurde der Satz „Wir lassen uns von dem Terror nicht unterkriegen“ in den letzten Wochen wie ein Mantra runtergebetet, weil man den Terroristen niemals auch nur irgendetwas von dem geben wollte, wofür sie stehen? Die Verantwortung für den Terror müssen viele auf sich nehmen: Die Kaderschmieden der Hamas, die in Gaza in ihrer Charta lehren, dass auch der letzte Jude sterben muss, die Schulen in den palästinensischen Gebieten, auf deren Landkarte Israel nicht existiert, und der Attentäter – aber ganz gewiss kann ein konstruktiver Umgang mit Terror nicht bedeuten, den Zielen der Islamisten nachzugeben und ihnen klein bei zu geben. Sich dem islamistischen Terror und sich seinen Zielen zu beugen heißt letztlich nur, die hart erkämpften Werte der bürgerlichen Gesellschaft nach und nach aufzugeben und zum Spielball des politischen Islams zu werden.

Das kollektive Gedächtnis und die ungeliebten Opfer

Und auch wenn auf dem Brandenburger Tor einen Tag nach dem Attentat ein Davidstern prangte, tobte in den Kommentaren des Livestreams Berliner Morgenpost der brachiale, nach Vernichtung strebende Antisemitismus, der die Trauer um die Ermordeten kaum auszuhalten schien und mehr tote Jüd*innen sehen wollte. In den Kommentaren der taz, SPONs und andernorts gab man sich moderat, begnügte sich mit der sogenannten legitimen Israelkritik, als sei es das verständlichste auf der Welt, die Situation vor Ort zu kritisieren, noch bevor vier Familien ihre Kinder beerdigen konnten.

Hinzu kam der zweite Jahrestag des Attentats in Paris: Die Erinnerung ist präsent, war doch die Ermordung von 12 Personen in der Charlie Hebdo-Redaktion – darunter auch die jüdische Kolumnistin Elsa Cayat – der erste Anschlag dieser Art. Doch was das kollektive Gedächtnis irgendwie nicht mehr so richtig in Erinnerung zu rufen vermag, war die Geiselnahme im jüdischen Supermarkt am nächsten Tag, die mit vier Todesopfern zu einem grausamen Ende kam. Dass Jüd*innen nicht zum Kreis der bevorzugt betrauerten Opfer gehören, kommentierte Ramona Ambs gestern sehr treffend: „Was gehen die auch koscher einkaufen?“

Ja, was gehen die auch in einen jüdischen Supermarkt, dann sollen die sich doch nicht wundern. Die Jüd*innen, die zum Militär gehen, die in koschere Supermärkte gehen oder sich an Orten aufhalten, auf die die Palästinenser*innen ebenfalls ein Anrecht hegen, die scheinen nicht betrauernswert zu sein, ihr Tod wird mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen und ist nach zwei Jahren aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen.

Der ewige Jude

Zum moderaten gegenwärtigen Antisemitismus gehört nicht nur, mit dem Holocaustleugner-Regime Iran Geschäfte zu machen, sondern genauso, heuchlerisch der toten Jüd*innen zu gedenken und die Wehrhaftigkeit der lebenden Jüd*innen aufs Schärfste zu kritisieren. Und dort, wo sich Jüd*innen in der Diaspora nicht vollständig assimilieren, da hat man irgendwie Verständnis, wenn diese Orte angegriffen werden. Der Jude ist halt selbst schuld, wenn er koscher einkaufen will und wenn er sich dann ermorden lässt – so klingt es zumindest in den deutschen Kommentarspalten.

Der Jude bleibt das „negative Prinzip als solches“, der, der sich menschheitsgeschichtlich schuldig macht und dessen Ermordung immer auf ihn zurückgeführt werden kann. Nicht der Antisemitismus ist das Problem, nicht der Täter und seine Ideologie, sondern der Jude. Und so wie der Jude die Schuld an jedem potentiellen Übel trägt, so trägt der jüdische Staat ebenfalls die Schuld – an jeder Dysfunktionalität der palästinensischen Politik und an jedem einzelnen Attentat. Die Suche nach Gründen für eine „Kritik“ an Israel ist eine derartige Obsession, dass man nicht nur wegschaut, wenn die Hamas in Gaza Freundenfest schmeißt, weil Jüd*innen ermordet wurden, diese Obsession des Antisemitismus sitzt so tief, dass man den Familien von Shir, Yael, Shira und Erez noch nicht mal die Trauer um ihre Kinder zugesteht.

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