Luthers Thesen: Die Strafe jenseits der Institutionen

Jede Autorität kann nur nach den eigenen Zuständigkeiten strafen und Strafe erlassen. Was bleibt, ist die Strafe des moralischen Gesetzes.


In den ersten vier Thesen ging es Luther um die Buße. Er verlangt, das ganze Leben lang Buße zu tun. Damit meint er nicht, sich formal zu entschuldigen, auch eine innere, theoretische Reflexion über die eigene Fehlbarkeit reicht nicht aus. Vielmehr kommt es darauf an, selbst wirklich an der Schuld zu leiden, die man durch schlechtes Handeln anderen gegenüber auf sich geladen hat.

In der fünften These wechselt Luther das Thema. Sie lautet:

Der Papst will und kann nicht irgendwelche Strafen erlassen, außer denen, die er nach dem eigenen oder nach dem Urteil von Kirchenrechtssätzen auferlegt hat.

Nehmen wir den Papst hier einfach als Beispiel für eine Autorität, die Rechtsgrundsätze definieren und nach diesen Grundsätzen Strafen auferlegen und möglicherweise erlassen kann. Eine solche Autorität wäre etwa der Staat, aber auch andere Autoritäten, Vereine und Parteien, die für bestimmte Vergehen Strafen auferlegen können, vielleicht auch Lehrer, die berechtigt sind, Schüler zu bestrafen, Eltern, die ihre Kinder bestrafen.

Luther formuliert hier zunächst also eine Aussage, die uns nah an der Trivialität zu sein scheint: Jede Autorität kann nur nach den je eigenen Rechtsgrundsätzen strafen, und sie kann auch nur die Strafen erlassen, die sie selbst auferlegt hat.

Damit stellt Luther hier also zunächst einfach eine Zuständigkeitsabgrenzung auf: Jede Autorität hat bestimmte Zuständigkeiten, und keine hat sich in die Zuständigkeit der anderen einzumischen.

Allerdings geht es in den Thesen, soweit wir sie bisher verstanden haben, ja um moralische Vergehen. Alle Vergehen, mit denen die Kirche sich befasst, werden bei ihrer Beurteilung letztlich moralisch interpretiert. Sie sind Vergehen gegen Gott, und wie immer wir Gott interpretieren, ist er so etwas wie die letzte moralische Instanz.

Damit wird die Sache kompliziert. Wir könnten zwar sagen, diese Zuständigkeit sehen wir bei der Kirche ja schon lang nicht mehr – wenigstens lassen die meisten von uns sich von einer Kirche oder einer ähnlichen Institution schon längst nicht mehr aus moralischen Gründen bestrafen. Aber in unserer Deutung von Luthers Thesen im Hier und Jetzt interessiert uns die Kirche im engeren Sinn ohnehin nicht so sehr – sie steht für uns als Beispiel für institutionelle Autorität.

Viele Strafen, die von solchen Autoritäten ausgesprochen werden, haben moralische Aspekte, sei es der Staat, der eine Steuerhinterziehung bestraft, sei es der Lehrer, der einen Betrugsversuch, oder die Eltern, die eine Lüge bestrafen.

Gibt es denn eine Strafe über diese institutionelle Strafe hinaus, die nicht von der strafenden Institution erlassen werden kann?

Hier können wir Kant ins Spiel bringen. Es gibt „das moralische Gesetz in mir“. Viele heutige Theologen werden genau das mit Gott identifizieren, das nur am Rande. Dieses moralische Gesetz in mir kann mich verpflichten, aktiv zu werden, Reue zu zeigen, Widergutmachung zu versuchen. Solch aktives Handeln, zu dem das moralische Gesetz in mir mich zwingt, können wir ebenfalls als Strafe interpretieren.

Was Luthers fünfte These dann sagt, ist, dass keine Strafe einer anderen Institution, und auch kein Straferlass, die Strafe des moralischen Gesetzes in mir erlässt. Ich kann mich durch Ableisten einer institutionellen Strafe nicht von der Strafe, die mir mein Gewissen auferlegt, befreien, nicht von der aktiven Reue und nicht vom Versuch der eigenständigen Widergutmachung.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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