Luthers Thesen: Wo ist das Himmelreich?

Luthers Thesen scheinen heute so fern, denn das Himmelreich, mit dem er droht, ist doch eh nur ein Märchen. Aber so einfach ist es vielleicht doch nicht.


In 95 Folgen wird in dieser Kolumne über die 95 Thesen Martin Luthers diskutiert. Wenn man die erste der 95 Luther-Thesen liest, meint man vielleicht, dass uns dieser Text niemals irgendetwas bedeuten könnte. Sie lautet

Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.

Das Himmelreich

Nichts scheint heute weiter entfernt als „das Himmelreich“. Das Himmelreich sei ein ewiges Leben nach dem Tode, ein Leben im Glück oder jedenfalls in einem ewigen Zustand der Zufriedenheit, so die allgemeine Meinung. Kaum jemand glaubt allerdings an ein Leben nach dem Tode, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass das eigene Leben in einer anderen, jenseitigen Welt weitergeht. Was also soll uns ein Text sagen, der meint, uns etwas vorschreiben zu können, mit der Begründung, dass da etwas kommen würde, was es gar nicht gibt?

Allerdings ist die Sache auch wieder nicht ganz so einfach. Denn die Frage ist ja, ob „das Himmelreich“ wirklich eine Metapher ist für eine märchenhafte Welt, in die wir, unsere Seelen, irgendwie hinübertreten, sobald wir verstorben sind. Woher wissen wir so genau, dass diese Seele, die ins „Himmelreich“ will, tatsächlich in dem sagenhaften Sinn unsterblich ist, dass das Subjekt selbst weiterexistiert? Oder genauer: in welchem Sinn existiert die Seele weiter? Welcher Ort ist das Himmelreich?

Mit manchem Verstorbenen halten wir noch Zwiesprache, wenn von ihrem Leib längst nichts mehr übrig ist. Wir Philosophen sind vermutlich die Meister dieser Disziplin, wir streiten noch immer mit Sokrates, wir befragen noch immer Hegel. Wir grübeln noch immer mit Wittgenstein, wir diskutieren noch immer mit Derrida.

Aber auch im Alltag ist uns das nicht fremd. Wir können noch Geschichten von den Urgroßeltern erzählen, als ob sie sich gerade erst zugetragen hätten. Wir kochen nach dem Rezept der Oma, und können es bei ihr, auf einem Zettel vielleicht, den sie uns aufgeschrieben hat, nachlesen. Und wir empfinden noch den gleichen Zorn oder die gleiche Liebe wie zu ihren Lebzeiten.

Manche glauben, dass die Zeit nicht mehr fern ist, in der man seinen kompletten Geist aus dem Gehirn auf einen Computer übertragen kann, um dann darin weiterzuleben. Ob das realistisch ist, kann dahingestellt bleiben. Entscheidend ist, dass wir schon heute, im gewissen Umfang, unseren Geist nach außen übertragen: auf andere Menschen, die uns in Erinnerung behalten, auf Fotos und Briefe, durch die sie sich an uns erinnern, durch gemeinsame Erlebnisse, die ein Bild von uns festhalten. Diese bleiben erhalten, wenn wir längst tot sind, darin leben wir über den Tod hinaus.

Und in uns, in unseren Handlungen und unseren Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen, existieren die Verstorbenen so lange, wie es Erinnerungen an sie gibt. Wir können sie noch fragen, und sie antworten uns noch, wenn wir einander an ihre Weisheiten und Torheiten erinnern. Diese Existenz ist mindestens genauso real wie die der fiktionalen Gestalten von Romanen. Wir können wahre Geschichten über sie erzählen, und die sind zeitlos. Sie sind auch in dem Sinne ewig, dass sie nicht mehr änderbar sind – vielleicht verändern sie sich, aber wir können nichts dafür tun, dass sie zu einem Ende kommen. Eine ungeklärte Geschichte bleibt ungeklärt, was nicht vergeben wurde, kann nicht mehr vergeben werden.

Der Tod heilt keine Wunden, er macht es nur schlimmer, dass Dinge nicht geklärt, dass Versöhnendes nicht ausgesprochen wurde. Das gilt ja noch mehr, wenn wir keine Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits haben.

Leben nach dem Tode

Mein Leben nach dem Tod, das ist das Leben, das ich in den Anderen weiterlebe. Und das kann ein gutes Leben sein, das wäre das Himmelreich, oder es ist, weil zu viel an Zorn und Unverständnis bleibt, weil es keine Versöhnung gab, eine ewige Hölle.

Den Sterbenden, die dem Tode nah sind, ist das möglicherweise sehr bewusst. Sie leiden darunter, dass ihr Leben nach dem Tod, in den Erinnerungen der Anderen, eine Quelle von immer wieder kehrendem Leid sein wird, bis sie dann endlich vergessen sind. Oder sie können friedlich sterben, weil sie sich mit allen versöhnt haben, oder weil sie wenigstens hoffen können, dass ein Verzeihen nach ihrem Tod möglich ist.

Wie nah der Tod und damit der Beginn dieses ewigen Lebens ist, wissen wir nicht. Wir sagen heute manchmal, man solle jeden Tag so leben, als wenn es der letzte wäre. Das könnte zu Luthers erster These passen. Wir kennen diese Angst, wenn wir uns im Streit trennen, dass wir vielleicht nie wieder zusammenkommen und eine Versöhnung nicht mehr möglich ist.

Die Glaubenden

Wenn ich hier von Wir spreche, dann meine ich damit genau die, die Luther „die Glaubenden“ nennt. Das sind diejenigen, die diese Welt der emotionalen Bindungen an andere, die auch nach dem Tod weiterbestehen, kennen, und die das Erleben kennen, dass die Verstorbenen in diesem Sinne in den Lebenden weiter da sind. Und die fühlen, dass sie vor dem eigenen Tod Dinge geklärt, Versöhnung erreicht und Zorn besänftigt haben wollen.

Denen schlägt Luther nun also vor, ihr Leben in Buße zu verbringen. Wir werden in den nächsten Thesen noch einiges darüber erfahren, was Buße ist und was nicht. Auf jeden Fall ist es die Möglichkeit, die eigene Seele zu entlasten von dem Leid und der Schuld, die wir anderen antun – sich im buchstäblichen Sinn zu entschuldigen.

Zur zweiten These: Die formale Buße

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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