Jeremy Corbyn – Radikal im Abseits
Seit der Entscheidung für den Brexit herrschen in Großbritanniens politischer Szene Chaos und Intrigen. Dass in der konservativen Regierungspartei ein schmutziger Machtkampf entbrannt ist, nutzt der oppositionellen Labour Party nichts. Schuld daran ist der dogmatische Parteichef Jeremy Corbyn, dem in seiner eigenen Fraktion Anerkennung und Rückhalt fehlen.
Seit dem Votum für den Brexit ist in Großbritanniens Politik nichts mehr wie es war. Im Fokus hiesiger Medien steht vor allem die regierende Konservative Partei, in der seit dem Referendum vom 23. Juni ein schmutziger Machtkampf tobt. Der amtierende Premierminister David Cameron hätte zwar gerne als Regierungschef weitergemacht. In den Augen vieler Beobachter – und auch der meisten Parteifreunde – hat der politische Hochseiltänzer nach all seinen Wendemanövern in Sachen Brexit jedoch die notwendige Glaubwürdigkeit verspielt, um nun das Ausscheiden seines Landes aus der Europäischen Union zu organisieren.
Mehr Chaos als bei den Konservativen
Dafür wiederum wähnte man lange Zeit Camerons Rivalen Boris Johnson in den Startlöchern. Der exzentrische frühere Londoner Bürgermeister war gegen Ende der Brexit-Kampagne auf den fahrenden Zug des Leave-Lagers aufgesprungen. Mutmaßlich, um bei einem Erfolg der EU-Gegner als neuer Hausherr in die Regierungszentrale Downing Street No. 10 einzuziehen. Doch dann warf auch Johnson hin. Zum einen dürfte dem manchmal clownesken Selbstdarsteller bewusst geworden sein, was der Brexit eigentlich für Großbritannien und seine internationalen Verflechtungen bedeutet. Und dass verantwortungsvolle Regierungspolitik doch Arbeit und keine Spielerei ist. Zum anderen ist der mulitkulturell aufgewachsene Johnson intelligent genug, um all die Tellerminen zu erkennen, die einige Parteifreunde für ihn auf dem Weg zur Macht ausgelegt haben. In der ältesten Demokratie der modernen Welt haben die Akteure in so etwas durchaus Übung. An dieser Stelle zur Erinnerung: House of Cards ist eine Erfindung der Briten. Der US-Streaminganbieter Netflix hat das nur adaptiert.
Im Rennen um den Vorsitz der Regierungspartei sind nur noch die derzeitige Innenministerin und Brexit-Gegnerin Theresa May und die bislang eher unbekannte Staatssekretärin für Energiefragen, Andrea Leadsom. Wer immer bei den Tories obsiegt: Die Chancen der künftigen Parteichefin, auch die nächsten Parlamentswahlen zu gewinnen, sind gut. Und das trotz Brexit-Chaos, Intrigen und Machtkämpfen.
Machtlos wie Johann Ohneland
Dass dies so ist, hat vor allem einen Grund: Und der heißt Jeremy Corbyn, seines Zeichens Oppositionsführer von der Labour Party. Ein durch einen Mitgliederentschied an die Macht gekommener linker Außenseiter, der in seiner eigenen Fraktion mehr Gegner als Freunde hat. Böse Zungen behaupten: Der letzte führende Akteur Großbritanniens, der bei seinen Gefolgsleuten ähnlich wenig Rückhalt besaß, sei König Johann Ohneland gewesen. Noch bösere vergleichen Corbyn mit Catweazle, einem mittelalterlichen Hexer aus einer Comedy-Serie, der durch Zufall in das 20. Jahrhundert gezaubert wurde und sich niemals damit abfinden kann, dass es inzwischen technische Errungenschaften wie den Fernseher und das Telefon gibt. Und niemand Geringeres als der ehemalige Labour-Chef Tony Blair soll gespottet haben: Wer ein Herz für Corbyn hat, benötige eine Transplantation.
Dabei müsste jeder, der ein Herz für britischen Individualismus hat und dem Skurrilen nicht abgeneigt ist, Corbyn eigentlich mögen. So aus der Zeit gefallen wirkt der Mann aus der Grafschaft Wiltshire mit seinen Weltanschauungen, seiner bewusst schlecht sitzenden Kleidung und seinem drögen Redestil. Allerdings sollten an den potenziellen Premierminister einer großen Wirtschaftsnation und Atommacht doch andere Anforderungen gestellt werden, als an einen bizarren Sidekick aus einer Inspector Barnaby- oder Agatha Christi-Verfilmung. Im Zwefeil müsste ein Staatsmann dieses Kalibers in der Lage sein, andere anzuleiten und weitreichendende Entscheidungen zu treffen. Dabei erfolgreich zu sein, das trauen Corbyn nicht viele zu.
Bizarrer Sidekick aus Inspector Barnaby Verfilmung
So gilt der Dogmatiker im allgemeinen als radikaler Sozialist, der die Globalisierung ablehnt, Privatisierungen rückgängig machen will und sich Großbritannien so wünscht, wie es irgendwann in den 70er Jahren gewesen war: Mit starken Gewerkschaften, strikten Arbeitsmarktgesetzen und viel Einfluss für Vater Staat im Wirtschaftsleben. Hinzu kommen ein radikaler Pazifismus und die Ablehnung von Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA.
Bei jedem basisdemokratischen Forum eines evangelischen Kirchentages oder eines attac-Kongresses dürften Corbyn mit solchen Ansichten die Herzen zufliegen. Ob sich in diesem Modus auch ein modernes Staatswesen lenken lässt, bezweifeln jedoch nicht nur politische Gegner. Auch realpolitisch veranlagten Labour-Mitgliedern sträuben sich bei manchen Vorstellungen ihres Frontmannes die Nackenhaare. Und einige Abgeordnete dürften sich daran erinnern, dass erst die die extreme Umklammerung der Industrie und der damit verbundene Niedergang der britischen Wirtschaft das Klima geschaffen hat, in dem Margret Thatcher ihre marktliberale Gegenrevolution starten konnte.
Wankelmut in Brexit-Kampagne
Die wohl letzten Sympathien verscherzte sich die Corbyn bei vielen Parteifreunden mit seinem Wankelmut in der Brexit-Frage. In der Labour Party galt es lange als offenes Geheimnis, dass dieselbe Europäischen Union, die von Cameron und Johnson als bürokratischer Gottseibeiuns beschworen wurde, Corbyn als viel zu wirtschaftsfreundlich gilt.
Lange Zeit nährte der Labour-Boss derartige Einschätzungen durch eher EU-kritische Andeutungen. Erst in der Schussphase der Brexit-Kampagne bekannte sich Corbyn offensiv zur Pro-Europa-Linie seiner Partei, ohne dabei euphorisch oder auch nur leidenschaftlich zu wirken. Europafreundliche Kreise links der britischen Mitte geben ihm bis heute eine Teilschuld an den hohen Zustimmungsraten zum Brexit in den traditionellen Labour-Hochburgen in Nordengland und Wales. Auch wenn solche Kritik überzogen sein mag, als klare europafreundliche Alternative, die Menschen begeistern kann, ist Labour während der Brexit-Kampagne ausgefallen. Und auch sonst kann die Partei zwar am linken Rand punkten, die politische Mitte, die auch im Vereinigten Königreich wahlentscheidend ist, hält es derzeit lieber mit den Tories.
„Um Gottes Willen, gehen Sie!“
Die Lage von Labour gilt vielen inzwischen als so ernst, dass sich Freund wie Feind Sorgen um den Fortbestand der Partei machen. Es dürfte daher mehr nur als Zynismus und Parteitaktik im Spiel gewesen sein, als Cameron, der Premier auf Abruf, Corbyn mit Verweis auf das nationale Interesse zurief, es ihm mit dem Rücktritt gleich zu tun – verbunden mit der Bitte: „Um Gottes Willen, gehen Sie!“
Auch innerhalb von Labour selbst dürfte der Morbus Corbyn inzwischen für Kopfschmerzen oder Magenschmerzen sorgen. So sprachen jüngst bei einer Abstimmung der Labour-Fraktion 172 Abgeordnete Corbyn das Misstrauen aus, 40 Abgeordnete votierten für ihn. Zudem hatte nach dem Brexit-Referendum eine Vielzahl von Labour-Spitzenkräften aus Protest gegen den 67-jährigen das Handtuch geworfen. Der Parteichef verlor innerhalb weniger Tage mehr als die Hälfte der Mitglieder seines Schattenkabinetts. Corbyn indes wähnt sich auf einer Mission und hofft, mit ständigem Verweis auf das Mitgliedervotum, weiter Parteichef bleiben zu können.
Johnson, Farage und Sezessionisten freuen sich
Wäre Corbyn schlau, würde er es seinem ideologischen Bruder im Geiste, dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, gleichtun, und sich aus der ersten Linie der Politik zurückziehen. Als Publizist, Vortragsredner und Talkshow-Dauergast lassen sich politische Überzeugungen doch viel angenehmer pflegen und aufrecht erhalten. Und das ohne dabei Gefahr zu laufen, sein Weltbild einem Praxistest aussetzen zu müssen. Großbritannien und die Labour Party indes sind viel zu wichtig, als sie dauerhaft einem Traumtänzer zu überlassen. Den Johnsons, Farages sowie den Sezessionisten in Schottland oder Nordirland würde der fortwährende Ausfall einer einst bewährten Oppositionspartei nur weiter in die Hände spielen. Wenn Labour zurück an die Macht in Downing Street gelangen will, dann braucht die Partei Augenmaß, eine mehrheitsfähige Politik und einen Leader, den zumindest die eigenen Leute ernst nehmen.
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