Denn wenn du die Sirenen hörst

Hilft Pfefferspray gegen die Angst? Wenn du weißt, dass die Sirene dich nicht warnt, sondern dir nur sagt, dass etwas geschehen ist: Wie soll man dann schreiben?


Es ist schon verrückt. In meinem Kopf waren so viele Ideen für die Kolumne, so viele Eindrücke, denen ich eine Sprache geben wollte, so viele Augenblicke, über die man ganze Bücher schreiben kann. Einer dieser Texte liegt seit ein paar Tagen auf meinem Tisch: Gegengelesen, korrigiert, gefeilt, publikationstauglich – er gefiel mir. Aber jetzt ist er nichtig, alles ist nichtig, jede Textidee stelle ich zurück, eingeschlossen in einer Schublade, den Schlüssel sorgsam verstaut.

Man kann hier keine Texte im Voraus schreiben.

Als ich mit israelischen Freund*innen etwas zwei Wochen im Voraus planen wollte, bekam ich die flapsige Antwort: Soweit planen wir doch nicht! Man wisse schließlich nie, was komme. Ich hab noch gelacht und jetzt? Jetzt sitze ich hier, mit meinen fertigen Texten für die nächsten Wochen und mir fehlen schlichtweg die Worte.

Ein Jahr nach dem Krieg

Auf einmal steht nur noch ein Thema im Raum, doch niemand will es beim Namen nennen. Die einen sprechen von der „Situation“, wieder andere sagen, die dritte Intifada hätte begonnen. Doch wann nutzen wir welchen Namen? Wie viele Attentate müssen verübt werden, welche Rolle spielen Zahlen? Oder hat die Intifada gar 2014 begonnen, als die drei Jungen entführt wurden? Und welchen Unterschied macht es, welchen Namen wir dem Terror der letzten Tage geben? Und je stärker man versucht, die gegenwärtige Spannung in Gesprächen zu umgehen, desto mehr steht sie im Raum.

Ich kann nicht über politologische Definitionen von Krisen schreiben. Ich sitze nur hier, höre die Sirenen heulen und kann über Angst schreiben. Plötzlich geht es in den diversen Foren wie „Secret Jerusalem“, einer Facebook-Gruppe, nicht mehr um Möbel, die verkauft werden und Fragen nach den besten Falafel der Stadt, auf einmal tragen Menschen Listen zusammen, wo man Pfefferspray kaufen kann, mit einem Mal werden Videos gepostet, wie man sich gegen Angriffe wehren kann und wie man Wunden versorgt.

Ich lese das und bin froh, dass mir die Entscheidung, ab wann ich den Terror an mich ganz persönlich heranlassen muss, abgenommen wurde. Sie wurde mir von meinem Chef abgenommen, der mir am Sonntagmorgen nach den ersten Attentaten wortlos ein Pfefferspray in die Hand drückte. Wäre ich selbst ins Geschäft gegangen und hätte mir eines geholt, hätte ich mich meiner Angst stellen müssen: ich hätte mir eingestehen müssen, dass es tatsächlich ernst ist.

Die Sirenen bleiben, die Bedeutung verändert sich

Eigentlich sollte heute ein Text von mir erscheinen, in dem ich darstellen wollte, was der Raketenalarm mit Menschen macht. Ich wollte über deutsche Berichterstattung und den Antisemitismus der Lücken in der Berichterstattung erklären. Doch die Angst vor Raketenbeschuss ist weit in die Ferne gerückt, zu gut sind die Abwehrsysteme Israels, zu drückend die Schlagzeilen über Attentate überall im ganzen Land. Dass der Nahe Osten nicht friedlich ist, wusste ich natürlich, bevor ich hierhergekommen bin.

Zu oft habe ich für Israel Partei ergreifen müssen, wenn es im Sommer 2014 kaum jemand anderes getan hat. Dass die Stimmung schnell umschlagen kann, war mir bewusst. Die Entscheidung, hier zu arbeiten, habe ich dennoch schon im Monat nach dem Gaza-Krieg getroffen. Vor Raketen warnen Sirenen. Die Zeit ist knapp, in der man alles stehen und liegen lassen kann, doch es gibt sie. Es gibt die Warnung, es bleiben die Sekunden, in denen man ins Treppenhaus oder in den Shelter laufen kann.

Aber wenn wir jetzt die Sirenen hören, dann ist es schon zu spät. Jetzt kann keine Sirene mehr helfen, denn auf den Moment, wenn jemand ein Messer zückt, kann man nicht vorbereitet sein. Es spielt keine Rolle, in welcher Stadt man sich befindet, zu welcher Tageszeit man unterwegs ist oder ob man sich in der Nähe israelischer Soldat*innen aufhält. Die Straße ist gefährlich geworden und wenn Du die Sirenen hörst, dann weißt Du nur, dass der Krankenwagen unterwegs ist.

Auf die Ungläubigkeit folgt der kalte Schweiß

Irgendwie kommt es mir vor, als wären Wochen vergangen. Als hätte es sich langsamer angebahnt, als sei der Beginn des Terrors schon länger her. Denn anfangs erschien die Pushnachricht auf meinem Handy und mich erfüllte eine Ungläubigkeit – ein Attentat auf ein jüdisches Paar, vor den Augen ihrer Kinder erstochen. Doch es schlug schnell um, schneller, als ich meine Gedanken selbst nachvollziehen könnte. Wenn Dich die Nachrichten über ein Attentat nur dreißig Minuten nachdem Du selbst an eben jenem Ort warst erreichen, bricht der kalte Schweiß aus. Wem gelten diese Angriffe? Sie haben kein bestimmtes Ziel.

Während im letzten Jahr Terrorist*innen mit Autos in Menschenmassen rasten, werden nun teils im Stundentakt Menschen mit Messern und anderen spitzen Gegenständen angegriffen. Es gibt keine Frühwarnsysteme, keine 90 Sekunden um zu Rennen. Es bleibt an manchen Tagen nur die Angst, das Misstrauen und der Blick auf die Person, die an der Ampel neben Dir steht, wie sie Dich ansieht und wo sie ihre Hände hat. Angst ist etwas reales und hält sich nicht an Einschätzungen und Meldungen des Auswärtigen Amtes (das momentan schweigt).

Der Terror nimmt uns unser Zuhause. Er nimmt uns die Unbeschwertheit und mit dem ersten Regen des Jahres hat sich eine Decke aus Anspannung erst über Jerusalem und schließlich über das ganze Land gelegt. Sie lässt Bewegungen unrund wirken, sie lässt Menschen zu laut über schlechte Sprüche lachen, sie lässt alle Muskeln erstarren und das Herz mit jeder Sirene aussetzen. Denn wenn ein Polizei- oder Krankenwagen nun an Dir vorbeifährt oder Du die Sirene hörst, dann weißt Du: Der Terror schlägt zu, egal, wer Du bist, wo Du bist, was Du tust.

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