Verblödung durch Drüberreden — Hämophektiken des Stereotypverfertigens (3)

Im 3. Teil seines Essays erklärt D. H. Rapoport die scheinbare Entgegensetzung von Handeln und Wahrnehmen als Verschiebung des Betrachtungswinkels.


Lesen Sie hier die Teile 1 und 2

Der Hauptvorteil meiner Hypothese aber, wähne ich, ist, dass sie die Verfertigung von Stereotypen in die Sphäre des Handelns, anstatt des Wahrnehmens bzw. des gestörten Verstandes legt. Nicht, weil damit ich als braver Marxist gelten darf, der stets das Sein vor das Bewußtsein setzt; derlei Formeln können ja im Ernst das Selbstdenken und Mechanismusfinden nicht ersetzen. Nein, die Vorteile sind ganz handgreiflich: Erstens scheint mir mehr als augenfällig, dass Rassismus eher ein Handlungsproblem, denn ein Erkenntnisproblem ist. Wie etwa beim Mobbing fast jeder Mobber der Einsicht zugänglich wäre, dass der oder die Gemobbte es „eigentlich“ nicht verdient hat, gemobbt zu werden, so dünkt mich auch der Rassist zu diesem „eigentlich“ stets in der Lage (Von ganz pathologischen Zuständen dürfen wir absehen, weil uns das Herausbilden des Stereotyps beschäftigt, und nicht seine späteren, manifesten Stadien).

Verstandesblödheit? Handlungsblödheit!

Es spielt sich nur eben auch das Mobbing hauptsächlich im Handeln ab. Und das ist schon der zweite Vorteil: Wenn Rassismus im Wesentlichen als Handlungsgestalt verstanden wird, lässt sich auch die Seltsamkeit verstehen, wie angehende Rassisten sozusagen wider besseres Wissen handeln können. Kein Rassist ringt sich zu seinem Rassismus durch oder macht sich Selbstvorwürfe während er seine Erfahrungen vereinfältigt. Sonst müsste man womöglich das Problem des Rassismus als eine Form von Willensschwäche (Akrasia) auffassen und das ist ja ganz offensichtlicher Blödsinn. Der Rassist bemerkt den Widerspruch zwischen Einfalt des Stereotyps und Vielfalt der Erfahrung in der Regel gar nicht. Dieses Problem löst der Wahrnehmungs-Theoretiker, indem er das psychopathologische Geschehen ins Unbewusste legt.

Ich löse es, indem ich das Bilden von Stereotypen als soziale anstatt epistemische Handlung klassifiziere. Rassisimus kann, als Handlung nämlich verstanden, durchaus eine Selbstständigkeit erlangen, bzw. zu einer Gewohnheit, einem Automatismus werden, der keiner unmittelbaren rationalen Kontrolle unterliegt. Rassismus ist also weniger Verstandesblödheit, als Handlungsblödheit. Das löst unser eingängliches Paradoxon, wie selbst kluge und denkfeste Menschen rassistischen Stereotypen erliegen können.i Forciert gesagt deute ich das Verfertigen rassistischer Stereotype als Gemeinschaftsritus; als eine verkürzte Liturgie des Miteinander. Von Riten weiß man längst, dass sie vollkommen sinnfrei sein dürfen; als Sozialisationshandlungen hingegen kommt ihnen eine Bedeutung zu, die sich nur schwerlich überschätzen lässt.

Überhaupt Mobbing. Rassismus hat meines Erachtens sehr viel mehr mit Mobbing zu tun, als mit Wahrnehmungs- oder Erkenntnisstörungen. Mobbing (bzw. „Bullying“) — das Phänomen deutet in die richtige Richtung. Es will mir nicht ganz abwegig vorkommen, Rassismus als eine Art „Fernmobbing“ zu verstehen. Erinnern Sie sich an die Idee des „Fernstreichelns“, als welches Sprache in die Welt getreten sei? Wer entschlüge sich des naheliegenden Gedankens, Rassismus sei ganz die selbe Sache, nur mit umgekehrtem Vorzeichen?

Keine Minderwertigkeitskomplexe

Gut, Sie müssen mir nicht glauben. Aber Sie könnten mir vielleicht dennoch die Liebe tun und nur für den Moment die Annahme mitmachen, dass dem Zustandekommen von Mobbing und dem Verfertigen rassisitischer Stereotype ähnliche Mechanismen zugrunde lägen. Was nämlich folgte daraus, dass wir bekannte Mobbing-Mechanismen auf die Herausbildung rassistischer Sterotype übertrügen? Nun zum Beispiel würde die landläufige Meinung fragwürdig, dernach Mobber in der Regel einen Minderwertigkeitskomplex (oder ein ähnliches Gefühl des zu-kurz-gekommen-seins) kompensierten, indem sie diesen Inferioritäts-Glauben auf das Mobbing-Opfer projizierten. So einleuchtend der Gedanke dem Alltagspsychologen scheint — und so sehr er scheinbar durch Einzelfälle bestätigt wird — in der Regel, sagt die empirische Mobbing-Forschung, ist gerade das Gegenteil richtig! Bei Mobbing-Tätern handelt es sich oft um Leute mit überdurchschnittlichem Selbstbewusstsein und unterentwickeltem Feinsinn, bzw. Problembewusstsein. Sie haben kein Problem und deshalb sind sie eins.ii

Ich meine, allein diese kleine Fehlleistung der Alltagspsychologie sollte zur Vorsicht gemahnen. Allzu leicht verzichtet der Rassisten-Psycholog auf empirische Sorgfalt und Belege, sobald ihm etwas plausibel vorkommt. Er erfindet Gründe. Im Eifer seines Zurechtreimens vergisst er, das „Wie“ und das „Warum“ des Herausbildens rassistischer Stereotype als durchaus getrennte Fragestellungen auseinander zu halten. Sicher, eines hat mit dem anderen zu tun. Aber man ist immer sehr geschwind mit dem Unterstellen von Motiven (i.e. damit, die „Warum“-Frage zu beantworten).

Stereotype über Rassisten?

Dieser Teil unseres Denkens, der einer Handlung stets eine Absicht unterschiebt, ist unheimlich rasch und imaginationsmächtig. Ich möchte Sie, geschätzter Leser, wirklich davor warnen! Sie wissen in der Regel fast gar nichts über den Rassisten. Die Gefahr ist groß, dass Sie die wenigen Versatzstücke, die Sie zu kennen glauben, zu einem falschen Ganzen zusammen setzen. Die Alltagspsychologie — so wichtig und nützlich sie vielfach auch sein mag und so berechtigt ihr Lob immer wieder gesungen wird — hier kommt sie an ihre Grenzen. Hier muss der sorgfältige Denker der Empirie den Vorzug geben, will er nicht in Verdacht geraten, selbst nur ein Stereotyp des Rassisten verfertigen. Es ist unter anderem dieser Grund, der mich eher die Frage nach dem „Wie“ verfolgen lässt. Von der Frage nach den Mechanismen des Zustandekommens rassistischer Stereotype nämlich darf man hoffen, dass sie mit etwas Empirie und Interpretationskunst beantwortbar sei. Die „Warum“-Frage hingegen, der Unzugänglichkeit ihres Gegenstandes wegen, wird in näherer Zukunft recht sicher keine definitive Antwort erfahren.iii

Der Aufsatz, indem er das Stereotypverfertigen und -verbreiten als kollektive Handlungsfigur gegen die Aufassung einer privaten Wahrnehmungsfigur setzt, macht scheinbar Gebrauch von dem Gegensatzpaar Handeln vs. Denken. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Ich werde versuchen, die Aufeinanderbezogenheit dieser beiden Sphären darzustellen, indem ich einen Mechanismus des Hin & Her zwischen beiden skizziere. Keinesfalls setze ich die Sphäre des Handelns gegen die Sphäre des Denkens oder die des Fühlens. Natürlich ist ein Stereotyp auch eine Wahrnehmungsfigur. Es als Handlungsmuster zu begreifen soll nicht als Vorschlag missverstanden werden, diese durch jenes zu ersetzen. Der Vorschlag ist vielmehr der eines veränderten Gesichtspunktes, unter dem die Sache fasslicher wird. Fasslicher in dem Sinn, dass er Möglichkeiten der Intervention zeigt. Fasslicher auch in dem Sinne, dass er der empirischen Überprüfung zugänglicher wird.

Lesen Sie hier die Teile 1 und 2

i Überhaupt ist das Problem der Dummheit bislang ungenügend behandelt. Dummheit ist in der Regel ein Kampfbegriff, ein allgemeiner, universaler Pejorativ. Eine Meinung als „dumm“ zu brandmarken soll bedeuten, dass es sich um intellektuell unergiebiges Terrain handelt. Kein Philosoph, kein Denker, kein Künstler, kein Politiker; kurz, kein Mensch von Verstand, Sittlichkeit und Geschmack sollte da nach Gehaltvollem schürfen. Und doch ist die Dummheits-Zeihung zumeist nicht mehr, als ein Bannversuch. In Wirklichkeit ist kein Gegenstand gebannt, seiner Gefährlichkeit beraubt, oder nur besser verstanden, wenn man ihn als „dumm“ denunziert. Damit ist nichts gegen das Wort „Dummheit“ bewiesen. Man sollte eben nur im Klaren sein, dass es weniger über den bezeichneten Gegenstand aussagt, als über des Sprechers Unwillen, sich ernsthaft mit ihm zu beschäftigen. Das kann, je nach Fall, besser oder schlechter begründet sein. Ich will dieser erst noch zu führenden Untersuchung über die Dummheit nur die Mutmassung schon voraus schicken, dass man nämlich eine Dummheit des Denkens und eine Dummheit des Handelns unterscheiden wird. Ich prophezeie, dass man, ganz entgegen gängiger Vorurteile finden wird, dass die Dummheit des Handelns vor der des Denkens bei Weitem überwiegt. Als Denker ist der Mensch möglicherweise passabel, aber als Handelnder ist er eine Katastrophe.

iii Eine Bemerkung an die akademisch vorbelastete Leserschaft. Möglicherweise ist sie pikiert und wittert Erkenntnispessimismus. Keineswegs! Ich bin nur eben als Wissenschaftler, der ich selber von Beruf bin, ganz gut im Bilde, wie überaus schmalsichtig die akademische Gemeinschaft oft ist. Natürlich habe ich bisschen recherchiert und einige Arbeiten dazu gelesen. Aufsätze von Gil-White, Macrae und Bodenhausen, Aufsätze von Kurzban und anderen. Obwohl diese Leute durchaus zwischen (Rassen-) Wahrnehmung und Verfertigung von Stereotypen unterscheiden, fassen die meisten das Problem letztlich doch als Wahrnehmungsfrage auf. Beispielsweise gehen sie der Frage nach, ob die Erkennung von Rassenmerkmalen im Gehirn des Menschen “hartverdrahtet”, d.h. angeboren sei. Die Dimension des sozialen Handelns kommt bei ihnen so gut wie immer abgeleitet und sekundär vor. Ich bin ganz anderer Ansicht; das soziale Handeln kommt m.E. vor den kognitiven und epistemischen Phänomenen. Diese Ansicht zu plausibilisieren (und Forschung in diese Richtung zu ermutigen) ist eines der Hauptanliegen des vorliegenden Essays. Ich bin mir natürlich bewusst, dass ich rein spekulativ bleibe. Aber so ist das nunmal. So sollte es zumindest sein. Erst hat man die Hypothese. Aus der leitet man die Experimente und die Feldforschung ab, um sie zu bestätigen, oder zu widerlegen, oder zu modifizieren.

Daniel Rapoport

Daniel H. Rapoport, geb. 1971, studierte Chemie an der TU Berlin und arbeitet seitdem als Wissenschaftler an Technologien zur Analyse und Vermehrung menschlicher und tierischer Zellen. Neben wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht D.H. Rapoport Essays und Glossen zu Politik, Philosophie und Kunst.

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