Sehnsucht nach Varoufakis

Früher war mehr Debatte! Noch in der Griechenland-Krise wurden Positionen kontrovers ausgetauscht – ohne, dass man sich vor Einstufung in dunkle Kategorien fürchten musste. Ganz vorn dabei: Finanzministerdarsteller Yanis Varoufakis. Angesichts der Probleme, die Europa nun zu überfordern drohen, sehnt man sich fast nach der „guten, alten Zeit“, als es nur um „Schuldenschnitt oder Grexit“ ging.


Erinnern Sie sich noch an Yanis Varoufakis, den Wirtschaftsprofessor und Blogger, der zwischen Januar und Juli 2015 den griechischen Finanzminister gab? Mit Lederjacke, offenem Hemd und Motorrad bewaffnet, kämpfte er gegen die Griechenlandpolitik der Europäischen Union und die aus seiner Sicht drakonischen Sparauflagen.

Im Club der europäischen Finanzminister, die normalerweise einen anderen Dresscode pflegen, erwarb er sich rasch den Ruf des Rebellen. Eifrig festigte er dieses Image mit provokanten Aussagen („Was immer die Deutschen sagen, am Ende werden sie immer zahlen“) und der Ankündigung, die Zusammenarbeit mit der EU-Troika zu beenden. Brüssels Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici berichtete auch über einen Vorfall zwischen Varoufakis und seinem holländischen Kollegen Jeroen Dijsselbloem, bei dem es fast eine Schlägerei gegeben hätte. Ganz ehrlich: Gegen Varoufakis`Aura des Unangepassten wirkt der aktuelle „bad guy“ der deutschen Politik, Horst Seehofer, eher wie der kreuzbrave Direktor einer oberbayerischen Raiffeisenbank. Dennoch weht dem Münchner Regierungschef aus vielen Richtungen der Wind ins Gesicht.

Systemgegner feierten „Messias aus der Ägäis“

Varoufakis indes stieg auch hierzulande bei manchen, die einen Brass auf „das System“ haben, zum Messias aus der Ägäis auf. Endlich gab es einen, der wortgewaltig gegen EU-Kommission, Kapitalismus und das vermeintliche deutsche Stabilitätsdiktat zu Felde zog – und dabei so gar nicht dem Bild der angestammten Eliten entsprach.

Darüber hinaus machte der Grieche als gefühlter Popstar und Modeikone Karriere. So konnte man erleben, wie eine gestandene TV-Moderatorin wie ein Backfisch ins Schwärmen geriet – wohlgemerkt über den Mann, nicht über seine politische Botschaft. Und in der Talkshow von Günther Jauch beschäftigen sich Politiker und Publizisten ernsthaft mit der Frage, ob Varoufakis im Jahr 2013 (da war er noch kein Minister) der deutschen Regierung bei einer kapitalismuskritischen Veranstaltung den „großen Effenberg“ gezeigt hat.

Selbst der „Stinkefinger“ wird öffentlich analysiert

ZDF-Comedian Jan Böhmermann gelang es, aus der Nummer maximal Honig zu saugen. Er behauptete, das im Netz kursierende Video mit dem „Fingerzeig“ sei nicht echt, sondern von seiner Redaktion manipuliert. Tagelang wurde die Causa diskutiert. Der ZDF-Intendant persönlich musste Böhmermann anwiesen, die Sache klarzustellen. Zudem legte die Comedy-Nachwuchskraft einen Varoufakis-Song auf, der sogar im Ausland für Aufsehen sorgte (ansonsten hat deutscher Humor weltweit eher den Ruf von britischer Küche, finnischem Eros oder österreichischem Fußball).

Einige narzisstische Aufritte jedoch schadeten Varoufakis` Ansehen. Politiker und Medien nahmen ihn zunehmend als Egozentriker oder Celebrity – und nicht mehr als ernsthaften Minister – wahr. Vor allem nach seinem Auftritt in der französischen Klatschzeitschrift „Paris Match“ häufte sich Kritik. Im März veröffentlichte das Blatt Fotos von ihm und seiner Frau, der Künstlerin Danae Stratou, in ihrer luxuriösen Wohnung. Ein Fettnapf für den selbst erklärten Marxisten vor dem Hintergrund einer 25-prozentigen Arbeitslosigkeit im Land.

Griechenland-Krise mit offenem Visier diskutiert

Für die Debattenkultur indes war Varoufakis Gold wert. Mit seinen steilen Thesen forderte der Minister Bewunderung und Widerspruch geradezu heraus. Begriffe wie Schuldenschnitt, Bail-Out oder Grexit wurden plötzlich nicht mehr ausschließlich in der Finanzpresse, sondern auch – um es mit einem ehemaligen Bundeskanzler zu sagen – in Bild, BamS und Glotze ventiliert. Dabei wurden – im Gegensatz zu inzwischen aktuelleren Sujets – echte Alternativen diskutiert, ohne dass jemand Gefahr laufen musste, in hellere oder dunklere Kategorien eingeteilt zu werden.

Ökonomisch bislang wenig Interessierte entdeckten auf einmal die wunderbare Welt der Makroökonomie. Holzschnittartig war die Spielordnung so: Keynesianer standen Ordnungspolitikern gegenüber. Varoufakis meinte, sich im Sinne der Theorie von John Manyard Kenyes für mehr Staatsverschuldung – auch im bereits extrem verschuldeten Griechenland – einsetzen zu müssen. Dass Keynes zu Lebzeiten eine differenzierte Auffassung vom Schuldenmachen hatte und in bestimmten Situationen Sparen für notwendig hielt, ist eine andere Geschichte. (Nachzulesen im Aufsatz „Keynes versus the Keynesians“, den der britische Wissenschaftstheoretiker T. W. Hutchison vor gut dreißig Jahren veröffentlichte.)

Ordnungspolitiker – für die symbolisch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble steht – vertraten dagegen die Auffassung, dass weitere Schulden nur zu „more of the same“ geführt hätten. Mit Volldampf wäre Athen dem Kollaps weiter entgegen gefahren. Ordoliberale setzen vor allem darauf, dass Griechenland seine strukturellen Probleme (keine funktionierende Finanz- und Katasterverwaltung, hohe Staatsausgaben, fehlende Steuergerechtigkeit, Korruption, fehlende Industrie, etc.) löst – und irgendwann auf eigenen Beinen stehen kann.

Umstellung von Katheder ins Kabinett zu groß

Ein politischer Veteran wie Schäuble lief als gefühlter Counterpart von Varoufakis zu Hochform auf. Dass der Badnener rethorische Stärken hat, weiß das deutsche Publikum. Im Gegensatz zu Varoufakis verfügt er aber auch über die jahrelange Erfahrung in Politik, Gremienarbeit und Verwaltung, die notwendig ist, um Positionen im Babylon der europäischen Institutionen durchzusetzen. Varoufakis dagegen musste erfahren, wie schwer der Umstieg von der Wissenschaft in die politische Arena sein kann. Ein gewisser „Professor aus Heidelberg“ hätte dem Spieltheoretiker – falls er gefragt worden wäre – eine Warnung geben können.

Die misslungene Umstellung von Katheder auf Kabinett war sicher ein Grund, warum Premierminister Alexis Tsipras sich schließlich von Varoufakis trennte. „Ein guter Wirtschaftswissenschaftler zu sein, macht einen nicht zu einem guten Politiker“, erklärte der Regierungschef. Seither laufen die Geschäfte in Athen weitgehend kongruent mit den Vorstellungen der EU-Kommission. Selbst für konservative Politiker hierzulande ist die Syriza-Regierung kein Gottseibeiuns mehr, sondern ein Partner, der Reformen in Hellas nicht nur verkünden, sondern – hoffentlich – auch umsetzen soll.

Nicht nur deshalb scheint die Griechenlandkrise weit weg, ja nahezu Lichtjahre entfernt, zu sein. Andere Themen, andere Protagonisten haben Varoufakis und Schäuble aus dem Scheinwerferlicht verdrängt. Die Stimmung ist inzwischen deutlich düsterer. Kapriolen à la Varoufakis oder Böhmermann´scher Klamauk passen nicht zum Bürgerkrieg in Syrien, dem Mordbrennen des IS, dem Wiedererstarken der Taliban in Afghanistan – und den daraus resultierenden Folgen, die mittlerweile auch bei uns spürbar sind. Angesichts solch komplexer Probleme kann niemand behaupten, er habe den Masterplan. Dennoch mutet es an, als finde eine echte gesellschaftliche Debatte – mit offenem Visier  – irgendwie nicht statt.

Probleme überfordern Deutschland und Europa

So scheint in einer Welt, die – wie der verstorbene „Welterklärer“ Peter Scholl-Latour erklärte – aus den Fugen geraten ist, eine Entscheidung zwischen Grexit oder Schuldenschnitt schon fast „ein Ameisenproblem aus der guten alten Zeit“ zu sein.  Dabei liegt diese „gute alte Zeit“ gerade einmal drei bis vier Monate zurück.

Wenn die alten Chinesen einem Mitmenschen etwas Schlechtes wünschen wollten, sagten sie: Mögest Du in spannenden Zeiten leben! Angesichts der spannenden Zeiten, die nun auf uns zuzukommen, wäre es verständlich, wenn nicht nur die besagte TV-Lady Sehnsucht nach Varoufakis verspürt.

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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