Kafkas Josef K. – Opfer? Täter?

Kafkaesk nennt man heute, beinahe im Volksmund, Situationen, in denen ein Unschuldiger es mit der geballten Willkür jedweder Bürokratie zu tun kommt. Womöglich zu Unrecht. Sören Heim wirft zwischen den Jahren einen Blick auf Kafkas K.


Für die moderne Verwendung des Begriffes “kafkaesk” ist insbesondere die von der Schule und von jugendlichem Aufbegehren geprägt Rezeption des Process prägend. Vor allem mit diesem ist das populäre Kafka-Bild und das Bild seiner Helden als einsame Streiter gegen die Übermacht des Staates, des Kapitalismus, des Vaters und Gottes (so die gängigen vier angebotenen Interpretationsmuster) verknüpft. Die totalitäre Realität der bürokratisch verwalteten Welt stürzt gleichermaßen Albtraumhaft auf einen unbedarften Einzelnen ein, wodurch dieser nach anfänglichem Widerstand unweigerlich zu Grunde geht. Das passt gut ins Selbstbild pubertierender Schüler, die sich allenthalben unverstanden fühlen. Das passt auch gut ins Selbstbild des dauerpubertären Wutbürgers jeglicher politischer Couleur, der sich als Don Quijote im Kampf gegen ein erbarmungsloses alternativloses politisches Räderwerk inszeniert.

Nur kasteiende Selbstanklage?

Doch das ist nicht einmal der halbe Kafka. Wie im alltäglichen Leben werden auch im Prozess gern alle Anzeichen dafür, dass K. so unschuldig gar nicht ist, verdrängt, beiseite geschoben. Gewiss, man nimmt die nicht seltenen Momente war, in denen K. in den späteren Fortgang seines Prozesses auch im negativen Sinne involviert ist. Und die individualpsychologische Seite dieser Verstrickung, der Prozess als Selbstkasteiung also, wird sogar ganz gerne stark gemacht. Folgendermaßen liest sich das in der Wikipedia:

„Zum Ende des Prozesses „begreift Josef K. […], daß alles, was geschieht, seinem Ich entspringt“[17], dass alles das Ergebnis von Schuldgefühlen und Straffantasien ist.“

Aber mal vorausgesetzt, Kafkas Process beschreibt nicht nur die vielleicht als Fallstudie interessante psychische Verfasstheit eines absonderlichen Einzelnen, sondern eine prototypische Konstellation von Individuum und Gesellschaft, die uns alle etwas angehen muss (und warum sonst sollte der Process als Buch bis heute interessieren?), was etwa Adorno mit Bezug auf Kafka folgendermaßen formuliert:

„Kafka versündigt sich gegen eine althergebrachte Spielregel, indem er Kunst aus nichts anderem fertigt als aus dem Kehricht der Realität. Das Bild der heraufziehenden Gesellschaft entwirft er nicht unmittelbar – denn Askese herrscht bei ihm wie in aller großen Kunst gegenüber der Zukunft –, sondern montiert es aus Abfallsprodukten, welche das Neue, das sich bildet, aus der vergehenden Gegenwart ausscheidet.“

Müsste dann nicht jede Annäherung an den Process sich viel stärker damit auseinandersetzen, welch ambivalente, durchaus nicht ohnmächtige, sogar viel mehr recht mächtige, und man verzeihe mir die Wortwahl, manchmal asoziale Kreatur Josef K. doch von Anfang an im Process und immer wieder ist?

Zwischenmenschliches Urteilen

Das Be- und Verurteilen im Process ist ja eben kein rein behördliches, sondern gesellschaftlich-kollektiv. Es ist halboffiziell und irgendwie wohl staatlich, aber ebenso auch persönlich und zwischenmenschlich. Wir erinnern uns: Der Maler gehört zum Gericht, die Kinder gehören zum Gericht,

„es gehört ja alles zum Gericht“.

K. selbst ist wenn es ums Urteilen geht dabei durchaus nicht zimperlich. In den ersten Kapiteln verurteilt er die Vermieterin Grubach für die Art wie sie von Fräulein Bürstner denkt, verurteilt eine junge verheiratete Frau bei Gericht, weil die sich mit einem Studenten einlässt, und die faulen Beamten des Gerichtes, die er noch gar nicht kennt, sowieso. Er wird des weiteren übergriffig gegen das nämliche Fräulein Bürstner und gefällt sich selbst als gewiefter Manipulator, der sich in den informellen Konkurrenzkämpfen des alltäglichen Lebens, etwa gegen den Direktor-Stellvertreter, geschickt durchzusetzen weiß:

„Es war nicht unwichtig für ihn, denn diese Einladung des Direktor-Stellvertreters, mit dem er sich niemals sehr gut vertragen hatte, bedeutete einen Versöhnungsversuch von dessen Seite (…) Diese Einladung war eine Demütigung des Direktor-Stellvertreters, mochte sie auch nur in Erwartung der telephonischen Verbindung über das Hörrohr hinweg gesagt sein. Aber K. mußte eine zweite Demütigung folgen lassen“.

K. ist im Prozess also, psychisch wie gesellschaftlich, keinesfalls ein Sonderfall, sondern mindestens der für die Erzählung abgesonderte Normalfall – er urteilt und verurteilt, er setzt Prozesse in Gang – als aktiver Teil des Gesellschaftsgefüges, das gegen ihn zu prozessieren scheint.

Josef K. Ein mächtiger “Macher”

Mehr noch: Josef K. ist zumindest zu Anfang des Romans ein durchaus mächtiger Prokurist bei einer großen Bank. Ist nicht nur ein Urteilender, sondern einer mit der Macht, damit Heil wie auch Unheil zu stiften. Und K. gefällt sich, aller späteren Schwäche zum Trotz, gelingt es ihm das Heft in die Hand zu bekommen, als „Macher“. Besonders wo er auf Schwächere trifft entpuppt sich K. dabei immer wieder als Musterbild eines autoritären Charakters, der nach oben buckelt und Schleichwege nutzt, nach unten aber kräftig zu treten bereit ist.

Gleicht etwa die folgende Auseinandersetzung mit Frau Grubach nicht einer Anklage, wie sie sich nur der Mächtige gegenüber den weitestgehenden Machtlosen leisten kann?

„ … K. sagte dazu nichts, er hätte sie mit dem ersten Wort aus dem Zimmer jagen müssen und das wollte er nicht. Er begnügte sich damit, den Kaffee zu trinken und Frau Grubach ihre Überflüssigkeit fühlen zu lassen. Draußen hörte man wieder den schleppenden Schritt des Fräulein Montag, welche das ganze Vorzimmer durchquerte. „Hören Sie es?“ fragte K. und zeigte mit der Hand nach der Tür. „Ja,“ sagte Frau Grubach und seufzte, „ich wollte ihr helfen und auch vom Dienstmädchen helfen lassen, aber sie ist eigensinnig, sie will alles selbst übersiedeln. Ich wundere mich über Fräulein Bürstner. Mir ist es oft lästig, daß ich Fräulein Montag in Miete habe, Fräulein Bürstner aber nimmt sie sogar zu sich ins Zimmer.“ “Das muß Sie gar nicht kümmern,“ sagte K. und zerdrückte die Zuckerreste in der Tasse. „Haben Sie denn dadurch einen Schaden?“ „Nein,“ sagte Frau Grubach, „an und für sich ist es mir ganz willkommen, ich bekomme dadurch ein Zimmer frei und kann dort meinen Neffen, den Hauptmann, unterbringen. Ich fürchtete schon längst, daß er Sie in den letzten Tagen, während derer ich ihn nebenan im Wohnzimmer wohnen lassen mußte, gestört haben könnte. Er nimmt nicht viel Rücksicht.“ „Was für Einfälle!“ sagte K. und stand auf, „davon ist ja keine Rede. Sie scheinen mich wohl für überempfindlich zu halten, weil ich diese Wanderungen des Fräulein Montag – jetzt geht sie wieder zurück – nicht vertragen kann.“ Frau Grubach kam sich recht machtlos vor.“

K. ist hier Täter. K. ist auch Opfer. Der Begriff des Kafkaesken hat sicher seine Berechtigung in heutigen Diskursen. Er ist eine treffende Chiffre für all jene Situationen, in denen die Ellenbogenmentalität der vielen Einzelnen sich gegen den einzelnen Einzelnen wendet. Pathetischer: In denen der „Kampf ums Dasein“ zum System erstarrt und totalitär überformt mit potenzierter Gewalt nach den Kämpfenden zurückschlägt. Um den aufrechten Guten von der Allgewalt des Systems abzugrenzen taugt er jedoch nicht.

Vielleicht lohnt es sich ja, zwischen den Jahren darüber einmal etwas ausführlicher nachzudenken.

Lesen Sie auch die beiden Weihnachtskolumnen von Sören Heim.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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