Schweinehälften
Eine 80-er Jahre Schlachthofgeschichte von Henning Hirsch.
In diesem Jahr schloss der FC die Saison als Achter ab. Im Pokal bereits in der zweiten Runde rausgeflogen. Zumindest auf europäischer Ebene das Halbfinale erreicht, wo man dann gegen Ipswich die Segel streichen musste. Alles in allem recht mager für eine Mannschaft, in der Schumacher, Cullmann, Engels, Dieter Müller, Bonhof, Woodcock und die blutjungen Littbarski und Bernd Schuster spielten. Ich hatte die vorletzte Partie von der Südkurve aus angeschaut. 1:2 verkackt. Und das ausgerechnet gegen Düsseldorf. Ich war restlos bedient und schwor mir, das Müngersdorfer Stadion nie mehr zu betreten.
Unser Nachbar kann Menstruation riechen und gibt mir maximal 60 Lebensjahre
Und nun stand ich drei Wochen später an einem subtropisch schwülen Donnerstagnachmittag Ende Juni im Wohnzimmer unseres Nachbarn. „Ich kann es riechen, wenn Frauen ihre Tage haben.“ Der Nachbar saß in mausgrauer Jogginghose breitbeinig auf seinem roten Ledersofa und nahm einen tiefen Zug aus einer Flasche Küppers. „Sie merken das wirklich?“ Mich interessierte das Thema nicht allzu sehr, aber ich wollte freundlich sein, weil er mir vor zehn Minuten einen lukrativen Job angeboten hatte.
„Ich arbeite seit dreißig Jahren im Fleischgeschäft. Schlachte jeden Tag hunderte Schweine. Glaub mir, Kleiner: falls einer hier im Viertel weiß, wie Blut riecht, dann bin ich das … und sag nicht Sie zu mir. Ich bin Karl-Heinz.“
„Wozu soll das gut sein?“ Das Thermometer zeigte am frühen Abend noch 30 Grad; ich war müde und geistig träge.
„Wozu das gut sein soll? Will ich dir gerne erklären.“ Karl-Heinz rülpste, sein Bieratem kroch über den Wohnzimmertisch und stieg mir in die Nase. „Frauen sind in den Tagen ihrer Menstruation besonders empfindsam und willig.“ Er schnalzte genießerisch mit der Zunge, so als ob er in Gedanken gerade in einem Porno mitspielte.
„Ist das nicht ein bisschen eklig?“
„Du bist zwar jung. Trotzdem hätte ich bei dir mehr Erfahrung in Bezug auf Weiber vermutet. Na ja, lassen wir das Thema. Bringt nichts, sich mit einem Grünschnabel über Sex zu unterhalten.“
Bei Karl-Heinz war ich mir oft unsicher, ob er bereits als Arschloch auf die Welt gekommen war oder sich im Lauf einer verkorksten Kindheit und Jugend erst zu einem entwickelt hatte. Er schien sich aber darüber im Klaren zu sein, dass alle Welt ihn hasste und ging mit dieser Tatsache recht souverän um. Dafür bewunderte ich ihn; obwohl ich ihn eigentlich zum Kotzen fand. Schizophrenie eines 19-Jährigen.
„Wann kann ich anfangen?“
„Am besten heute Nacht.“
„Heute schon?“
„Du bist völlig abgebrannt; brauchst dringend Kohle. Was also spricht gegen heute Nacht?“
„Nichts“, antwortete ich und dachte Scheiße, weil ich mich mit Caroline verabredet hatte, der ich vorher noch absagen musste.
„Dann gehe ich jetzt nach Hause und lege mich zwei Stunden aufs Ohr, damit ich nachher fit bin.“
„Tu das und komm an deinem ersten Arbeitstag bloß nicht zu spät. Sonst schmeiße ich dich sofort wieder raus. Völlig egal, ob du der Sohn vom Nachbarn bist. Ich bevorzuge niemanden.“
„Klar; ich werde pünktlich sein.“ Ich stand auf. Als ich die Türklinke berührte, rief Karl-Heinz in meinem Rücken: „Du wirst nicht alt werden.“
„Wie meinst du das?“
„Ich kann nicht nur den Geruch von Blut unterscheiden, sondern sehe Tieren und Menschen an, wann sie sterben werden … du mit circa 60.“
„Lass mich in Ruhe mit dem Unsinn! Sonst suche ich mir was anderes.“
„Du wirst exakt um Mitternacht hier sein“, sagte der Nachbar, ließ seinen Kopf nach rechts fallen und schlief mit geöffnetem Mund auf dem roten Sofa ein.
„Versoffenes Arschloch“, murmelte ich, während ich über den Gartenzaun stieg. Obwohl ich noch keine zwanzig war und mich kerngesund fühlte, betrübte mich die Aussicht auf meinen frühen Tod. Spontan beschloss ich, ab sofort jeden Tag so zu genießen, als ob es der letzte wäre. Aber zuerst mal wartete der Job im Kölner Schlachthof auf mich.
Nächtlicher Weg zum Schlachthof
Um halb zwölf schlich ich leise aus dem Haus. Meine Eltern hatten zwar kein Problem damit, dass ich mir Geld dazu verdiente, mit der Arbeit im Schlachthaus wären sie jedoch auf keinen Fall einverstanden gewesen. „Zu blutig, unappetitlich … nachts solltest du schlafen“ und solche Sachen hätten sie gesagt. Von daher war es besser, sie gar nicht erst zu informieren. Zwanzig Mark war ein guter Stundenlohn; dafür würde ich auch Toiletten reinigen. Den Weg kannte ich schlafwandlerisch: die Nussbaumer entlang zum Gürtel, nach rechts bis zur Subbelrather, dort links, unter der Bahn durch, und ein paar hundert Meter weiter stand ich vor dem Eingangstor. Eine viertel Stunde zu früh; aber das war okay, denn ich musste nun noch das Büro von Karl-Heinz finden.
»Wo sitzt Herr Profitlich?«
»Im Keller. Bei den Schweinen«, antwortete ein Hüne, einen Kopf größer und doppelt so breit wie ich.
»Wie komme ich dahin?«
»Dahinten die Treppe runter. Wenn du magst, kannst du aber auch mit den Viechern im Lift fahren.« Er wieherte wie ein alter Gaul und entblößte dabei sein Gebiss, in dem jeder zweite Zahn fehlte.
Ich nahm die Stufen. Je tiefer ich nach unten gelangte, desto wärmer wurde es. Süßer Blutgeruch waberte durch die Gänge. In einem großen Raum, der mit hundert Neonlampen taghell erleuchtet war, entdeckte ich Profitlich. Er stand an einem Gatter und betrachtete ein paar Dutzend verängstigte Schweine.
«Du bist pünktlich. Schon Mal ein guter Anfang … das ist Henning, Sohn meiner Nachbarn», stellte er mich zwei Typen vor, die von Physiognomie und Körperbau her die Brüder des Pferds von oben zu sein schienen. Beide steckten in blutbesudelten Kitteln und trugen Gummistiefel.
«Horst und Vitalij. Die werden dir zeigen, wie du dich nützlich machen kannst.»
«Komm mit und schau einfach zu.»
«Eigentlich müssten wir ihn erstmal mit Blut taufen», brummte Vitalij.
«Das hat bis morgen Zeit. Sonst haut der Kleine sofort wieder ab.» Horst schien über größere Menschenkenntnis als sein Arbeitskumpel zu verfügen.
«Welche Klamottengröße hast du?», fragte er.
«Normalerweise 50.»
«Das ist ungefähr Medium … komm mit. Lass uns nachsehen, ob wir was Passendes für dich hier haben.»
Ich begleitete ihn zu einem Spind, aus dem er Hose und lange Schürze hervorholte. Ich legte meine Jeans auf einen klapprigen Holzstuhl und schlüpfte in die Arbeitskleidung hinein.
In die Arbeitsklamotten muss ich noch reinwachsen
«In Ordnung?»
«Kneift ein bisschen. Wenn ich zwei Kilo abnehme, dann ist’s okay.»
«Also passt’s. Schuhgröße?»
«Zwischen 42 und 43.»
«Sonderanfertigungen haben wir nicht. Probier die mal.»
«Das ist 44.»
«Kleinere sind im Moment ausgegangen. Zieh morgen dicke Wintersocken an.»
«Klar.»
«Kopf?»
«Was meinst du?»
«Na, wie groß ist dein Schädel?»
«Keine Ahnung.»
«Sieht groß aus. Hier eine Mütze für dich.»
Ausstaffiert mit gebrauchter – aber immerhin frisch gewaschener – Arbeitskleidung stiefelte ich in den zu großen Gummischuhen zurück zu Vitalij und Profitlich. Der Nachbar wählte gerade mit Kennerblick dreißig Tiere aus und gab mit Handzeichen zu verstehen, dass wir uns nun um alles Weitere kümmern sollten. Wir trieben die kleine Herde in den Nachbarraum, wo die Schweine mit einer Elektrozange, die ihnen hinter die Ohren geklemmt wurde, betäubt wurden. Sie sanken mit weit aufgerissenen Augen, quiekend und seufzend zuerst in die Knie, bevor sie bewusstlos zur Seite rollten. Ich spürte ein schlechtes Gewissen, beruhigte mich jedoch mit dem Gedanken an die Kohle, die ich hier verdienen konnte.
«Na Kleiner, hält dein Magen das aus? Es wird gleich noch spannender.» Der Russe war ein Sadist.
«Du freust dich bestimmt, wenn ich dir über die Schuhe kotze.» Mein Magen rumorte. Horst grinste. Der mochte den Russen also auch nicht.
Als die Schweine nicht mehr zappelten, stachen die beiden mit einem Elektro-Spieß zu. Blut spritzte. Einige Tiere erwachten aus ihrem Dämmer und quiekten jämmerlich. Horst und Vitalij achteten nicht darauf. Mit der Abgebrühtheit gewerbsmäßiger Killer beförderten sie Tier um Tier in den Schweinehimmel. Ich stand mit weit aufgerissenen Augen daneben; denn es ist ein Unterschied, ob man sich solch ein Gemetzel in seiner Fantasie ausmalt oder real mitansieht. Meine Beine wurden schwach. Ich stützte mich an die Wand, um nicht umzufallen. Vitalij sah das und lächelte böse. Um dem Arschloch zu zeigen, dass ich kein Weichei war, richtete ich mich kerzengerade auf und sagte: «Was gibt’s für mich zu tun?»
Mir wird schlecht von all dem Blut
«Mach hinter uns sauber!» Horst drückte mir einen Schlauch in die Hand. Während meine zwei Kollegen die dreißig toten Körper in einen Lastenaufzug hievten, sprühte ich mit einem Hochdruckreiniger hektoliterweise Wasser, das nach Desinfektionsmittel roch, auf das Linoleum. Die dunkelroten Blutlachen lösten sich auf und versickerten in Metallgittern, die in den Boden eingelassen waren, oder flossen seitlich durch Schlitze in den Wänden.
«Scheiße, scheiße», rief ich. «Was tue ich hier?»
«Du gehst erst raus, wenn alles wieder blitzt», antwortete Profitlich, dessen Hereinkommen ich nicht bemerkt hatte. «Und dann schaust du, was du für Horst und Vitalij tun kannst.»
«Okay», sagte ich. Leck mich, dachte ich.
Eine Stunde später stand ich im Erdgeschoss. Horst nahm mich in Empfang.
«Schau uns bloß zu. Sobald’s dir schlecht wird, melde dich. Brauchst dich nicht zu schämen. Jeder hier kotzt am ersten Tag. Du gewöhnst dich aber daran.»
«Danke. Ich werd’s schon überleben. Hab Schlimmeres gesehen.»
«Wo: warst du im Krieg dabei?» Horst ließ mich stehen und widmete sich wieder seinem Job. Der bestand gerade darin, Augen und Ohren zu entfernen.
«Soll ich bloß zusehen, oder gibt’s für mich auch was zu tun?»
«Ist alles ein bisschen viel für dich heute?»
«Mir ginge es deutlich besser, wenn ich mit anpacken könnte.»
«Hast Recht … genug geglotzt für den ersten Tag. Geh nach hinten und melde dich bei Vitalij. Dem kannst du beim Schleppen helfen.»
Während Horst mit mir sprach, packte er in den Körper eines besonders fetten Exemplars hinein und fingerte die Reste des Darms heraus. Mein Abendessen, das viele Stunden zurücklag, stieg bedrohlich bis in die Nähe des Kehlkopfs hinauf.
«Jede Wette, dass du ein paar Tage lang auf Schnitzel und Wurst verzichtest.» Horst lachte, klopfte mit der blutigen Linken auf meine Schulter und schickte mich zu Kumpel Vitalij.
Schweineschleppen ist ein schweißtreibender Job
Vitalij und einige mir unbekannte Typen, die wohl ebenfalls auf Karl-Heinz Gehaltsrolle standen, hatten die dreißig Schweine in der Zwischenzeit mit Sägen in Einzelteile zerlegt. Zumeist in Hälften; manchmal – vermutlich auf Spezialbestellung – direkt in Keulen und Schnitzel.
«Hey Kleiner, mach dich nützlich!»
«Dafür bin ich hier.»
Vitalij schnappte sich mit einer Leichtigkeit, als ob er mit zwei Pfund Orangen jonglieren würde, ein halbiertes Schwein und legte es mir auf die Schulter.
«Häng es an den Karabinerhaken!» Meine Wirbelsäule knackste; würde sicher gleich auseinandersplittern. Ich ging ein paar Zentimeter in die Knie und stöhnte leise.
«Stell dich nicht so an. Der Boss hat erzählt, du trainierst mit Gewichten. Machst auf Schwarzenegger. Dann ist das für dich doch bloß ein Aufwärmprogramm … oder sollen wir dir helfen, damit du nicht zusammenklappst?»
«Ich schaffe es schon, Arschloch», sagte ich.
Die zwanzig Meter bis zum Haken schaffte ich. Das zentnerschwere Teil in die Höhe zu hieven, war jedoch zu viel für mich. Beim Versuch kreisten plötzlich transparente Sterne vor meinen Augen, und ich fühlte Schwindel.
«Ich zeige es dir.» Zwei Pranken, zwischen denen man einen Ford Capri wie in einer Schrottpresse glattbügeln konnte, griffen von der Seite zu und wuchteten das halbe Schwein mühelos nach oben.
«Danke», flüsterte ich. «Hast was gut bei mir.»
«Vergiss es nicht. Ich heiße Martin.»
«Henning.»
«Seltener Name.»
«Meine Eltern waren betrunken, als sie sich den für mich ausgedacht haben.»
«Ach so. Verlier deinen Humor nicht, Kleiner.»
Nach der ersten Schicht soll ich schon wieder gekündigt werden
Vitalij lächelte böse, als ich zur Schlachtbank zurückkehrte. «Bist doch nicht so stark, wie du angekündigt wurdest.»
«Leck mich.»
Schweigend warf er den nächsten Klumpen auf meinen Rücken. Dieses Mal ein besonders blutiges Teil. Obwohl es nur wenige Meter waren, die ich zurücklegen musste, schmerzte jeder einzelne Schritt höllisch. Am liebsten hätte ich den Fleischberg auf den Boden geschmissen, mir die schweißnassen Klamotten vom Körper gestreift und wäre ohne Bezahlung nach Hause gegangen. Aber diese Schmach wollte ich mir nicht antun. Ich würde durchhalten. Und wenn ich danach mein Leben lang im Rollstuhl säße. Am Haken wartete Martin auf mich.
«Profitlich hat Anweisung gegeben, dich am ersten Tag nicht allzu hart ranzunehmen. Hast Pech, dass Vitalij heute das Kommando führt.»
«Übler Menschenschinder.»
«Ja; nützt aber nichts, darüber zu jammern. Das Schwein muss nach oben.»
Mit Unterstützung meines neuen Freundes schaffte ich zehn Schweinehälften. Mehr war nicht drin. Bei Nummer elf wäre ich zusammengebrochen und alleine nicht mehr auf die Füße gekommen. Das spürte ich. Die Uhr zeigte kurz vor fünf.
«Hast dich wacker geschlagen», sagte Martin, «Lass uns draußen noch eine rauchen.»
«Werde dem Boss raten, dich nicht weiter zu beschäftigen.» Vitalij tat empört, obwohl ich als Youngster gute Arbeit abgeliefert hatte.
«Tu, was du willst. Ich möchte jetzt bloß noch nach Hause und heiß baden. Alles andere ist mir egal.»
Die Nacht war vorüber. Im Osten hinter dem Dom stieg bereits die Sonne empor. Wir standen in blutverklebten Kitteln auf dem Parkplatz neben dem Schlachthof. Martin bot mir eine Marlboro an. Ich nahm ein paar Züge.
Profitlich lügt mir frech ins Gesicht
«Du paffst ja», bemerkte er.
«Wenn ich auf Lunge rauche, muss ich husten.»
«Du Amateur», lachte er.
«Und jetzt?», fragte ich.
«Verabschieden wir uns vom Boss.»
Gemeinsam gingen wir in Profitlichs kleines Büro im Erdgeschoss. Der brütete über Zahlenkolonnen.
«Wie lief es?», erkundigte er sich, ohne uns anzusehen.
«Alles bestens, Karl-Heinz», antwortete ich.
«Tatsächlich? Da hat mir Vitalij eben was anderes berichtet. Du wärst weniger kräftig, als wir angenommen hatten, und du gibst Widerworte. Beides nicht so gut … und tu mir einen Gefallen: nenn mich hier nicht Karl-Heinz. Entweder Boss, wie es die anderen Kollegen tun oder Herr Profitlich. Verstanden?»
«Ja.»
«Dann hätten wir das geklärt. Für heute ist Schluss. Ihr könnt gehen.»
«Hm … »
«Was gibt’s noch?»
«Wie ist es mit dem Geld?»
«Wird einmal wöchentlich ausbezahlt. Aber nicht heute.»
«Fünf Stunden macht einen Hunderter.»
«Bist du wieder pleite, Henning?»
«Noch nicht ganz.»
«Musst du mit dem Zocken aufhören.»
«Danke für den Tipp, Boss.»
«Morgen und übermorgen haben wir für dich hier nichts zu tun. Vielleicht in der Nacht von Sonntag auf Montag. Ruf Vitalij an. Der teilt deine Schichten ein.»
«Vitalij??»
«Ja! Hörst du schlecht, oder hast du ein Problem damit?»
«Alles in Ordnung, Herr Profitlich.»
Ausgepowert und abgebrannt
«Da hast du in die Scheiße gepackt», sagte Martin, als wir im hellen Morgenlicht auf der Liebigstraße standen. «Vitalij ist ein Dreckskerl. Dem macht es Spaß, andere so lange zu quälen, bis sie ihn anbetteln, damit aufzuhören. Da kommen üble Wochen auf dich zu.»
«Kann ich mir lebhaft vorstellen bei dem Arschloch.»
«Du sagst oft Arschloch. Also verdammt oft für einen verwöhnten Sohn von reichen Eltern.»
«Wer erzählt, dass wir reich sind?»
«Vitalij. Und der hat’s vom Boss.»
«Glaub nicht alles, was rumgequatscht wird. Ich bin bettelarm.»
«Weil du Backgammon spielst … schau nicht so erstaunt. Weiß ich ebenfalls von Vitalij.«
«Dann seid ihr ja alle bestens informiert über mich.»
«Ich muss jetzt heim. Meine Frau wartet mit dem Frühstück. Danach haue ich mich aufs Ohr, und sie geht putzen. Krankenhaus Merheim. Ist so eine Psychoklinik.»
«Ciao … schön, dich kennengelernt zu haben. Wir sehen uns dann Sonntagnacht.»
«Scheißtermin. Versaut das halbe Wochenende.»
«Ja!»
Martin verschwand Richtung Linie 5, und ich spazierte den Radweg oberhalb der Autobahn entlang. Vogelgezwitscher im Blücherpark mischte sich mit dem Knattern von LKW-Motoren. Die Temperatur lag bereits am frühen Morgen bei knapp zwanzig Grad. Ich fühlte mich total zerschlagen, wollte bloß noch duschen und mich dann ins Bett legen. Heute Abend war ich für ein kleines Backgammon-Turnier verabredet. Da musste ich fit sein.
Meine Eltern passen mich an der Haustür ab
Gegen halb sechs schloss ich die Haustür auf und wollte leise in mein Zimmer schleichen.
«Wo warst du?», hörte ich die Stimme meines Vaters.
«Du bist schon wach??» Beide Eltern standen frontal vor mir im Flur. Keine Chance, an ihnen vorbeizukommen.
«Wo warst du?»
«Unterwegs.»
«Wo genau?»
«Hier und da. Halt unterwegs … ist das wichtig?»
«Lüg uns nicht an!»
«Weshalb sollte ich euch anlügen?»
«Du warst im Schlachthof.»
«War ich nicht … wie kommt ihr darauf?»
«Der Nachbar hat’s uns gesagt.»
«Er hat was??»
«Herr Profitlich hat vor zehn Minuten angerufen.» Das war also, nachdem wir uns für Sonntagnacht verabredet hatten.
«So ein Arschloch.»
«Solche Worte nicht in meinem Haus! … wie kommst du dazu, im Schlachthof zu jobben? Ich hatte es dir verboten.»
«Weil ich da gute Kohle verdiene. Das bisschen Taschengeld reicht ja kaum von Montag bis Mittwoch.»
«Du bist maßlos geworden.»
«Herr Profitlich meint, dass es besser ist, wenn du dir was anderes suchst. Die Arbeit im Schlachthof ist zu schwer und blutig. Dem bist du nicht gewachsen.»
«Bin ich doch!» Ich trommelte mit der Faust gegen die Tapete.
Mein Lebenswandel ist nicht unbedingt billig
«Keine Widerrede! Du wirst den Schlachthof nie mehr betreten. Sonst fliegst du hier raus.»
«Und wer bezahlt mir den Verdienstausfall?»
«Die Tochter von Müllers benötigt Nachhilfe in Mathe und Englisch.»
«Die ist so blöde. Das ist eine Strafe für jeden Nachhilfelehrer.»
«Lern einfach, mit deinem Geld auszukommen … weshalb bist du überhaupt jede Nacht unterwegs? Kann doch nicht jeden Tag Partys geben?»
«Okay, okay … ich bin müde und lege mich hin. Frühstück nicht vor 16 Uhr.»
«Du bist seit dem Abitur völlig verlottert. Wird Zeit, dass du eine geregelte Arbeit findest.»
«Gute Nacht.»
Ich ging nach oben in mein Zimmer und zog die Tür hinter mir zu. Meine Alten waren vom Grundsatz her nicht übel. Aber immerzu besorgt. Was tust du jede Nacht draußen? Ist dir klar, dass Köln eine gefährliche Stadt ist? Weshalb schläfst du so lange? Wieso brauchst du ständig Geld? Minütlich fragten sie mich was. Ich hatte schon überlegt, die Antworten auf Zettel zu schreiben und ihnen wortlos zu überreichen. Neben einem Bücherstapel lag die neue LP von Billy Idol, die legte ich auf.
«Muss das so laut sein?», hörte ich von unten.
Ich schloss den Kopfhörer an und drehte die Musik bis zum Anschlag. Die Vorteile des Beamtenlebens meiner Eltern – gutes Gehalt, Kohle wird pünktlich zum Monatsende überwiesen, zwei Urlaube im Jahr, Chefarztbehandlung auch bei Schnupfen – empfand ich als gähnend langweilig. Seitdem mich eine Klassenkameradin vor zwei Jahren zum ersten Mal ins Le Bateaux und Coconut mitgenommen hatte, wurde ich schnell vom Fieber der Nacht infiziert. Auf den Ringen pulsierte das Leben. Daran wollte ich teilhaben. Mit großen Augen beobachtete ich, wie die coolen Jungs im La Strada Backgammon zockten. Bündel Scheine, die mit goldenen Spangen zusammengehalten wurden, wechselten die Besitzer. Das war jeden Abend mehr Geld, als es mein Vater in einem Jahr verdiente. Die Aussicht auf schnellen Gewinn elektrisierte mich. Ich setzte mich stumm daneben, sah den erfahrenen Zockern zu, merkte mir Züge und Würfelkombinationen. Kaufte mir ein Lehrbuch, um die Wahrscheinlichkeiten besser einschätzen zu können. Spielte mit Kumpels ohne den Dopplerwürfel, um meine Fortschritte zu testen. Nach acht Wochen fühlte ich mich bereit, am Profitisch Platz zu nehmen. Ich verlor dreihundert Mark an diesem Abend. Das entsprach dem Taschengeld eines Quartals. Und ich musste in den kommenden Monaten noch viel mehr Lehrgeld bezahlen, bis ich endlich zum ersten Mal als Matchwinner das Lokal verließ. «Du hast Potenzial, Kleiner», sagte der dürre Hein und adelte mich damit. Die kleinen Gewinne wurden jedoch durch häufige Verluste aufgezehrt, sodass ich chronisch pleite und gezwungen war, mir Kohle mit Jobs wie Nachhilfe, Rasenmähen und Autowaschen hinzuzuverdienen. In der Schule schlief ich deshalb häufig ein.
Und nun hatten das Arschloch Profitlich und mein Vater verabredet, mich von der lukrativen Erwerbsquelle Schlachthof fernzuhalten. Mein Vater verfügte über einen starken Widerwillen gegen Blut und rohes Fleisch. Aß kein Mett, ekelte sich vor Tartar und englischem Steak. Machte um Metzgereien und Fleischtheken einen großen Bogen. Hatte im Krieg zu viele Tote und Verletzte gesehen. Er war zwar kein Vegetarier; wollte aber nicht wissen, wie halbe Hähnchen und Wiener Würstchen produziert wurden. Ein Job im Schlachthof stand für meine Eltern auf derselben Stufe wie Leichenwaschen, Totengräber und Zuhälterei.
Ich bin mal wieder völlig blank
Von daher konnte ich ihren Widerwillen gegen diese Form des Gelderwerbs nachvollziehen. Welcher Teufel hatte aber Profitlich geritten, mich direkt im Anschluss an meine erste Schicht zu verraten? Und mir – was ich noch niederträchtiger fand – nicht direkt ins Gesicht zu sagen, dass er mich für den Job als untauglich einstufte? Ich würde ihn morgen fragen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihn fortan wie Luft zu behandeln. Durch ihn hindurchzusehen, wenn wir uns auf der Straße begegneten. Das wäre allerdings dumm gewesen, denn er schuldete mir noch hundert Mark. Kohle, die ich dringend benötigte, um den Rest des Monats über die Runden zu kommen.
Im Bett wälzte ich mich hin und her. Vergeblich; es gelang mir nicht, zur Ruhe zu kommen. Tausend Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Ich musste jedoch pennen; andernfalls wäre ich am Abend nicht fit genug für ein kleines Backgammon-Turnier, das im Hinterzimmer einer türkischen Kneipe angekündigt war. Ich stand auf, räumte die zehnbändige Enzyklopädie „Geschichte der europäischen Kultur“ – ein Weihnachtsgeschenk meiner Großeltern – zur Seite, griff nach einer dahinter versteckten Flasche Bourbon, schüttete ein Wasserglas voll, leerte es in zwei Zügen und fiel ein paar Minuten später in einen tiefen Schlaf.
Drei Tage darauf begegnete ich dem Nachbarn am Zaun, der seinen von unserem Garten trennte. Karl-Heinz lehnte im kurzärmligen Hawaiihemd an einem Birnbaum und beobachtete mich dabei, wie ich Liegestützte machte.
«Hast echt schon Muskelmasse aufgebaut», begrüßte er mich. «Sahst vor einem Jahr noch viel mickriger aus. Nimmst du irgendwas?»
«Was sollte das am Freitag mit meinen Eltern?»
«Du willst wissen: warum ich sie informiert habe?»
«Genau.»
«Glaub mir Kleiner, das war besser für dich.»
«Sie meinen: besser für Sie?» In meinem Zorn hatte ich vergessen, dass ich mit Profitlich ja schon auf Du war.
«Lass uns sagen: vernünftig für uns beide.»
«Verstehe ich nicht.»
«Ich will keinen Ärger mit deinen Eltern haben. Die sind die einzigen in der Straße, die mich wie einen Menschen behandeln.»
Das stimmte. Profitlich war ein Exot in unserem von mittlerem Bildungsbürgertum beherrschten Viertel. Je stärker er mit Sportwagen und teuren Armbanduhren protzte, desto mehr entfremdete er sich von seiner Umgebung. Sobald die Altphilologen, Musikpädagogen und Oberstudienräte ihn vor der Haustür erblickten, grüßten sie freundlich, vermieden es jedoch, sich von ihm in eine längere Unterhaltung verwickeln zu lassen und hasteten schnell weiter. Es war, als ob sie unsichtbares Schweineblut an seinen Händen kleben sahen. Mutter sagte manchmal: »Herr Profitlich ist ein Neureicher«. Und so wie sie »neureich« betonte, verhieß das Wort nichts Gutes. Ich wiederum wünschte mir hin und wieder ein neureiches Leben, da mich meine Eltern in Punkto Taschengeld recht knapp hielten.
Profitlich bietet mir nen neuen Job an
«Und das ist Ihnen erst eingefallen, nachdem wir uns um fünf Uhr verabschiedet hatten. Sie hätten’s mir doch direkt sagen können.»
«Ja und nein.»
«Wie nein?»
«Ich wollte dich nicht kränken.»
«Das war alles?»
«Und Vitalij meinte, dass es schwierig wird, aus dir einen Arbeiter zu machen. Du stellst zu viele Fragen, machst die anderen damit aufsässig. Es wäre klüger, sich solch eine Laus nicht unnötigerweise in den Pelz zu setzen.»
«Und dann haben Sie sich für die bequeme Möglichkeit entschieden, mich bei meinem Vater anzuschwärzen.»
«Sieh es positiv: der Job ist hart und blutig. Nix für einen Jungen wie dich. Zu dir passt eher Nachhilfe.»
«Was ist mit den hundert Mark?«
«Die schulde ich dir?»
«Ja.»
«Brauchst du das Geld jetzt?»
«Ja.»
«Warte einen Moment. Ich schaue, wo mein Portemonnaie liegt.»
Profitlich ging zurück ins Haus, ließ mich eine Minute warten und kehrte mit zwei Fünfzigern zurück.
«Damit sind wir quitt.»
«Danke.» Ich wandte mich zur Seite, um mich wieder den Liegestützen zu widmen, da packte mich der Nachbar am Oberarm.
«Hast du morgen Abend schon was vor?»
«Warum?»
«Beantworte meine Fragen nicht ständig mit Gegenfragen. Ja oder nein?»
«Bisher nein.»
«Dann sei gegen acht Uhr bei mir. Ich stelle dir eine Bekannte vor.»
«Und dann?»
«Lass dich überraschen. Wirst es nicht bereuen.
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