Tod eines Prokuristen
Geschichte vom trinkenden Prokuristen Klaus und seiner co-abhängigen Ehefrau Hedwig, und wie wir Klaus nach einem tödlich ausgehenden Treppensturz an einem nasskalten Gründonnerstag im kleinsten Familien- und Freundeskreis zu Grabe tragen. Vom regelmäßigen AA-Besucher Henning Hirsch.
Klaus war tot; so was von tot. Daran bestand nicht der leiseste Zweifel. In diesem Moment, als er leblos am unteren Ende der steilen Kellertreppe auf dem Rücken lag, war mein neuer Freund nicht schön anzuschauen: irre nach oben verdrehte Augen, Blutfäden rannen aus seinen Mundwinkeln und tropften vom Kinn auf den lackierten Betonboden. Die Lippen schimmerten in einem ungesunden Dunkelrot, ähnlich einem Vampir. Die hintere Schädeldecke schien mir eingedrückt zu sein. Puls konnte ich weder an seinem Handgelenk noch am Hals spüren; atmen tat Klaus ebenfalls nicht mehr. Ich stand zu dieser späten Abendstunde vor einer Leiche. Zehntagebart, fettige und verfilzte Haare, vollgepisste Jeans, bis zum Bauchnabel aufgeknöpftes Hemd, zerrissene Socken. Er stank nach Urin, kaltem Schweiß und Schnaps. Neben dem schmerzverzerrten Gesicht hockte Bianca, seine geliebte Terrierdame und leckte ihm zärtlich über die Stirn. Und dieser Mann hat noch vor einem Monat in Anzug und Krawatte Kunden in der Sparkasse beraten? Unglaublich, überlegte ich, bevor von oben die weinerliche Stimme Hedwigs erschallte: »Lebt er ? Henning, sag doch was. Bitte!«
Als Prokurist natürlich ne Chefarztbehandlung
Ich kannte Klaus aus der Klinik. Offene Station. Als Privatpatient blieb ihm der Umweg über die geschlossene Abteilung, den ich oft einschlagen musste, erspart. Chefarztbehandlung, Einzelunterbringung, alles vom Feinsten für Klaus, während ich mich mit schnarchenden und schlafwandelnden Mitpatienten im Dreierzimmer rumärgern durfte. Sogar eine reingeschmuggelte Wodkapulle unter dem Kopfkissen verziehen ihm die Pfleger. Jemanden wie mich hätten sie bereits beim laut geäußerten Gedanken nach einer Dose Bier hochkant rausgeworfen. Wenn Klaus eingeliefert wurde, sah er arg zerrupft und verwirrt aus. Mitunter dauerte es bei ihm zweiundsiebzig Stunden, bis man ihn ansprechen und von ihm eine halbwegs vernünftige Antwort erhalten konnte. Was mich vermuten ließ, dass er seine Exzesse über Wochen und uferlos betrieb. Erfahrene Alkoholiker wussten zumeist, wann das Ende der Fahnenstange erreicht war, und es Zeit für den nächsten Entzug wurde. Bei Klaus – obwohl länger als ich im Geschäft – hatte sich diese Erkenntnis bisher nicht durchgesetzt. »Er ist tot. Nichts mehr zu machen«, rief ich die Kellertreppe hinauf und erhielt als Antwort einen markerschütternden Schrei: »NEIN!!!« Ich ging nach oben und entdeckte auf dem Flur die in sich zusammengesunkene Hedwig. »Ich bin schuld. Ich habe Klaus umgebracht«, wimmerte sie. »Wie kommst du denn auf diese blöde Idee?«, fragte ich. »Warum habe ich ihn nicht früher in die Klinik gefahren?« »Weil er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat», sagte ich und zuckte mit den Schultern.
Klaus hatte vor einem Monat aus heiterem Himmel wieder mit dem Trinken begonnen. Anfangs heimlich und in kleiner Dosierung; Hedwig, die nachts das Ehebett mit ihm teilte, bemerkte es dennoch, weil er trotz Pfefferminzpastillen nach Wodka roch. Er leugnete, bagatellisierte, erklärte, dass er alles im Griff habe, und sie sich unnötigerweise Sorgen machen würde. Nach sieben Tagen war Klaus nicht mehr in der Lage, aufzustehen und blieb morgens schlapp und mit glasigen Augen auf dem Sofa liegen. Dann wählte Hedwig endlich meine Nummer: »Henning, komm bitte sofort vorbei. Klaus hat einen Rückfall erlitten.« »Schlimm?«, erkundigte ich mich. »Sehr schlimm«, kam es schluchzend zurück. »Bin schon auf dem Weg.« Ich stieg ins Auto und machte mich auf den Weg zu Hedwig, die am anderen Ende der Stadt in einem Bungalow wohnte, den sie von ihren Eltern geerbt hatte. Auf der Fahrt, die bei grüner Welle knapp dreißig Minuten dauerte, ließ ich meine Freundschaft mit Klaus vor meinem inneren Auge Revue passieren.
Wir waren uns in der Klinik anfangs aus dem Weg gegangen. Zu unterschiedlich erschienen unsere Erscheinungsbilder, als dass wir Lust verspürt hätten, näher in Kontakt zu treten. Als Späthippie, der auch in nüchternem Zustand zerschlissene Jeans trug, stand ich dem versoffenen Prokuristen einer Bausparkasse, der sich nach einer Woche von seiner Frau gebügelte Oberhemden und Anzug in die Station bringen ließ, skeptisch gegenüber. Erst Dante, ein Rotwein saufender Antiquitätenhändler, den ich von früher her kannte, brach eines abends das Eis. »Henning, darf ich dich mit Klaus bekannt machen.« Er klopfte mit der Hand auf den leeren Stuhl neben sich. »Ich weiß, wer Klaus ist. Er fährt ja oft genug in die Klinik ein«, gab ich zögerlich zurück und setzte mich, denn ich wollte den alten Chianti-Liebhaber nicht vor den Kopf stoßen. »Wie wir alle«, lachte er und legte seinen Arm um meine Schulter.
Klaus Hobbys = kochen und trinken
Dante mochte ich gerne, denn mit ihm konnte ich mich stundenlang über Literatur und Kino unterhalten. Trotz der jahrzehntelangen Sauferei hatte er sein phänomenales Gedächtnis bewahrt und rasselte im Minutentakt Textstellen aus den Romanen von Joseph Roth und Charles Bukowski herunter. Zudem jammerte er nicht und besaß ein frohes Wesen, obwohl er seit einigen Wochen wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Er zechte trotzdem – oder gerade deswegen – munter weiter und ließ sich die gute Laune nicht verderben. Wohl aus dem Grunde, dass er sein nahendes Ende nicht dramatisieren wollte, zitierte er oft eine Textstelle aus der Legende vom heiligen Trinker: »Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!« Diesen nonchalanten Charakterzug schätzte ich sehr an ihm.
Klaus hatte als Vorort-Bankier keine Ahnung von Belletristik und Musik; verfügte allerdings über trockenen Humor und einen klaren Blick aufs Leben. Zudem zeigte er sich hilfsbereit, wenn armen Mitpatienten das Geld ausging oder sie Hemden und Hosen zum Wechseln ihrer dreckigen Klamotten benötigten. Im Laufe der Tage wurden wir besser miteinander bekannt und freundeten uns allmählich an. Draußen in Freiheit gingen wir hin und wieder zusammen einen Kaffee trinken, er empfahl mir in einer vertrackten Erbschaftsangelegenheit einen guten Anwalt und lud mich mehrmals zu sich zum Essen ein. Dann stand Klaus am Herd, denn kochen konnte er besser als Hedwig. Man sah ihm dieses Hobby auch an: fünfundachtzig Kilo verteilt auf Ein-Meter-Vierundsiebzig ließen ihn untersetzt, geradezu pummelig erscheinen. Für einen Mittfünfziger wirkte er bereits greisenhaft, was unter anderem auf seine schlecht angepassten künstlichen Zähne zurückzuführen war, die seiner Mundpartie einen eingefallenen Eindruck verliehen. Das schüttere blonde Haar akkurat von links nach rechts gekämmt, um die offenen Stellen auf seinem Kopf zu verdecken. Große Ohren und wässrig blaue Augen gaben seinem Gesicht einen schelmischen Ausdruck; wenngleich ich mir unsicher war, ob ich mir von solch einem Typen einen Bausparvertrag andrehen lassen wollte.
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»Was sollen wir jetzt machen, Henning?« »Kurz nachdenken und auf Polizei und Notarzt warten. Wobei die auch nur noch den Tod feststellen können.« »Was habe ich bloß getan?« Tränen rannen ihr über die Wangen. »Säufer sind für ihr Schicksal selbst verantwortlich«, gab ich zu bedenken. Klaus hatte sich halt bis zum Schluss uneinsichtig gezeigt. Trotz des Bettelns von Hedwig, vernünftig zu sein und sich im Krankenhaus behandeln zu lassen. Mein Mitleid hielt sich deshalb in engen Grenzen.
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Klaus gehörte zu den wenigen, die täglich Besuch in der Station erhielten. Zwar einzig von seiner Frau, aber immerhin. Die meisten von uns hatten sich damit abgefunden, die Entzüge mutterseelenalleine durchzuziehen. Verwandte und Freunde hatten sich spätestens nach der zehnten Entgiftung abgewandt. Manche gewöhnten sich im Laufe der Zeit an ihr Dasein als Eremit, genossen es sogar; andere hingegen kamen mit der Einsamkeit überhaupt nicht zurecht und fühlten sich mies, wenn sie Klaus und sein Eheglück beobachten mussten. Auch Dante wurde zweimal am Tag von seiner Lebenspartnerin mit frischen Lebensmitteln beliefert, da er als Gourmet den Klinikfraß kategorisch ablehnte. Allerdings schimpfte sie oft mit ihm und schalt ihn vor uns allen einen üblen Trunkenbold, weshalb mir diese Szene glaubwürdiger erschien als das Händchenhalten und Wispern von Klaus und Hedwig. »Was ist das für eine Beziehung, die du führst?«, hatte ich mich an einem verregneten Abend im vergangenen November bei ihm erkundigt. »Sehr harmonisch. Wir lieben uns.« »Trinkt deine Frau?« »Keinen Tropfen.« Klaus schüttelte verneinend den Kopf. »Und erträgt stoisch deine vielen Rückfälle? Das macht doch niemand auf Dauer mit. Es sei denn, sie hat einen an der Klatsche.« Im Moment, als ich den Satz aussprach, tat er mir schon wieder leid. Ich wollte Klaus und seine Frau nicht beleidigen. »Wir würden füreinander sterben.« Er strahlte mich auf eine Art an, die mich für einige Sekunden an seinem Geisteszustand zweifeln ließ. »Natürlich. Das ist des Rätsels Lösung.« Ich stand auf, um mir im Essensraum einen Hagebuttentee zu organisieren. Für heute hatte ich genug mit Klaus geplaudert. Übertriebene Love Stories waren noch nie meins gewesen.
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Ein Rückfall jagt den nächsten
»Und wenn die Polizei fragt, wie es passiert ist?« In Hedwigs Augen entdeckte ich Angst. Leicht panisch rüttelte sie an meinen Schultern. »Dann sagen wir ihr die Wahrheit.« »Wirklich?« »Lass mich am Anfang reden. Es wird alles gut werden. Vertrau mir.«
Als ich vor vierzehn Tagen das erste Mal bei Klaus nach dem Rechten sah, fläzte der sich volltrunken auf der Wohnzimmercouch. Hedwig stand daneben und betrachtete ihn stumm. »Pack deine Sachen. Ich bringe dich in die Klinik«, sagte ich. »Nein«, erwiderte er mit schwerer Stimme. »Warum nicht? Du bist sternhagelvoll und musst entgiften.« »Ich habe alles unter Kontrolle.« »Einen Scheißdreck hast du. Steh jetzt auf und komm mit!« »Nein!« Ich blickte Hedwig an; die meinte: »Immer dasselbe Trauerspiel mit ihm. Er ist nicht einsichtig. Ich habe bereits den Hausarzt informiert.« »Dann warte ich eben auf den. Habe heute keine Eile.« Ich setzte mich zu ihr in die Küche und trank eine Tasse Cappuccino aus ihrer neuen, sündhaft teuren Kaffeemaschine.
Der Arzt, ein älterer Herr mit grauem Bart, traf nach einer Viertelstunde ein, taxierte eine Minute lang schweigend den hochalkoholisierten Klaus und beugte sich dann zu ihm runter. Im Schlepptau hatte er eine bildhübsche Helferin mitgebracht, die eifrig Notizen anfertigte, während er auf den Patienten wie ein kleines Kind einredete. Es half nichts. Klaus ließ sich nicht erweichen und blieb stur auf dem Sofa liegen. »Würden Sie freiwillig mitkommen, wenn ich den Rettungswagen rufe?« »Nein!« »Nun gut. Sie zwingen mich also, härtere Bandagen anzulegen. Dann wird die Polizei direkt mit alarmiert. Denn nur die darf Sie gegen Ihren Willen anfassen.« »Mir völlig egal.« Klaus hatte den Ernst seiner Lage anscheinend nicht verstanden. Kein Wunder, wenn ich auf die vielen leeren Wodkaflaschen auf dem Fußboden schaute. Als die Beamten anrückten, erkundigten sie sich freundlich bei meinem Bekannten, ob er widerstandslos in den Krankenwagen steigen würde. Als er ihre Frage mehrmals verneinte und ebenfalls auf das Flehen seiner Frau nicht reagierte, streiften die Polizisten Handschuhe über und zerrten ihn von der Couch. Klaus, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, begann sich zu wehren und schlug wild um sich. Daraufhin warfen ihn die Schutzleute auf den Teppich, verschränkten seine Arme hinter dem Rücken und legten ihm Handschellen an. Laut fluchend und zappelnd wurde Klaus aus dem Haus eskortiert. Auf dem Bürgersteig hatten sich bereits ein paar neugierige Nachbarn versammelt. »Was bist du für ein blöder Idiot«, zischte ich. Hedwig blieb im Wohnzimmer und zog die Vorhänge zu. Ihr war die Szene peinlich.
»Was soll ich bloß unternehmen, Henning?«, fragte sie mich zehn Minuten später, als sich der Spuk aufgelöst hatte. »Keine Ahnung. Ihr liebt euch doch. Also musst du diese Kröte wahrscheinlich schlucken.« »Nein, ich liebe dieses egoistische Arschloch schon seit vielen Jahren nicht mehr«, schrie sie nahezu hysterisch. »Warum seid ihr dann immer noch zusammen?« »Weil wir nicht voneinander loskommen.« Hedwig sprang vom Stuhl auf, knallte die Tür zu und lief in den Nachbarraum, wo ich sie hemmungslos schluchzen hörte. »Morgen wechsele ich die Schlösser aus und sage ihm, er soll sich eine eigene Bude suchen. Mir reicht es ein für allemal«, redete sie laut. Vermutlich telefonierte sie mit einer Freundin. Nachdenklich zündete ich mir eine Zigarette an, ging zu meinem klapprigen Golf 2 und fuhr langsam zurück nach Hause.
Die schwerst co-abhängige Ehefrau
Es handelte sich also um Co-Abhängigkeit. Dass ich nicht sofort auf diesen Gedanken gekommen war. Ich kannte dieses Phänomen bisher einzig von Paaren, bei denen beide soffen. Von einem Kranken und einer Gesunden hatte ich das jedoch bis heute nicht erfahren. Auf welche Weise setzte Klaus seine Frau derart unter Druck, dass die sich nicht traute, die Scheidung einzureichen; ihn zumindest aus dem Haus rauszuwerfen? Meine Ex-Freundinnen hatten mich jedes Mal nach dem ersten Absturz vor die Tür gesetzt oder mir eine zweizeilige SMS geschickt, dass sie auf das Zusammensein mit einem Alkoholiker keine Lust verspürten. Dafür sei ihnen ihr Leben zu schade. So weh mir das im Einzelfall auch tat: verstehen konnte ich sie. Deshalb zog ich es seit drei Jahren vor, alleine zu bleiben. Anfangs etwas schwierig, nach einigen Wochen gewöhnte ich mich daran. Reine Kopfsache.
Klaus war seit zehn Jahren impotent. Angeblich wegen einer irreparablen Verkrümmung des Urogenitaltrakts. Hatte er mir beim letzten Mal in der Klinik unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt. Da Dante mir die Story bereits berichtet hatte, konnte die Sache nicht ganz so vertraulich sein, wie Klaus mich glauben machen wollte. Dante meinte dazu, dass Klaus deswegen keinen mehr hochkriegen würde, weil er zu viel gesoffen hätte. Ihm und vielen anderen ginge es genauso. Mir lief es heiß und kalt den Rücken runter. Auch bei mir stellte ich seit einiger Zeit einen drastischen Rückgang meines Verlangens nach Sex fest. Hatte mir jedoch über die Ursachen bisher keine großen Gedanken gemacht. Sobald ich hier raus bin, verbringe ich eine Nacht im Puff und teste meine Funktionsfähigkeit, nahm ich mir vor. Erektionsschwäche hätte mir zu all meinen Geld- und Beziehungsproblemen gerade noch gefehlt. Ist ein guter Grund, um endgültig einen Schlussstrich unter die Scheißtrinkerei zu ziehen, überlegte ich grimmig.
Und trotzdem blieb Hedwig bei ihm. Weshalb? Es gelang mir beim besten Willen nicht, mir darauf einen Reim zu machen. Anstatt mit Kindern umgab sich das Paar mit Tieren: Riesenköter, fünf Katzen, Karnickel, ein Pferd. Die Liebe Hedwigs galt den Viechern, die sie nach Strich und Faden verwöhnte, und Klaus konzentrierte sich in den Wochen, in denen er trocken blieb, auf Geldverdienen und die Optimierung seiner persönlichen Finanzen. Als gebürtigem Schwaben waren ihm Zinsrechnung und doppelte Buchführung in die Wiege gelegt worden.
Vor einer Woche klingelte mein Telefon erneut. Am anderen Ende der Leitung stotterte eine aufgeregte Hedwig: »Henning, ka… kannst du bitte vorbeikommen. Klaus liegt hier schon wieder betrunken rum und kann sich kaum noch rühren.« »Seit wann ist der denn aus der Klinik draußen?« »Sie haben ihn nur eine Nacht behalten.« »Nicht länger? Das darf doch nicht wahr sein.« »Er hat mit einem Anwalt gedroht, wenn sie ihn gegen seinen Willen festsetzen. Dann haben sie ihn zähneknirschend rausgelassen.« »Was für ein Drecksack. Er hätte ja freiwillig drinbleiben können.« »Wollte er partout nicht.« »Und du hast die Schlösser nicht ausgetauscht?« »Nein. Habe ich nicht übers Herz gebracht. Er hat nach seiner Rückkehr furchtbar getobt, weil ich so überreagiert hätte. Mit dir dürfte ich nicht mehr reden, weil du ihn an die Polizei verraten hast.« »Solche wirren Sätze aus dem Munde eines Sparkassenangestellten. Man glaubt es kaum. Ich bin in einer Stunde bei euch.«
Seit Tagen komatös auf dem Sofa
Klaus glotzte mich aus blöden Augen an und murmelte: »Verpiss dich, du Hurensohn! Ich komme bestens alleine klar.« »Das sehe ich. Soll ich dich in die Klinik begleiten oder mitsamt deinem Sofa in den Vorgarten stellen?« »Nein!« »Wir können an der nächsten Tankstelle anhalten und dir einen Flachmann besorgen, damit du die Fahrt überstehst. Ist das ein faires Angebot?« »Nein!« »Wieder das Spiel mit den Polypen?« »Nein!« Jetzt war es Hedwig, die mir ins Wort fiel. »Ich ertrage es nicht, wenn die ganze Straße gafft und über uns tuschelt. Auf keinen Fall Blaulicht vor der Haustüre.« »Wie du meinst.« Ich drehte meine Handflächen nach oben. »Noch atmet der Patient. So schlimm kann es also nicht sein. Wenn er es sich anders überlegen sollte, gib mir Bescheid. Ich organisiere dann den Transport.« Hedwigs Anrufe bei mir wiederholten sich jetzt im Abstand von vierundzwanzig Stunden. Jedes Mal dasselbe: »Ich weiß nicht mehr weiter. Bitte überzeuge du Klaus, endlich zur Vernunft zu kommen.« Abends auf dem Rückweg vom Job machte ich nun einen Umweg und fuhr in den Nordteil der Stadt, um Klaus ins Gewissen zu reden und ihn weich zu kochen. Sein Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag. »Was sagt der Arzt dazu?«, erkundigte ich mich bei Hedwig. »Der hat mir erklärt, dass man niemanden daran hindern kann, sich tot zu saufen.« »Da hat er recht, der Herr Doktor. Aber wenn man sich unbedingt umbringen will, dann alleine im Wald und nicht vor den Augen der Ehefrau. Verstehst du das, Klaus? Du dämlicher Vollidiot.« Klaus stierte mich hasserfüllt an, brachte aber kein Wort über die Lippen. »Klaus, wir geben dir hundert Euro und du verlässt das Haus. Ist das in Ordnung für dich?« Er schüttelte trotzig den Kopf. »Hedwig, ich komme morgen wieder. Hat heute keinen Zweck mit dem Schwachmaten.«
Am nächsten Abend röchelte Klaus. »Was ist mit ihm los?«, wollte ich wissen. »Er hat Spiritus getrunken.« »Warum? Ist ihm der Schnaps ausgegangen?« »Ich habe vier Flaschen Doppelkorn vor seinen Augen ins Klo gekippt.« »Und dann?« »Ist er ausgerastet und hat versucht, mich zu schlagen.« »Scheiße!« Klaus stellte für mich den Prototypen des gemütlichen Angestellten dar. Nur mit Mühe gelang es mir, ihn mit Gewaltausbrüchen in Verbindung zu bringen. Wobei seine Augen bereits in den vergangenen Tagen blutrünstig geflackert hatten. »Ich habe mich im Keller versteckt und ihn schreien hören, dass er sich jetzt mit dem Spiritus umbringen wird. Die Schuld dafür würde ich tragen.« »Tja, das ist die verquere Logik eines Säufergehirns. Musst du nicht ernst nehmen. Klaut er?« »Wie kommst du darauf?« »Weil du als besorgte Ehefrau ihm vermutlich alles Geld abgenommen hast. In der Hoffnung, er würde demütig werden, wenn ihm die Vorräte ausgehen.« »Stimmt. Gestern haben sie ihn bei Edeka erwischt, als er zwei Pullen Wodka einstecken wollte.« »Und nicht der Polizei übergeben?« »Nein. Nur ein Hausverbot erteilt. Sogar die Flaschen durfte er behalten. Die haben sich wahrscheinlich davor geekelt, ihn anzufassen.« »Da hast du ja mal wieder Schwein gehabt, du übler Schmarotzer. Eine Nacht in der Ausnüchterungszelle hätte dir gut getan. Da würdest du endlich zur Besinnung kommen.« Klaus wandte sich von mir ab, drehte mir den Rücken zu und tat so, als ob er spontan eingeschlafen wäre. »Bis morgen bereitest du alles vor, Hedwig. Notarzt und Polizei. Die sollen für ihn einen Beschluss bewirken. Minimum drei Wochen. Vorher darf er die Station auf keinen Fall wieder verlassen.«
Ein Treppensturz mit Folgen
»Er riecht komisch. Eine Mischung aus Pisse und Eukalyptus. Was ist das?« »Dieses Zeug hier.« Hedwig hielt mir eine grüne Plastikflasche vors Gesicht. »Einreibelotion für Pferde. Enthält zwölf Prozent Alkohol«, entzifferte ich. »Die trinkt er?« Mann, was musste Klaus für mordsmäßigen Saufdruck verspüren, dass er solch einen Dreck runterwürgte. »Nicht nur das. Er war mittlerweile am Desinfektionsmittel und dem Putzzeug dran.« »Der würde seinen eigenen Urin saufen, wenn er da Spuren von Wodka drin vermuten würde.« »Bring ihn bloß nicht auf dumme Gedanken.« »Klaus. Steh auf!« Ich rüttelte an seinen Schultern, um ihn aufzuwecken. Keinerlei Reaktion. »Ob er bereits im Delirium ist?« »Glaube ich nicht. Das sieht anders aus. Vielleicht besser, wenn er pennt. Ansonsten kommt er vielleicht auf blöde Ideen, bevor die Polizei eintrifft.« »Ich will nicht, dass die Bullen mich abholen. Zum Teufel mit euch.« Klaus hatte unsere Worte doch belauscht und war nun munter geworden. »Hättest du dir vorher überlegen sollen, du hoffnungsloser Spritkopf. Jetzt ist es zu spät. Du kannst ja trotzdem freiwillig in den Rettungswagen steigen. Wäre uns allen am liebsten.« »Niemand vertreibt mich aus meinem Haus.« »Das dir gar nicht gehört, sondern deiner Frau. Wenn du zurückkommst, wird sie die Schlösser ausgetauscht haben. Damit du endlich lernst, für dich selbst zu sorgen.« »Du dummes Flittchen.« Mit einer Behändigkeit, die ich Klaus gar nicht zugetraut hatte, sprang er vom Sofa auf und stürzte auf Hedwig zu. Die machte reaktionsschnell einen Schritt zur Seite, er lief ins Leere, geriet ins Torkeln und prallte mit dem Gesicht gegen die Wand. »Henning, tu doch was!« In Hedwig kam schon wieder der Mutterinstinkt zum Vorschein. Es fehlte nicht viel, und sie hätte die Arme um ihren Mann gelegt und ihn getröstet.
Ich warf mich auf Klaus, riss ihn zu Boden und nahm ihn in den Schwitzkasten. »Du willst es wirklich nur auf die harte Tour verstehen, oder?« »Nein, nein. Lass mich bitte los. Ich werde lieb sein. Ich versprech’s.« Er wimmerte wie ein kleines Mädchen. Einen Moment lang schämte ich mich für Klaus und befreite ihn aus meinem Würgegriff, ließ ihn aber auf dem Teppich liegen. »Wann wird der Arzt hier sein?«, fragte ich Hedwig. »In circa zehn Minuten.« »Zusammen mit den Bullen?« »Ja.«
Derweil krabbelte Klaus auf allen vieren durchs Wohnzimmer in Richtung Flur. »Wo will er hin?« »Vermutlich sucht er ein Versteck.« »Von mir aus. Weit wird er in dem Tempo nicht kommen.« Am Esstisch, der ihm den Weg versperrte, zog Klaus sich mühsam nach oben, bis er nach dreißig Sekunden endlich auf seinen gallertartigen Beinen stand. »Mach jetzt keinen Blödsinn«, warnte ich ihn vorsichtshalber, denn ich hatte in den vergangenen Jahren eine Menge Irrsinn von Wodka-Junkies erlebt. Mit dem letzten Tropfen der ihm verbliebenen Kraftreserven rannte er los zur Haustüre, um in der Dunkelheit der Nacht zu verschwinden. Hedwig, die in diesem Augenblick aus der Küche zurückkehrte und ihrem Mann unversehens entgegenkam, stellte ihm reflexartig ein Bein, um ihn an der Flucht zu hindern. Klaus kippte wie ein nasser Sack seitlich weg in den geöffneten Kellereingang hinein und von dort aus die steile Treppe abwärts. Von unten vernahm ich das hässliche Geräusch splitternder Knochen und einen langgezogenen Klagelaut. Danach herrschte gespenstische Stille. Ich lief die Stufen hinab, während sich Hedwig erschrocken die Hand vor den Mund hielt.
Und am Schluss ne traurige Beerdigung
»Wenn sie mich nun wegen Totschlags verhaften?« »Ach was; das war ein Malheur, als Klaus über dich gestolpert ist.« »Ob das ein Staatsanwalt ebenfalls so sehen würde? Ich möchte bei all dem Schlamassel nicht auch noch angezeigt werden.« »Kann ich nachvollziehen.« »Ich fühle mich total mies. Was mache ich jetzt bloß?« »Gib mir mal das Pferdezeug und Gummihandschuhe.« »Hier. Wozu brauchst du das?« »Wirst du gleich verstehen.« Ich streifte mir die Handschuhe über schüttete den Rest der etwas öligen Flüssigkeit auf die Schwelle der Kellertür. Danach ließ ich mir von Hedwig ein Paar von Klaus Pantoffeln geben und fuhr mit dem linken durch die Pfütze. Im Keller zog ich dem Toten einen Schlappen an den linken Fuß und platzierte den zweiten verkehrt herum zwei Stufen über ihm. Dann drückte ich ihm die grüne Flasche in die rechte Hand. »Jetzt sieht es so aus, als wäre er in seiner Gier und der Suche nach weiterem Spiritus in der Soße, die er selbst verkleckert hat, ausgerutscht.« »Meinst du, die Kripo glaubt uns das?« »Warum nicht? Habe schon von blöderen Todesursachen gelesen.« Ich pellte die Gummiteile von meinen Unterarmen und verstaute sie in der Jackentasche. Gerade noch rechtzeitig. In der Haustür tauchten zwei junge Polizisten und der Notarzt auf. »Kommen Sie schnell. Es ist ein furchtbarer Unfall passiert«, empfing Hedwig völlig aufgelöst die Beamten. Ich spazierte in die Küche, zündete mir eine Zigarette an und versuchte, die komplizierte Kaffeemaschine in Gang zu bringen.
Eine Woche später – an einem nasskalten Gründonnerstag – beerdigten wir Klaus. Es war eine kleine Feier. Außer drei Kollegen, vier Familienangehörigen und zwei Patienten aus der Klinik hatte niemand den Weg auf den Friedhof gefunden.
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