3. Oktober – brauchen wir den?

Der Tag der Deutschen Einheit ist mittlerweile in die Liga der Mitnahme-Feiertage abgestiegen = lange schlafen und auf dem Sofa lümmeln statt Fähnchen schwenken oder sich gar besonders patriotisch fühlen. Kolumne von Henning Hirsch

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„Wir sehen uns am Dienstag wieder“, sage ich vergangenen Freitagnachmittag zu einem Bürokollegen.
„Warum am Dienstag? Hast du Montag Urlaub?“, fragt er.
„Montag ist ein Feiertag.“
„Welcher denn?“
„Tag der Einheit.“
„Ach, dieser Feiertag ist am Montag. Prima, da kann ich länger im Bett bleiben und nach dem Frühstück 2 neue IKEA-Regale aufbauen … dann sehen wir uns am Dienstag wieder.“

Nun ist dieses kleine Bürogespräch sicher nicht repräsentativ für den Wissensstand des Durchschnittsbürgers; es spiegelt jedoch anekdotisch ganz gut wider, welchen Stellenwert der 3. Oktober bei vielen Deutschen heutzutage besitzt: Er ist auf den Status eines Mitnahme-Feiertags abgesunken. Vergleichbar mit Pfingstmontag, Fronleichnam, dem 1. Mai oder dem 1. November. Kaum ein Mensch weiß so ganz genau, was an diesen Tagen eigentlich gefeiert wird, aber es ist trotzdem schön, dass die Daten im Kalender stehen, weil wir da länger schlafen und IKEA-Regale zusammenschrauben können.

Aufbruchstimmung lange verflogen

Die Aufbruchstimmung, die anfangs herrschte und die der zum Feiertag erklärte 3. Oktober eindrucksvoll nach innen und außen demonstrieren sollte, ist mittlerweile komplett verflogen. Galt es in den 90-er Jahren noch als aufregend, dass etwas völlig Unerwartetes geschehen war, freuten sich West & Ost gleichermaßen darüber, wieder vereint zu sein, so herrscht heute ermüdendes Verteilungskleinklein vor: Wer bekommt wie viel aus dem Steuerkuchen überwiesen? Wohin sollen die Transfermilliarden fließen? Es ist auch keine patriotische Begeisterung wie am 4. Juli in den USA oder zehn Tage später in Frankreich an deren nahezu heiligen Nationalfeiertagen zu spüren. Stattdessen beschränken wir uns auf lokale folkloristische Events, die jedes Jahr von Bundesland zu Bundesland wandern und bekommen eine – in weiten Teilen stets gleichlautende – Rede unseres Präsidenten (oder Kanzlers oder BT-Präsidenten oder wer auch immer vom politischen Spitzepersonal dafür gerade Zeit und Muße hat) vorgesetzt. Damit erreicht man schätzungsweise 5 Prozent der Bürger. Der Rest der Bevölkerung schläft am 3. Oktober etwas länger und schraubt nach dem Frühstück 2 IKEA-Regale zusammen. Man kann es positiv als neudeutsche Unaufgeregtheit oder negativ mit Feiertags-Lethargie umschreiben.

Fürs Aufkommen bzw. Nicht-Aufkommen einer flächendeckeckenden Euphorie kommt erschwerend hinzu, dass Ost & West seit der Jahrtausendwende emotional eher auseinander driften als näher zusammenzufinden. Die Unzufriedenheit des Ostens mit der deutschen Demokratie wächst von Jahr zu Jahr. Der aktuelle Jahresbericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung liefert niederschmetternde Ergebnisse: Nur 39 Prozent der Menschen im Osten haben Vertrauen in unsere Demokratie. 2020 waren es noch 48% gewesen. Zwar sind die entsprechenden Werte im Westen ebenfalls nicht berauschend; jedoch liegen sie deutlich höher als jenseits der Elbe. Nur noch ein Viertel der Menschen im Osten ist mit der sozialen Gerechtigkeit glücklich. Oha!, denke ich. Da fehlt nur noch ein Funken und das Ganze fliegt uns um die Ohren. Fleißig marschieren tun sie ja schon wieder in Dresden, Leipzig, Ostberlin und in zahlreichen Provinznestern in Sachsen & Co. Die wiederbelebten Montagsdemonstrationen wurden allerdings längst gekapert von Pegidisten und Querfrontlern. Statt „Wir wollen höhere Löhne!“ skandieren die sogenannten Spaziergänger Sprüche wie: „Weg mit den Russlandsanktionen!“, „Verhandlungen jetzt!“, „Raus aus der NATO!“. Der Bocksgesang des im Osten viel stärker als im Westen verwurzelten Antiamerikanismus schwillt zunehmend an.

Nun mag es durchaus Gründe geben, weshalb der Osten frustriert ist. Geringeres Lohnniveau, weniger Rente im Alter, zu viele Westimporte an den Schaltstellen von Wirtschaft & Verwaltung, Braindrain, ganze Landstriche sind entvölkert. Allerdings liegt die Bruttowertschöpfung in den neuen Ländern deutlich unterhalb der im Westen, woraus dann logischerweise geringere Löhne und Renten resultieren. Kann man Scheiße finden; man sollte dann aber erst mal an der Verbesserung der Wertschöpfung arbeiten, anstatt über – häufig eingebildete – Ungerechtigkeiten zu lamentieren.

Die Treuhand ist an allem schuld

Und natürlich ist nach wie vor die Treuhandanstalt an allem schuld. Die hätte der (angeblich) intakten DDR-Wirtschaft den Garaus gemacht. Zur Erinnerung: Die THA war Anfang der 90-er Jahre die Behörde (übrigens von der letzten DDR-Regierung ins Leben gerufen), die mit vielen Milliarden (westlicher) Steuergelder die maroden Ostbetriebe aufgepimpt und dann an Investoren (die ebenfalls aus dem Osten stammen konnten. Stichwort: MBO/Management-buy-out) „verkauft“ hat. Verkauft deshalb in Anführungszeichen, weil es sich dabei zum weit überwiegenden Teil um Zuschussgeschäfte handelte. Oft lag der Verkaufspreis bei 1 symbolischen Mark – vorher war allerdings ne Menge Kohle in die Sanierung bzw. Fit-für-den-Markt-Machung des Verkaufsobjektes geflossen–; wofür der Erwerber im Gegenzug bloß in eine mehrjährige Beschäftigungsgarantie einzuwilligen brauchte. Dass dabei mitunter Fehler (Bonität der Investoren nicht ausreichend geprüft, schwarze Schafe in der Treuhand) unterliefen – geschenkt. War/ist eine Sache der statistischen Wahrscheinlichkeit, dass bei einer großen Menge Transaktionen auch ein paar schiefgelaufene darunter sind.

Was wären die Alternativen gewesen? Tausende völlig heterogene Betriebe jahrelang unter staatlicher Obhut belassen? Die Angelegenheit aussitzen und in Ruhe abwarten, bis die Ost-Unternehmen alle pleite sind? Oder aber – Möglichkeit 3 – die Währungsunion hinauszögern und so die Wettbewerbsfähigkeit auf den früheren Comecon-Märkten eine Zeit lang sicherstellen? Da aber der gesamte Osten die SCHNELLE Einführung der D-Mark forderte, wurde sie schnell eingeführt. Dass aus der Übernahme der D-Mark unweigerlich der Zusammenbruch der maroden DDR-Ökonomie resultierte – das wurde 1990 von einigen Experten klar vorhergesehen. Deren Warnungen wollte aber niemand wahrhaben. Und so trat die Treuhand in Aktion, die versuchte, den harten Transformationsprozess von der Plan- in die Marktwirtschaft einigermaßen abzufedern. Im Großen und Ganzen hat die Behörde diesen Job gut gemacht.

Hatte Lafontaine doch recht?

Statt die Sache zu nehmen, wie sie ist und sich zu freuen, dass man heute in einem freien Land und materiell weit besser ausgestattet als vor 1989 lebt, wird stattdessen lieber über gebrochene Lebensläufe und (eingebildete) Unfreiheit geklagt. Kann man tun; jedoch darf man sich dann nicht wundern, dass mancher Westler (bspw. der Autor dieses Textes) dieser Jammerei irgendwann überdrüssig wird und sich ab und an fragt, weshalb wir 1990 nicht auf Oskar Lafontaine gehört haben, der auf die ökonomischen Risiken der Turbogeschwindigkeit-Vereinigung hinwies und stattdessen die Lösung „2 Staaten auf deutschem Boden, die sich schrittweise annähern“ propagierte. Was wir damals alle unterschätzten, ist der Umstand, wie zäh der Prozess vonstattengeht, bis Menschen, denen 56 Jahre lang bloß Diktatur bekannt war, sich von einem staatlich großenteils durchgeplanten an ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben umgewöhnen. Das scheint im Zeitlauf 1 Generation nicht möglich zu sein. Weshalb also weiterhin Geduld gefragt ist. Denn rückgängig können wir die Sache nicht mehr machen. Jetzt gilt die Devise: Augen zu und irgendwie durch.

Während ich in den 90-er Jahren hinsichtlich Wiedervereinigung ein Optimist war, von der raschen Verschmelzung beider Welten felsenfest überzeugt , bin ich mittlerweile ins Lager der Pessimisten übergewechselt: Einen zufriedenen Osten werde ich zu meinen Lebzeiten nicht mehr erleben. Man kann diesbezüglich schon froh sein, wenn bei einer Landtagswahl die AfD nur zweitstärkste Kraft wird und die „Spaziergänger“ halbwegs friedlich bleiben, während sie Querfront-Parolen grölen.

Ich werde den 3. Oktober deshalb so begehen wie in den vorherigen Jahren: länger schlafen und nach dem Frühstück eine Kolumne (diese hier) tippen. Manchmal denke ich, an einem dritten Weihnachtsfeiertag hätten wir mehr Freude als von diesem blutleeren Tag der Einheit.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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