Die NATO – Stärker als Russland?

Militärisch sei die NATO sei viel stärker als Russland, wird oft argumentiert. Aber reicht das für Europa, um sich sicher zu fühlen?

NATO-Draht Verteidigung

Kritiker der derzeitigen europäischen Verteidigungspolitik argumentieren gern mit der vermeintlichen militärischen Überlegenheit der NATO gegenüber Russland. Tatsächlich ist es so, dass die NATO, egal welche Kennzahl man nimmt, deutlich stärker dasteht. So hat das westliche Militärbündnis mehr als drei Mal so viele aktive Soldaten wie Russland, und auch bei vielen weiteren Zahlen übertrifft die NATO Russland jeweils um das Mehrfache. Auch wenn man naheliegenderweise die USA einmal aus der Rechnung herausnimmt, bleiben die NATO-Staaten den russischen Truppen weit überlegen.

Heißt das, dass all die Ausgaben für neue Rüstungsprojekte sowie die Verstärkung des Personals der Streitkräfte in Europa gar nicht nötig sind und tatsächlich nur von Kriegstreiberei und der Macht der Rüstungskonzerne zeugen?

Was ist Verteidigungsfähigkeit?

Verteidigungsfähigkeit besteht allerdings nicht nur in einer rechnerischen Überzahl an Soldaten und Gerät. Die Frage ist, in welchem Umfang sich Soldaten, Flugzeuge, Panzer, Schiffe und andere Waffen an einer konkreten Stelle eines möglichen Angriffs tatsächlich mobilisieren lassen. Um diese Frage zu beantworten, muss man bedenken, dass die NATO keineswegs ein straff organisiertes und geführtes Militärbündnis ist, im Gegensatz etwa zu den russischen Streitkräften. Zwar haben sich die Mitglieder mit Artikel 5 des NATO-Vertrages verpflichtet, jeden Angriff auf ein Mitgliedsland als einen Angriff auf alle zu betrachten, aber Artikel 5 sagt auch, dass jeder Staat für sich entscheidet, welche Mittel und Kräfte er für die Verteidigung im konkreten Fall bereitstellen will. Das heißt, es stehen keineswegs alle Streitkräfte und Waffensysteme zur Verfügung, nicht nur aus logistischen Gründen, sondern weil jedes Land erst einmal bereit sein muss, seine Truppen im konkreten Fall zum Einsatz zu bringen. Würde Russland etwa im Baltikum die Grenze der NATO überschreiten, wäre sehr fraglich, ob sich etwa die Türkei oder Ungarn an der Verteidigung von Estland oder Litauen beteiligen würden. Und gerade die Türkei hat an der militärischen Stärke der NATO wiederum einen bedeutenden Anteil.

Neben der politischen Frage der Bereitstellung von Truppen und Gerät spielen natürlich auch die logistischen Möglichkeiten eine große Rolle. Selbstverständlich kann auch Russland nicht alle seine Truppen, etwa aus den fernen Osten, kurzfristig an der Grenze zu einem NATO-Staat zusammenziehen. Ein Blick auf die Karte zeigt aber, dass es für Putins Streitkräfte viel einfacher ist, an der Grenze zum Baltikum aufzumarschieren, als es für die NATO möglich ist, dort zu verteidigen. Natürlich ist es denkbar, dass die NATO sich in einem solchen Fall zu Gegenangriffen an anderen Grenzabschnitten entschließt, das wiederum würde aber voraussetzen, dass die betreffenden NATO-Mitglieder, die Grenzen zu Russland haben, bereit wären, ihr Territorium für einen solchen Angriff zur Verfügung zu stellen.

Insofern stellt sich nicht die Frage, ob die NATO allgemein ausreichend Waffen und Soldaten hat, sondern ob die Länder, die bereit und in der Lage sind, auf einen Angriff zu reagieren, diese Ressourcen haben.

Russland steht nicht allein da

Überhaupt muss man natürlich die Frage stellen, ob die Gegenüberstellung Russland-NATO nicht in die Irre führt. Denn Russland steht ja keineswegs allein da, auch wenn es derzeit kein festes Militärbündnis gibt, in dem Russland die führende Kraft wäre. Aber es hat militärische Partner, und die Bereitschaft dieser Partner, in einem Konflikt mit der NATO an der Seite Russlands zu stehen, ist vielleicht größer als die mancher NATO-Mitglieder, sich bei der Verteidigung des Baltikums, Finnlands oder Polens zu engagieren. Da wäre natürlich zuerst der feste Verbündete Belorus zu nennen, sodann Nordkorea, das schon Truppen in den Ukraine-Krieg geschickt hat. Unter den ehemaligen Sowjetrepubliken sind vor allem Kasachstan und Turmenistan zu nennen. Auch in Europa hat Putin Verbündete, etwa Serbien sowie bosnische Separatisten, und selbst bei NATO-Mitgliedern wie Ungarn und der Slowakei kann man bekanntlich nicht sicher sein, auf welcher Seite sie im Konfliktfall stünden. Auch wenn ihre militärische Kraft vergleichsweise gering ist, könnten sie die politische und militärischen Entscheidungsfähigkeit der NATO im Ernstfall schwächen.

Die globale Perspektive

Bei der Militärparade 2025 zum Tag des Sieges in Moskau marschierten neben turkmenischen Einheiten auch Soldaten aus Laos. Auch Vietnam zählt zu den festen Verbündeten, dazu weitere asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Staaten.

Nun kann man einwenden, dass die aber im Falle einer militärischen Eskalation etwa im Baltikum oder an der finnischen Grenze sehr weit weg wären – obwohl andererseits eben nordkoreanische Soldaten schon beim Angriff gegen die Ukraine zum Einsatz kamen. Der Blick auf diese weltweiten Verbündeten bringt aber zugleich die globale Perspektive ins Spiel. Und da sind natürlich vor allem China und Indien zu berücksichtigen. Wenn man sich fragt, ob die NATO, insbesondere ihr europäischer Teil, auch langfristig militärisch stark genug ist, sich zu verteidigen, muss man nicht nur auf die Grenze zu Russland schauen. Was, wenn es zu einer globalen Zuspitzung der Konfrontationen kommt? Ist Europa stark genug, um ein Bündnis, das von Russland und China angeführt wird und in dem ehemalige Sowjetrepubliken und frühere „sozialistische Staaten“ wie Vietnam, Kuba und Nicaragua, zudem womöglich Südafrika, Ägypten und Indien militärische Unterstützung bereitstellen würden, von einem Angriff abzuschrecken?

Das mag nach einer weit entfernten Dystopie klingen, aber wenn man fragt, was die europäischen Länder heute für ihre Verteidigungsfähigkeit und ihre militärische Sicherheit tun müssen, dann mus man auch solche Szenarien betrachten. Eine rechnerische militärische Überlegenheit der NATO gegenüber Russland mag kurzfristig beruhigend klingen. Fragt man aber, wie sicher der Kern des Bündnisses, die Länder, die tatsächlich bereit sind, füreinander einzustehen, gegen die mittel- und langfristigen Bedrohungen ist, die sich abzeichnen, dann sieht die Lage anders aus. Und dann wird schnell klar, dass es für dieses Europa notwendig ist, in Verteidigungsfähigkeit zu investieren, um auf für die nächsten Jahrzehnte die Freiheit zu sichern, die uns über Jahrzehnte so selbstverständlich geworden ist.

 

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