Die Richtlinienkompetenz des Kanzlers

Über den Inhalt und die praktische Bedeutung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers herrscht vielfach Unkenntnis. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


In seiner Kolumne vom Freitag schreibt Jörg Friedrich:

Das Grundgesetz kennt die Begriffe Opposition und Koalition in Bezug auf die Parlamentsarbeit nicht. Es kennt nur die einzelnen Abgeordneten, die nur ihrem Gewissen verpflichtet und an Weisungen nicht gebunden sind. Trotzdem ist die Absurdität, zu der es immer wieder kommt und die uns in dieser Legislaturperiode wohl noch öfter begegnen wird, schon durch das Grundgesetz vorprogrammiert. Es beinhaltet auf der einen Seite den Satz, dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt. Mit Bezug auf die Rentenpolitik würde das heißen, dass er festlegt, wie das Rentensystem in Zukunft funktionieren soll. Das kann er aber nur, wenn er das Parlament, das die nötigen Gesetze „beschließen“ soll, unter Kontrolle hat. Und das wiederum funktioniert eben nur mit einer disziplinierten Koalition.

Ja nun. Gesetze benötigen nun einmal eine Mehrheit im Parlament und die muss ja irgendwie vorbereitet werden. Es ist also nichts Ungewöhnliches, wenn der Bundeskanzler sich um eine Mehrheit im Parlament bemühen muss. Die „Richtlinienkompetenz“ nutzt ihm dabei aber nur sehr wenig.

Aber schauen wir uns erst mal diesen Begriff an:

Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers

Die deutsche Regierungsordnung nach dem Grundgesetz sieht eine besondere Stellung für den Bundeskanzler vor. Zentraler Ausdruck dieser Rolle ist die Richtlinienkompetenz, verankert in Art. 65 GG, wonach „der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt und dafür die Verantwortung trägt“. Dieses Prinzip macht den Kanzler zum politischen Leithammel der Bundesregierung. Doch die konkrete Ausgestaltung dieser Kompetenz, ihre Grenzen und ihre Auswirkungen auf den Gesetzgebungsprozess sind komplex und vielfach umstritten.

Inhalt und Funktion der Richtlinienkompetenz

Die Richtlinienkompetenz soll die Bundesregierung handlungsfähig machen. In einem Kabinett mit mehreren autonomen Ministerien sichert sie eine politische Gesamtsteuerung und verhindert, dass Ressortegoismen dominieren. Sie erlaubt dem Kanzler, übergeordnete politische Linien vorzugeben, etwa in der Außen-, Wirtschafts- oder Sozialpolitik. Gleichzeitig bleibt die operative Umsetzung Sache der jeweiligen Minister, entsprechend dem Ressortprinzip.

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In der politischen Praxis wird die Richtlinienkompetenz jedoch äußerst selten autoritativ ausgeübt. Und stellt schon deshalb keine ernsthafte Gefahr dar. Ein Kanzler, der alle Nase lang den dicken Willem macht, würde schnell alleine da stehen. Kanzlerinnen und Kanzler versuchen in der Regel, bestehende Konflikte durch Koordination und Konsens in Koalitionsrunden oder Kabinettssitzungen zu lösen. Die Richtlinienkompetenz wirkt daher oft mehr als Hintergrundmusik, als latentes Machtmittel, das den Kanzler in Verhandlungen stärkt.

Probleme und Grenzen der Richtlinienkompetenz

Trotz der vermeintlich starken Stellung ist die Richtlinienkompetenz nicht grenzenlos. Einige strukturelle und politische Probleme treten regelmäßig auf:

Koalitionsabhängigkeit

Die meisten Bundesregierungen sind Koalitionsregierungen, da so gut wie nie mal eine absolute Mehrheit einer Partei im Bundestag erreicht wird. Dadurch wird die Richtlinienkompetenz schon politisch eingeschränkt: Der Koalitionsvertrag und die Machtbalance zwischen den Parteien begrenzen, welche „Richtlinien“ der Kanzler überhaupt durchsetzen kann. Ein Kanzler, der die Koalitionspartner übergeht, riskiert deren Widerstand und im Extremfall den Bruch der Regierung.

Ressortautonomie

Die Minister sind nach Art. 65 GG innerhalb ihres Geschäftsbereichs eigenverantwortlich. Ein Kanzler kann zwar Leitlinien formulieren, aber im Detail nicht in jedes ministerielle Handeln eingreifen. Wenn ein Minister politisch stark oder beliebt ist – oder einem Koalitionspartner angehört –, kann er sich der Richtlinienkompetenz de facto problemlos entziehen. Dann müsster der Kanzler ihn rausschmeißen, was einem politischen Suizid gleichkäme.

Politische Rückkopplung an Partei und Parlament

Der Kanzler ist häufig nicht nur Regierungs-, sondern auch Parteiführer. Innerparteiliche Konflikte, Fraktionsdisziplin oder Abweichler begrenzen seine Fähigkeit, politische Leitlinien ohne Rücksichtnahme durchzusetzen. Die Richtlinienkompetenz hat also eine zwar verfassungsrechtlich klare, aber politisch fragile Grundlage.

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Der Einfluss des Bundeskanzlers auf den Gesetzgebungsprozess

Im Gesetzgebungsprozess selbst besitzt der Kanzler keine formale Sonderkompetenz. Formal werden Gesetze von Bundestag und Bundesrat beschlossen. Doch der Kanzler übt wesentlichen informellen und organisatorischen Einfluss aus, der den Prozess entscheidend prägt.

a) Agenda-Setting

Der Kanzler entscheidet maßgeblich, welche politischen Projekte prioritär behandelt werden. Über Koalitionsabsprachen, Kabinettssitzungen und Regierungsprogramme beeinflusst er, welche Gesetzesinitiativen überhaupt entstehen. Natürlich können Gesetzentwürfe auch aus dem Parlament eingebracht werden, aber aus mir unerfindlichen Gründen ist das Parlament da nicht besonders aktiv.

b) Steuerung über die Bundesregierung

Gesetzentwürfe der Bundesregierung werden in der Regel von den Ministerien ausgearbeitet. Als „Regierungschef“ kann der Kanzler die Richtung vorgeben, Konflikte zwischen Ministerien schlichten und durch seinen Stab (insbesondere das Bundeskanzleramt) inhaltliche Anpassungen verlangen. Auch wenn die Kompetenz formal nicht im Grundgesetz steht, wirkt die Richtlinienkompetenz hier indirekt.

c) Informelle Macht im Bundestag

Der Bundeskanzler führt in der Regel die stärkste Bundestagsfraktion oder die Regierungskoalition an. Über Fraktionsdisziplin, Koalitionsgremien und politische Autorität übt er erheblichen Einfluss auf die parlamentarische Abstimmungspraxis aus. Dieser Einfluss ist jedoch politisch und nicht rechtlich legitimiert. Es ist an den Abgeordneten, sich mafiöser Erpressungsversuche durch sogenannte Beichtstuhlgespräche zu entziehen.

d) Problematisierung dieses Einflusses

Der Einfluss des Kanzlers auf die Gesetzgebung wirft in der Tat demokratietheoretische und machtpolitische Fragen auf:

Verschiebung der Machtbalance: Die informelle Dominanz der Exekutive kann die Rolle des Parlaments als Gesetzgeber schwächen. Hier muss das Parlament einfach selbstbewusst gegenhalten.

Koalitionsmacht statt Richtlinienkompetenz: In Koalitionsregierungen entscheidet oft die Koalitionslogik mehr als die verfassungsrechtliche Leitlinienmacht des Kanzlers. Das muss allerdings kein Nachteil sein, stellt doch die Koalition in der Regel auch die Mehrheit der Abgeordnenten.

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Abhängigkeit von politischer Autorität: Ein Kanzler mit schwacher persönlicher oder parteipolitischer Stellung kann die Richtlinienkompetenz kaum nutzen, selbst wenn sie formal besteht. Ich meine das im Moment zu beobachten.

Die Richtlinienkompetenz ist ein zentraler Baustein des deutschen Regierungssystems und soll die Einheit der Regierungspolitik sichern. In der Praxis ist sie aber weniger ein direktes Instrument der Machtausübung als ein strategisches Druckmittel. Politische Realitäten wie Koalitionszwänge, Ressortautonomie und innerparteiliche Dynamiken begrenzen ihre Wirksamkeit erheblich.

Der Einfluss des Kanzlers auf die Gesetzgebung beruht weniger auf der Richtlinienkompetenz selbst als auf informellen Machtressourcen: Agenda-Setting, Kontrolle über die Regierung und politische Führung der Parlamentsmehrheit. Diese Verlagerung der Gesetzgebungsinitiative zugunsten der Exekutive ist politisch funktional, wirft jedoch Fragen nach der tatsächlichen Gewaltenteilung und der demokratischen Kontrolle auf. Insoweit stimme ich Jörg Friedrich zu.

Ob allerdings die Forderung, Koalitionen abzuschaffen, praktischen Nutzen hätte, wage ich zu bezweifeln, zumal dies ein komplett anderes Wahlsystem erfordern würde. Aber dazu vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt mehr.

 

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