Weshalb trinken wir?

Was ist ein Rausch? Gibt es ein Grundrecht, sich in den Orbit zu katapultieren? Ist Alkohol eine harte Droge? Gesoffen-wird-immer-Kolumne von Henning Hirsch.

Weshalb trinken wir?
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Der Wunsch, sich zu berauschen, ist so alt wie die Menschheit und soll deshalb neben Essen, Trinken, Sex, eigenem Auto und Bausparvertrag als eines der elementaren Grundbedürfnisse unserer Spezies angesehen werden. Und keine Sorge – ich möchte Ihnen mit diesem Buch Ihren Rausch nicht vermiesen oder gar verbieten. 90 % der Primaten kommen mit ihren gelegentlichen Wochenend- und Weihnachtsfeierräuschen gut zurecht, und daran will auch niemand ernsthaft etwas ändern.

Gefährlich sind die Räusche jedoch für das Zehntel, das sich mit Feiertagsbenebelungen nicht zufriedengibt, sondern diesen Zustand immer wieder, und zwar in kurz getakteten Zeitabständen, erleben möchte. Die 10 % der Bevölkerung, welche die Bewusstseinsveränderung, die durch ihre bevorzugte Droge eintritt, als genauso normal ansehen wie die nüchterne Realität, werden eines Tages die ständige Flucht in ihre Fantasiewelt der mausgrauen Wirklichkeit vorziehen. Dieses Zehntel nennt man drogenaffin, man könnte es auch weniger wissenschaftlich als „gierig auf das Eintauchen in ihre rosarote Parallelwelt“ ausdrücken.

Zuerst einmal eine Begriffserklärung: Was genau ist eigentlich ein Rausch? „Der Rausch bezeichnet einen emotionalen Zustand der Ekstase, der jemanden über seine normale Gefühlslage hinaushebt. Die Ursachen hierfür können vielfältig sein, z. B. eine akute Vergiftung mit Rauschmitteln oder auch manische Zustände“, so formuliert es Wikipedia. Von den manischen Zuständen wollen wir hier absehen und uns im Folgenden auf die Räusche konzentrieren, die aufgrund des Genusses – in der obigen Definition wird interessanterweise von „akuter Vergiftung“ gesprochen – psychotroper Substanzen ausgelöst werden.

Ach so, psychotrope Substanz müssen wir vorab ebenfalls klären: In diese Kategorie sortieren Fachleute all diejenigen (natürlichen und chemischen) Wirkstoffe ein, die unsere Psyche sowohl positiv als auch negativ beeinflussen. Die gängigsten Mittelchen, um uns zeitweilig in den Orbit zu katapultieren, sind: Alkohol, Opiate/Opioide, Kokain, Marihuana, LSD, MDMA und alle möglichen Pharmaka wie beispielsweise die großen Wirkstoff-Familien der Tranquilizer, Hypnotika und Neuroleptika.

In diesem Ratgeber befassen wir uns ausschließlich mit Alkohol, wenngleich die Rauschzustände, die Opium & Co. bewirken, denen von Wodka und Lakritzlikör teilweise ähneln, die Abhängigkeiten und deren gesundheitliche Konsequenzen nur graduell variieren und es für den Trinker genauso schwierig ist, vom Schnaps wegzukommen wie für den Junkie, die Finger von der Nadel zu lassen. Der Hauptunterschied beim Herstellen der Räusche besteht darin, dass es gesellschaftlich akzeptiert und vor allem legal ist, wenn Sie sich mit Maibowle und Rumpunsch bis in die Stratosphäre schießen, während Sie bereits auf der Rückbank eines Polizeiautos Platz nehmen dürfen, falls Sie dasselbe mit ein paar Gramm Marihuana zu viel tun.

Wenn die Endorphine nicht mehr reichen

Was genau geschieht nun in unserem Gehirn, wenn wir uns Rauschmittel (wozu natürlich auch der gute alte Doppelkorn gehört) reinpfeifen? Wir müssen uns das – laienhaft vereinfacht – in etwa so vorstellen: Unser Körper produziert selbst Drogen, z. B. Serotonin, Dopamin, Endorphine, die Glücksgefühle verursachen. Beispielsweise beim Essen von Schokolade, beim Sex, beim Anblick eines schönen Bildes, am Ende eines Marathonlaufs, nachdem wir eine Felswand hochgeklettert sind und erschöpft, aber rundum zufrieden am Gipfelkreuz lehnen, oder nachdem wir ein 90-minütiges Workout-Training schweißgebadet absolviert haben.

Allerdings – und das ist wichtig – müssen wir aktiv etwas dafür tun, damit diese Glückshormone produziert und ausgeschüttet werden. Dieser Weg ist manchen zu aufwendig – das Matterhorn besteigen, um im Anschluss als Belohnung ein Nanogramm Dopamin zu bekommen, klingt nicht wirklich verlockend –, weshalb sie zu einer List greifen: Sie schlucken, inhalieren, injizieren eine psychotrope Substanz, z. B. ein, zwei oder drei Gläser Captain Morgan; wenn sie ihn nicht direkt aus der Flasche trinken.

Und jetzt passiert Folgendes: Die im Schnaps in großer Anzahl rumschwimmenden C2H5OH-Moleküle (so lautet die chemische Formel für Ethanol, auch Trinkalkohol genannt) docken an jeder Menge Rezeptoren an – das sind Nervenzellen, die Reize aufnehmen und in Erregung umwandeln –, blockieren die einen und überstimulieren die anderen. Ein künstlich produziertes Euphoriegefühl stellt sich ein. Die Fachleute sprechen hier von einem Ungleichgewicht beim Austausch der Nervenbotenstoffe.

Wir wollen hier nur festhalten: Die in Drogen enthaltenen Wirkstoffe verkürzen den Weg zum körpereigenen Belohnungssystem. Statt mühsam einen Marathon zu absolvieren, kann dieselbe Hochstimmung, die den Läufer nach Kilometer 42 – unter der Voraussetzung, dass man ihn nicht erst mal in ein Sauerstoffzelt zwecks Druckbeatmung verfrachten muss – durchflutet, ebenfalls mittels eines Viertelliters Cognac erzeugt werden. Die Droge, in diesem Fall der Alkohol, verkürzt nicht nur sporadisch den Weg, sondern führt des Weiteren zu Bequemlichkeit – wozu anstrengend laufen, wenn’s ein halber Kasten Bier, zu Hause auf dem Sofa genossen, genauso tut? – und zu dem Wunsch, sich diesen einfach herzustellenden Glücksmomenten öfter hinzugeben als von der Natur vorgesehen. Falls es schlecht ausgeht, endet man bei zu häufiger Wiederholung in der Sucht.

Aber damit greifen wir schon voraus, denn über Sucht reden wir erst drei Kapitel später. An dieser Stelle reicht es, wenn Sie verinnerlichen: Die Droge bzw. der Alkohol beschleunigt den Weg zum Belohnungssystem und potenziert das Euphoriegefühl. So viel kann man gar nicht joggen, um sich so sauwohl wie nach einer Pulle Rotwein zu fühlen!

Drei Vernebelungsstufen, um in den Orbit zu gelangen

Zurück zum Rausch. Bei diesem unterscheiden wir grob drei Vernebelungsstufen:
Schwips: Man fühlt sich angeheitert, kichert, lacht, die Welt ist schön, die griesgrämige Bürokollegin wirkt auf einmal gar nicht mehr so griesgrämig etc. etc.
Leichter Rausch: Beginnt in etwa jenseits der 0,5 Promille, weshalb man sich ab dieser Grenze auch tunlichst nicht mehr ans Steuer eines Fahrzeugs setzen sollte. Man sieht die griesgrämige Bürokollegin plötzlich unscharf, manchmal sogar doppelt, sagt Sachen, die man sonst eher nicht sagt, und wünscht – falls man sich am Tag darauf noch daran erinnern sollte –, man hätte das alles besser nicht gesagt. Vielleicht landet man sogar im Bett der griesgrämigen Bürokollegin und hofft am Morgen danach, es habe sich nur um einen erotischen Traum gehandelt, wogegen allerdings der BH spricht, den man in der Aktentasche entdeckt. Beim leichten Rausch kann es zu Wortfindungs- und Artikulationsschwierigkeiten kommen. Bei manchem bewirkt dieser Aggregatszustand das Gegenteil, und man redet stundenlang, ohne dabei zwischendurch Luft zu holen, dummes Zeug. Einige beginnen zu schwanken und zu wanken, und ein nicht ganz so betrunkener Kollege muss sie unterhaken, ins Taxi setzen und dem Fahrer erklären, wo er den leicht Berauschten abliefern soll. Der Morgen darauf ist bestimmt von Katzenjammer und Aspirin, und der leicht Berauschte schwört, nie mehr einen einzigen Tropfen anzurühren. Dieser gute Vorsatz währt zwar nur bis zur nächsten Happy Hour, hält aber immerhin ein paar Tage. Der leichte Rausch endet – in Abhängigkeit vom Trainingszustand des Konsumenten – irgendwo im Bereich zwischen 1,5 und 2,0 Promille, und über diese Schwelle treten wir nun ein ins dunkle Reich der dritten Stufe:
Schwerer oder gar Vollrausch: Über Wortfindung, Artikulation und Gangsicherheit brauchen wir uns hier keine Gedanken mehr zu machen: Sie sind allesamt komplett perdu. Die Welt
verschwimmt im Nebel, für manche wird sie gar zappenduster. Wenn’s gut läuft, fällt der schwer Berauschte in ein zufällig in der Nähe stehendes Bett, wo er seinen Rausch komatös ausschläft. Wenn’s schlecht läuft – und es läuft oft schlecht –, beleidigt er den Chef, zertrümmert das halbe Büro, erwacht steifgefroren auf einer Parkbank oder in der Ausnüchterungszelle und bekommt am Tag darauf per Einschreiben mit Rückschein die fristlose Kündigung zugestellt.

Ein Rauschzustand auf der Betriebsfeier kann also helfen, endlich den Mut zu fassen, die seit Jahren heimlich angehimmelte Kollegin aus der Exportabteilung nach einem Date zu fragen. Ein Rausch kann dabei behilflich sein, den eben zugestellten Mahnbescheid mit Pfändungsandrohung ein paar Stunden lang beiseitezuschieben. Ein Rausch kann Wunder beim Sex wirken. Ein Rausch ist auch schön, wenn man ihn in der Gruppe genießt und alle zusammen Schlager aus den Fünfzigern und Sechzigern trällern und dazu nackt im Vorgarten des Nachbarn herumhüpfen. Ein leichter Rausch macht körperliche und seelische Schmerzen vergessen und wiegt einen angenehm in den Schlaf.

Ein Rausch kann auch sinnvoll sein, wenn man vorhat, sich umzubringen. Der Blick in eine Revolvermündung, die man sich gleich in den Mund schieben wird, ist weniger angsteinflößend, wenn man vorher eine Flasche Bourbon geleert hat. Ein Rausch ist auch eine prima Sache, um sich an Peinlichkeiten, die man im Zustand alkoholbedingter Verwirrung angestellt hat, nicht erinnern zu müssen. Wer hat schon ernsthaft etwas einzuwenden, wenn ein Trinker am Morgen darauf zerknirscht, die linke Hand an der schmerzenden Stirn festgetackert, während die rechte zitternd versucht, ein Glas Wasser mit drei darin aufgelösten Aspirin an die Lippen zu führen, sagt: „Das soll ich gestern Abend alles gemacht haben? Unmöglich!“

Der Morgen nach dem Rausch ist ohnehin nicht so schön, weder für den Hobby- noch für den Profitrinker. Während der eine kotzend über der Kloschüssel hängt, macht sich der andere auf zum nächstgelegenen Supermarkt, um dort Nachschub zu besorgen. Dazu mehr im Abschnitt „Wann ist man Alkoholiker?“

Der Profi gehorcht anderen Regeln als der Amateur

Achtung: Ein Promillegehalt, bei dem für den Normaltrinker die Lichter ausgehen und durch den er sich eine Stunde später fixiert auf der Intensivstation wiederfindet, kann für den Profisäufer den Normalzustand bedeuten, ab dem er überhaupt erst Betriebstemperatur erreicht. Ich kenne einige, die sich ein Leben unterhalb von zweieinhalb Umdrehungen nicht vorstellen können. 4,0 Promille gelten als letale Dosis, bei deren Erreichen 80 % der Menschen den finalen Atemzug tun, bevor der Notarzt bedauernd konstatiert: „Nichts mehr zu machen. Transportieren Sie den Leichnam direkt in die Kühlkammer.“ Das gilt allerdings nicht für den Profitrinker. Der wankt noch zur Nachttankstelle, um sich einen letzten Schlummer-Flachmann zu genehmigen, bevor er endlich alle Viere von sich streckt und auf dem Flur vor der Wohnungstür seinen Vollrausch ausschläft.

In diesem Kapitel haben Sie erfahren, dass gegen Gelegenheitsräusche prinzipiell nichts einzuwenden ist, insofern Sie dabei nicht auf die Idee kommen, einem zufällig vorbeispazierenden Passanten das Nasenbein zu zertrümmern oder auf dem Heimweg von einem feuchtfröhlichen Gelage mit Tempo 240 eine Abkürzung durch eine verkehrsberuhigte Wohngegend zu nehmen. Solange es beim Gelegenheitsrausch bleibt und der Zecher am nächsten Tag nicht das Verlangen spürt, den Rauschzustand ein weiteres Mal herbeizuführen, ist alles im grünen Bereich, von den Anzeigen wegen zertrümmerter Nase und Rasen in einem Wohngebiet mal abgesehen.

Das Herbeiführen eines Rausches kann aus unterschiedlichen Beweggründen heraus geschehen. Am unteren Ende der Skala steht dabei der Wunsch, beim Sex mit der Kollegin aus der Abteilung Rechnungswesen länger als fünf Minuten durchzuhalten, während die oberste Treppenstufe vom Versuch gekennzeichnet ist, sich durch die Zuführung von Alkohol in einen Trancezustand zu versetzen, durch den man befähigt wird, mit den Göttern zu kommunizieren. Ob die Stimmen, die man dann raunen hört, tatsächlich von den Göttern stammen oder doch eher von den inneren Dämonen herrühren, soll an dieser Stelle unbeantwortet bleiben.

MERKE
Hin und wieder ein Rausch ist okay, wenn er nicht in die Ausnüchterungszelle führt und kurz darauf wiederholt werden muss.
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Entnommen aus:
Raus aus dem Rausch

Raus aus dem Rausch
Gebrauchsanweisung, um vom Alkohol wegzukommen. Ein Erfahrungsratgeber
Henning Hirsch
Verlag humboldt
ISBN 9783842630550
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In den vergangenen Wochen haben wir uns hier beschäftigt mit:
Unter Gleichgesinnten – die Selbsthilfegruppe
Den Schalter im Kopf umlegen
Doppeldiagnose

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