Den Schalter im Kopf umlegen

Alle trinken, manche (zu) viel, und einige möchten damit lieber heute als morgen aufhören, wissen aber nicht wie. Eine Wann-ist-ein-guter-Zeitpunkt-mit-der-Abstinenz-zu-beginnen-Kolumne von Henning Hirsch.

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»Herr Hirsch, können Sie uns verraten, wie man es schafft, trocken zu werden?«
»Nein, kann ich leider nicht.«
»Aber Sie müssen doch einen Tipp für uns haben. Irgendeinen.«
»Hören Sie heute mit dem Trinken auf.«
»Mehr nicht?«
»Mehr nicht.«

Ich weiß, Sie sind nun enttäuscht, denn von einem wie mir hätten Sie mehr Kompetenz und Empathie erwartet. Aber es gibt kein Patentrezept gegen die Abhängigkeit. Die Sucht ist so bunt wie die Menschen, die ihr frönen. Deshalb wäre es Scharlatanerie, am Ende einer Lesung Ratschläge zu erteilen, die einzig auf meiner eigenen Erfahrung beruhen, jedoch nicht die individuellen Besonderheiten des Fragestellers berücksichtigen können. Was mir geholfen hat, muss ja nicht zwangsläufig auch bei Ihnen wirken.

Lange Drogenkarriere absolviert

Bevor ich gleich was zum geheimnisvollen Schalter schreibe, der umgelegt werden muss, fasse ich an dieser Stelle nochmal kurz das bisher Gesagte zusammen: Alkoholiker blicken auf eine lange Drogenkarriere zurück, die sich im Normalfall über zwei, drei Jahrzehnte erstreckt. Deshalb tun sie sich so verdammt schwer damit, sich ein Leben ohne Bier, Wein und Wodka überhaupt nur vorstellen zu können. Alles, was der Erkrankte bisher getan hat, geschah unter Zuhilfenahme des Stoffs: Er schläft unter Alkoholeinfluss, beruhigt sich mit Whisky, bringt sich mit Jägermeister in Schwung, kippt vor dem Sex vier Cola-Rum, fühlt sich in Gesellschaft bloß noch über 2,0 Promille wohl, trinkt abends, während er sich mit einem Gedichtband von Rilke entspannt, einen halben Kasten Bitburger. Die letzten Bastionen bilden oft Büro und Sportstudio. Sobald auch die geschleift sind, der Flachmann immer griffbereit unterm Schreibtisch bereitsteht, bestimmen der Alk und dessen Beschaffung den Tagesrhythmus, aus dem er nun nicht mehr wegzudenken ist.

Jede Aktivität ist davon durchdrungen. Das Leben unter Dauerstrom wird als Normalzustand angesehen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Der Einstieg in die Abstinenz bedeutet die Entkopplung ALL dieser Aktivitäten vom Alkohol. Für einen Abhängigen zum einen eine Horrorvorstellung, zum anderen eine Aufgabe, die er als derart monströs erachtet, dass er vor ihr kapituliert, bevor er überhaupt mit ihr beginnt. Die Entkopplung oder Entflechtung des Lebens von der Droge ist wirklich schwierig. Weil unterm Strich der gesamte Alltag mit Bier und Schnaps verwoben sind. Nie mehr Krombacher zur Sportschau, nie mehr Wodka zum Runterkommen nach dem Job oder als Einschlafhilfe: Wie soll das denn jemals funktionieren?

Alkoholiker sind chronische Nutzenmaximierer

Schon mal vorab: Es funktioniert. Anfangs zwar holprig, jedoch mit zunehmender Zeitdauer der Abstinenz immer besser, bis einem der Nicht-Konsum irgendwann in Fleisch und Blut übergeht und als normalste Sache der Welt erscheint, wie vorher der Alkohol.

Dem Ausstiegsentschluss voran geht eine Kosten-Nutzen-Analyse. Alkoholiker sind, auch wenn das auf den ersten Blick wegen ihres 24/7 Benebelungszustands nicht so scheinen mag, chronische und minutiöse Nutzenmaximierer. Sie manipulieren durch die ständige Zufuhr der Droge ihren Emotionshaushalt. Sei es, dass sie sich besser, als die Natur es ihnen normalerweise gestattet, fühlen wollen, sei es, dass sie unliebsame Gefühlsregungen abmildern oder sich gar zum Ende hin durchgängig betäuben wollen.

Der Nutzen liegt also im Abgleiten in ein rosarotes Paralleluniversum; die Kosten hingegen bestehen einerseits im körperlichen Raubbau und andererseits im stetigen sozialen Abstieg. Während es für die Frühaussteiger reicht, wenn sich die Waage leicht ins Negative neigt, muss sie für den Harcdore-Trinker schon beinahe die Tischplatte berühren, bevor er den Exit als lohnenswerte Möglichkeit ins Kalkül zieht. Erst, wenn der Rausch keinerlei Genuss mehr erzeugt, sondern sofort ins Komatöse abgleitet, der Süchtige die Abstürze jedes Mal mit sehr schmerzhaften Entzügen bezahlen muss, wird der Prozess des Umdenkens einsetzen.

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Manche benötigen Reanimationsmaßnahmen auf der Intensivstation und Warnhinweise à la „Das nächste Saufgelage überleben Sie nicht“, um zur Vernunft zu kommen. Wobei Vernunft, Intelligenz und Willen nur Teilaspekte des berühmten „Es muss klick machen“ bilden. Manchmal lautet die Triebfeder für den Ausstieg auch ganz banal: Ich habe keinen Bock mehr auf den Wahnsinn. Ein Abwägen könnte dann beispielsweise so aussehen: Erreiche ich den gewünschten Zustand – ich fühle mich heiter, sorgenfrei, nichts kann mein seelisches Gleichgewicht trüben – überhaupt noch, oder saufe ich mich jedes Mal, sobald ich mir das erste Bier besorge, im Anschluss ohne Zwischenstopp im rosaroten Wunderland direkt auf die Intensivstation?

Ohne Umweg erst in den Vollrausch, dann ins Koma

So ging es mir nach ein paar Jahren. Das Heitere, Beschwingte, Was-kostet-die-Welt war mit einem Mal verschwunden. Ich trank mich unverzüglich in den Vollrausch, dem erst ein Koma zu Hause auf dem Sofa und dann ein mehrtägiger Krankenhausaufenthalt folgten. Und da ich weder Zu-Hause-Koma noch Intensivstation als sonderlich lohnenswerte Ziele empfand, war meine individuelle Kalkulation schnell gemacht: Nutzen = 0 bei gleichzeitig Kosten = 100. Ob ich das 2010 ebenfalls so glasklar sah wie heute mit dem Abstand von zehn Jahren, spielt keine Rolle. Ich spürte deutlich, dass der Alkohol-Weg nur noch eine Richtung für mich kannte, nämlich die steil nach unten. Und das reichte mir als Ergebnis meiner damaligen Analyse völlig aus.

Das Erkennen des Ausstiegsfensters scheint vordergründig Glückssache zu sein. Der berühmte Aha-Moment, die noch berühmtere Sekunde, in der der Schalter endlich umgelegt wird. Manche spüren – und nutzen! – ihn, andere bemerken ihn zwar, nutzen die Möglichkeit jedoch nicht, und die Dritten spüren nie was. Man könnte die Sache also in die Rubrik „Glück“ oder „göttliche Fügung“ einsortieren und schlussfolgern: Die einen haben halt mehr Glück als die anderen bzw. Gott würfelt gerne.

Das lapidare Schulterzucken würde der Angelegenheit allerdings nicht gerecht werden. Denn in 95 Prozent der Fälle arbeitet der Süchtige im Vorfeld viele Monate bis hin zu Jahren auf diesen einen Moment hin. Es kommt nur äußerst selten vor, dass jemand ohne vorherige Therapie den Ausstieg schafft. Je länger die Saufstrecke dauert, desto unwahrscheinlicher ist es, sich ohne fremde Hilfe und psychologisches Handwerkszeug aus dem Alkoholsumpf zu befreien. Es mag sein, dass es beim einen (sehr viel) länger dauert als beim anderen, bis sich das Fenster für ihn öffnet. Wenn er jedoch eines Tages davor steht, weiß der Süchtige, um welches Fenster es sich handelt, und dass es nun höchste Zeit ist, diese – zumeist nur kurz offenstehende – Gelegenheit zu ergreifen. Falls jetzt zum 1000-sten Mal lange über Pro & Contra gegrübelt wird, schließt sich das Fenster wieder, und all die vielen vorbereitenden Gruppentherapiestunden waren für den Flaschencontainer.

Deshalb: den Schalter umlegen, mag vielen wie reines Glück oder Gottes einsame Entscheidung erscheinen. Die Wahrheit ist aber, dass es sich in den meisten Fällen um eine langwierig mühsam erarbeitete Chance handelt, die man natürlich, sobald sie sich einem bietet, auch beherzt nutzen muss. Viel mehr verbirgt sich eigentlich nicht hinter dem geheimnisvollen Schalter, wenngleich der Weg dorthin oft ein sehr dornenreicher sein wird.

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Drei Trinker – drei verschiedene Schicksale

Um den Ausstieg bzw. Nicht-Ausstieg noch einmal zu verdeutlichen, will ich kurz drei exemplarische Trinkerschicksale skizzieren:

Mein Freund Horst-Rüdiger, zu unserer gemeinsamen Schulzeit ein begnadeter Linksaußen und später ein ebenso begnadeter Trinker, der keinen Tag ohne seinen Gute-Morgen-Jägermeister begann und sich abends mit Minimum 3,0 Promille im Blut ins Bett legte, stoppte von heute auf morgen völlig eigenständig mit der Sauferei. Er hatte vorher keinen Arzt oder gar Psychologen konsultiert. »Brauche ich alles nicht«, erklärte er mir, als ich ihn an einem heißen Julimorgen bei der Polizei am Kölner Waidmarkt in Empfang nahm, wo er die Nacht aufgrund Ruhestörung und Randale mal wieder in der Ausnüchterungszelle verbracht hatte. Das ist mittlerweile zehn Jahre her. Horst-Rüdiger hat seitdem keinen Tropfen mehr angerührt. Ihm war während der sechs Stunden auf der Gummimatratze die Gnade der Spontanheilung zuteil geworden.

Bei mir wiederum verhielt es sich so, dass ich eines Morgens ins Grübeln geriet, als ich nach einem Fünf- oder Sechspromilleabsturz mal wieder an allen Vieren fixiert auf der Intensivstation lag und mir die Ärzte eindringlicher als sonst erklärten, ich würde den nächsten Rückfall garantiert nicht überleben. Nicht, dass die Aussicht auf den eventuell nahenden Tod mich sonderlich schockte. Ihn hatte ich oft gesehen und mich an seinen Anblick gewöhnt. Aber irgendetwas in mir klammerte sich an diese trostlose Existenz, wollte noch nicht den Löffel abgeben.

Sterben oder aufhören?

Die Überlegung lautete: Weitermachen wie bisher und in ein paar Monaten ins Gras beißen oder aufhören und ein neues Leben beginnen? Die Fragestellung klingt einfach, die Lösung und der lange Marsch bis zu diesem Punkt sind für einen Hardcore-Alkoholiker allerdings beschwerlich. Ich wusste, was mich erwartet: Abstinenz – also nie mehr auch nur ein einziger Tropfen Alkohol –, lausig bezahlte Jobs in Call Centern und Paketdiensten, Misstrauen von Freunden und Familie, denn ich hatte ihr Vertrauen und ihre Hoffnungen viel zu oft enttäuscht.

Je länger ich über diese trüben Zukunftsaussichten nachdachte, desto eher war ich geneigt, im Anschluss an den Klinikaufenthalt in mein altes Muster zurückzufallen. Die Ärzte haben Unsinn erzählt, wollten dir bloß Angst einjagen, ging es mir durch den Kopf. Als ich zehn Tage danach wieder in meinem kleinen Apartment saß, das ich ein paar Wochen zuvor angemietet hatte, war ich immer noch unentschlossen, in welche der beiden Richtungen ich gehen wollte. Obwohl mir die Monotonie meines Säuferlebens, das jenseits der Unterhaltungen im Raucherzimmer keine weitere Abwechslung kannte, mittlerweile selbst zum Hals raushing, stand ich kurz davor, mir im Supermarkt eine Pulle Doppelkorn zu besorgen, um der Langeweile durch Flucht in den Rausch zu entkommen.

Aus einem Bauchgefühl heraus besuchte ich am selben Abend ein Meeting der Anonymen Alkoholiker. Die hatten mich schon so oft aufgefordert, mal bei ihnen vorbeizuschauen, aber nie hatte ich ihrer Einladung Folge geleistet. Ich erzählte meine Geschichte, versuchte, mich kurz zu fassen, quatschte eine halbe Stunde ohne Unterlass. Alle hörten aufmerksam zu, niemand unterbrach mich. Der Versammlungsleiter bedankte sich für meine offenen Worte, die anderen sprachen mir Mut zu: »Trink 24 Stunden nichts und komm morgen Abend wieder zu uns. Du packst das!«

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Als ich mich an diesem Tag um Mitternacht ins Bett legte und tatsächlich keinen Tropfen angerührt hatte, wusste ich plötzlich, dass ich es schaffen werde. Das Vertrauen der anderen in meine Stärke gab mir Kraft. Die Überredungskünste des Alkohols fielen zum ersten Mal seit früher Jugend nicht mehr auf den stets feuchten Resonanzboden meiner labilen Psyche. Mit dem guten Gefühl, dass der Dämon besiegbar ist, schlief ich ein.

Im Unterschied zu Horst-Rüdiger hatte ich allerdings Dutzende Stunden mit Psychologen und zwei Reha-Aufenthalte hinter mich gebracht, war mir des Irrsinns meines Tuns also schon längere Zeit bewusst und benötigte dennoch weitere vier Jahre, bis ich den Stoppschalter betätigte. Im ersten Monat absolvierte ich das 30-Tage-Programm der Anonymen Alkoholiker: jeden Abend eine Gruppe besuchen. Danach war das Schlimmste überstanden, und ich änderte meine Frequenz in einmal pro Woche ab.

Unser Kumpel Rolf, der mit Abstand Klügste und Belesenste von uns, dem Ursachen, Auslöser, Hochrisikofaktoren allesamt klar waren, benutzte seine Intelligenz dazu, den Ärzten Fehler bei der Behandlung und den Psychologinnen Inkompetenz bei der Analyse nachzuweisen. »Warum tust du das?«, fragte ich. »Weil sie alle keine Ahnung haben«, antwortete er. »Aber du hast Ahnung?«, hakte ich nach. »Auf jeden Fall mehr als die Quacksalber hier.« – »Und warum stoppst du dann nicht? Du bist ja öfter in der Klinik als ich.« – »Weil ich jetzt noch keine Lust dazu habe. Ich höre dann auf, wenn ich den Zeitpunkt für den richtigen halte. Das kann ich aber alleine. Dafür benötige ich keinen von den Kurpfuschern.«

Drei Monate später und nach schiefgegangenen Experimenten mit Desinfektionsmittel oral und Wodkatampons anal saß Rolf sabbernd im Rollstuhl. Im Jahr darauf beerdigten wir ihn in einem anonymen Urnengrab, weil sein geschwächter Körper nach dem Trinken einer Pulle Mariacron auf Antabus endgültig alle Viere von sich gestreckt hatte.

3 Bauteile für den Erfolg

Wir haben in diesem Kapitel gelernt – der geheimnisvolle Schalter besteht aus drei Bauteilen:
(1) Kosten-Nutzen-Analyse.
(2) Den Moment, in dem sich die Ausgangstür öffnet, erkennen und beherzt durchschreiten.
(3) Willens sein, den Alkohol aus sämtlichen Lebensbereichen (am Ende war das 24/7) zu entfernen, in denen wir ihn bisher eingesetzt haben.

Etappenziel 5: Sie wissen nun, dass Gott nicht würfelt, sondern eine Menge Vorarbeit notwendig ist, um zu Ihrem persönlichen Aha-Erlebnis zu gelangen. Sobald der richtige Moment naht, muss er konsequent genutzt werden. Ob Sie jemals eine zweite Chance für den Ausstieg erhalten, ist sehr ungewiss.
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Entnommen aus:

Raus aus dem Rausch
Gebrauchsanweisung, um vom Alkohol wegzukommen
humboldt Verlag
ISBN 9783842630550

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