Alle Menschen sind gleich?

Artikel 3 des Grundgesetzes einer der spannendsten, unbequemsten – und politisch explosivsten – Sätze, die das Grundgesetz zu bieten hat. Kolumne von Heinrich Schmitz.

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Wenn man das Grundgesetz aufschlägt, stolpert man relativ früh über einen Satz, der so schlicht klingt, dass man ihn fast überlesen könnte. Art.3 Grundgesetz – der Gleichheitssatz als Auftrag – kommt früh ins Spiel.

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

Fertig. Punkt. Ein Versprechen, so glatt wie eine Hochglanz-Parole aus dem Wahlkampf. Man könnte meinen, das sei eine Selbstverständlichkeit. Doch gerade weil es so selbstverständlich klingt, ist Artikel 3 des Grundgesetzes einer der spannendsten, unbequemsten – und politisch explosivsten – Sätze, die die deutsche Verfassung zu bieten hat.

Denn Gleichheit, das zeigt sich beim näheren Hinsehen, ist kein Zustand, sondern eher eine Zumutung.

Der Zauber der Einfachheit – und die Tücken dahinter

„Alle Menschen sind gleich.“ Wer könnte da widersprechen? Niemand möchte in einer Gesellschaft leben, in der vor Gericht reiche Unternehmer milder behandelt werden als arme Alleinerziehende, oder in der man für ein Verbrechen je nach Hautfarbe unterschiedlich lange ins Gefängnis wandert.

Doch Gleichheit ist ein schillernder Begriff. Heißt er: Alle haben die gleichen Chancen? Oder: Alle sollen das gleiche Ergebnis erreichen? Die einen verstehen darunter vor allem formale Gleichheit – also gleiche Regeln für alle. Die anderen pochen auf materielle Gleichheit – gleiche Ausgangsbedingungen, gleiche Chancen, gleiche Möglichkeiten, das Leben zu gestalten.

Artikel 3 versucht, beides irgendwie  zu vereinen. Er beginnt mit dem universellen Versprechen, dass niemand bevorzugt oder benachteiligt werden darf. Doch er endet längst nicht dort. Denn das Grundgesetz bleibt nicht neutral – es zwingt den Staat auch in die Verantwortung, was Artikel 3 Grundgesetz – Der Gleichheitssatz als Auftrag – verdeutlicht.

Gleichheit mit Sternchen: Die Antidiskriminierungsliste

Absatz 3 präzisiert, was genau nicht sein darf: Keine Benachteiligung wegen Geschlecht, Abstammung, Rasse (ein Begriff, der heute zurecht kritisch diskutiert wird), Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöser oder politischer Anschauungen oder wegen einer Behinderung.

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Das war 1949 ein revolutionärer Text. Nach dem Grauen des Nationalsozialismus wollte man ein Fundament gießen, das Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung systematisch unmöglich machen sollte. Doch schon der Blick in die Gegenwart zeigt: Diese Liste ist kein museales Stück, das man im Verfassungsschrank bewundern darf. Sie ist eine Baustelle.

Denn was ist mit sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Alter oder sozialem Status? Diese Merkmale tauchen im Wortlaut nicht auf, obwohl sie längst Teil der gesellschaftlichen Realität sind. Deswegen war etwa die Einführung der „Ehe für alle“ oder der dritte Geschlechtseintrag im Pass weniger ein Akt reiner Gesetzeslogik, sondern vor allem ein verfassungsrechtlicher Balanceakt: Man musste Artikel 3 so lesen, dass er mit der Gegenwart Schritt halten kann, ohne jedes Mal das Grundgesetz neu aufzuschlagen.

Gleichheit ist also nicht statisch. Sie ist ein fortlaufendes Projekt – eines, das jede Generation neu definieren muss.

Von der Gleichheit zur Gleichstellung

Noch brisanter wird Artikel 3 durch eine Ergänzung aus dem Jahr 1994:

Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

Das klingt trocken, ist aber eine kleine Revolution. Denn damit wird aus einem Abwehrrecht – der Staat darf dich nicht diskriminieren – plötzlich eine Handlungspflicht: Der Staat muss aktiv etwas tun.

Plötzlich geht es nicht mehr nur um das Unterlassen von Ungleichbehandlung, sondern um das Herstellen von Gleichheit. Also nicht: „Wir behandeln Männer und Frauen gleich, wenn sie zufällig schon in derselben Position stehen“, sondern: „Wir schaffen Bedingungen, die es Frauen überhaupt ermöglichen, in diese Positionen zu kommen.“

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Das öffnet die Tür für Quotenregelungen, Gleichstellungsprogramme, Fördergesetze. Und genau da beginnt der Streit: Ist eine Frauenquote im Bundestag eine Maßnahme für echte Gleichheit – oder eine staatlich verordnete Ungleichbehandlung? Ist es gerecht, wenn Menschen mit Behinderung bei Bewerbungen bevorzugt werden, um strukturelle Nachteile auszugleichen – oder ist das eine Bevormundung?

Artikel 3 zwingt uns nun, diese Fragen auszuhalten. Er ist kein bequemes Versprechen, sondern ein juristisches Brennglas: Sobald wir ihn ernst nehmen, wird die Gesellschaft unbequem. Denn Art.3 Grundgesetz stellt die Gleichheit als Auftrag und Herausforderung dar.

Gleichheit in der Praxis: Anspruch vs. Wirklichkeit

Ein Blick in die Realität zeigt, wie groß die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist.

Lohnlücke: Frauen verdienen in Deutschland im Durchschnitt immer noch weniger als Männer. Juristisch ist das längst verboten – faktisch passiert es dennoch.  Artikel 3 erinnert daran, dass formale Gleichheit nicht reicht, solange materielle Unterschiede bestehen.

Barrierefreiheit: Menschen mit Behinderung haben rechtlich Anspruch auf Teilhabe. Aber schon eine kaputte Aufzugtür am Bahnhof zeigt, wie schnell dieses Recht in der Praxis verpufft.

Diskriminierung im Alltag: Menschen mit „fremd klingenden“ Nachnamen bekommen seltener Mietwohnungen oder Einladungen zu Vorstellungsgesprächen. Das ist kein offizielles Gesetz – aber es ist gelebte Ungleichheit. Artikel 3 wird dadurch zu einem Spiegel, der uns zeigt, wo die Gesellschaft hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückbleibt.

Man könnte fast sagen: Artikel 3 ist weniger erfüllt als vielmehr ein ständiges Mahnmal dafür, wie viel noch zu tun ist.

Der Stachel im Fleisch der Bequemlichkeit

Und genau das macht seine Stärke aus. Artikel 3 ist kein Wohlfühlartikel, kein „Alle sollen glücklich sein“-Absatz. Er ist unbequem. Er stört. Er verlangt Nachjustierung. Art.3 Grundgesetz – Der Gleichheitssatz als Auftrag – fordert, dass wir uns immer wieder fragen: Sind wir wirklich schon so gleich, wie wir glauben?

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Er ist das Grundgesetz im Kampfstiefel – nicht dazu da, nett im Regal zu stehen, sondern aktiv in den Alltag hineinzugrätschen.

Vielleicht ist das die eigentliche Pointe: Artikel 3 ist kein erreichtes Ziel, sondern eine offene Einladung. Eine Aufforderung, Gleichheit nicht als Besitzstand zu betrachten, sondern als Prozess, der nie abgeschlossen ist.

Und ja, manchmal nervt das. Aber genau deswegen ist er einer der wichtigsten Artikel unserer Verfassung.

Wer Artikel 3 liest, entdeckt nicht nur einen Verfassungsartikel. Er liest ein politisches Programm, eine gesellschaftliche Daueraufgabe – und ein ständiges Versprechen, dass man die Arbeit an einer gerechten Gesellschaft nie abhaken kann und darf.

„Alle Menschen sind gleich“ – das ist keine Beschreibung. Es ist ein Imperativ. Und einer, der uns immer wieder daran erinnert: Fertig sind wir nie.

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