Wann ist man Alkoholiker?

Jeder zehnte Deutsche über 15 Jahre trinkt zu viel. Was sind untrügliche Zeichen, an denen man als Betroffener (oder Freund eines Betroffenen) riskanten Konsum erkennt? Wann wird die Schwelle zum krankhaften Trinken überschritten? Wer muss sich Sorgen machen, wer nicht? Kolumne vom regelmäßigen AA-Besucher Henning Hirsch.

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Als psychotrope Substanz verändert Alkohol unser Bewusstsein: sei es als Stimmungsaufheller, Enthemmer, Runterkommer, Vergessenschenker, Einschlafhilfe oder Aphrodisiakum. Solange wir ihn maßvoll und in zufällig getakteten Zeitabständen konsumieren, ist alles okay mit dem Stoff. Sobald wir allerdings damit beginnen, die Droge zu bestimmten Zwecken – und dann in der Konsequenz regelmäßig – einzusetzen, erreichen wir über kurz oder lang die kritische Schwelle vom Genuss- hin zum Gewohnheitstrinken.

Bei vielen klappt es mit dem Saufen halbwegs passabel bis ins hohe Alter. Bei einigen kippt die Sache, und sie überqueren eines Nachts die Schwelle vom Risikotrinker zum Alkoholiker, der es nicht mehr schafft, nach einer Flasche Soave eigenhändig den Stoppschalter zu betätigen, sondern im Anschluss noch eine Pulle Wodka die Kehle runterlaufen lässt. Trinken, bis die Lampen ausgehen, man sich beim Aufwachen nicht mehr an den vorherigen Abend erinnert und sofort auf den Weg zum nächstgelegenen Kiosk macht, um Nachschub zu besorgen. Konsum als 24/7-Dauerzustand.

Nun gibt es bei Alkoholikern solche, solche und solche. Nicht jeder von ihnen schüttet sich jeden Tag bis zur Bewusstlosigkeit zu, kann sich ein Dasein unterhalb von 3,0 Promille beim besten Willen nicht vorstellen bzw. ist ohne ständige ärztliche Hilfe nicht überlebensfähig. Es existiert zusätzlich die gar nicht kleine Gruppe der Quartalssäufer, die einzig zu bestimmten Anlässen die Sau so lange durchs Wirtshaus treiben, bis sie bewusstlos unterm Tisch oder im Straßengraben liegen. Die dritte Fraktion bilden die sogenannten Spiegeltrinker, die vom Aufstehen über Mittagsschläfchen bis hin zum Spätfilm auf Netflix konstant einen Pegel von beispielsweise 1,5 Promille halten und in der Konsequenz im Abstand von 90 Minuten nachtanken müssen.

Alle drei Gruppen haben gemeinsam, dass ihr Umgang mit Alkohol grob fahrlässig, selbstzerstörerisch bis hin zu lebensgefährlich ist. Zudem sind die Übergänge fließend: Viele Quartals- und Spiegeltrinker erreichen über kurz oder lang das Stadium der 24/7-Volldröhnung. Denn – und das ist eine der teuflischen Gefahren der Droge – der Abhängige benötigt im Zeitverlauf eine immer stärker werdende Dosis, um das Wohlgefühl herzustellen, das er für seine wacklige Balance braucht. Aus einem anfänglichen 1,0-Pegel wird so ein 2,0-Spiegel,der irgendwann in einen Dauer-3,0- bis -4,0-Rausch mündet. Das Abdriften in das Rock-around-the-clock-Vollbesäufnis muss nicht bei allen Alkoholikern geschehen. Ich kenne Kandidaten, die es über Jahrzehnte geschafft haben, sich nur abends in einen weit entfernten Spiralnebel abzuschießen und die – oft zittrigen – Finger tagsüber vom Fusel wegzulassen. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Trinkzeit kontinuierlich nach vorne verlegt wird, bis man eines Morgens den ersten Cognac bereits zum Frühstück runterspült, für die Mitglieder dieser Gruppe hoch.

Okay, sagen Sie, dass zu viel getrunken wird, wissen wir jetzt. Aber wer von uns ist denn nun tatsächlich eine Schnapsdrossel im strengen medizinischen Sinn?

Zu viel Alkohol ist immer hochriskant

Der erste Wissenschaftler, der Alkoholismus zum Forschungsobjekt erhob, war in den 1930er-Jahren ein US-amerikanischer Physiologe: Elvin Morton Jellinek. Seine noch heute verbreitete Klassifikation unterscheidet Alkoholkranke in fünf Typen:

Alpha-Typ (Problemtrinker, Erleichterungstrinker) trinkt, um innere Spannungen und Konflikte (etwa Verzweiflung) zu beseitigen („Kummertrinker“). Die Menge hängt ab von der jeweiligen Stress-Situation. Hier besteht vor allem die Gefahr psychischer Abhängigkeit. Alphatrinker sind nicht alkoholkrank, aber gefährdet.
Beta-Typ (Gelegenheitstrinker) trinkt bei sozialen Anlässen große Mengen, bleibt aber sozial und psychisch unauffällig. Betatrinker haben einen alkoholnahen Lebensstil. Negative gesundheitliche Folgen entstehen durch häufigen Alkoholkonsum. Sie sind weder körperlich noch psychisch abhängig, aber gefährdet.
Gamma-Typ (Rauschtrinker, Alkoholiker) hat längere abstinente Phasen, die sich mit Phasen starker Berauschung abwechseln. Typisch ist der Kontrollverlust: Er kann nicht aufhören zu trinken, auch wenn er bereits das Gefühl hat, genug zu haben. Obwohl er sich wegen der Fähigkeit zu längeren Abstinenzphasen sicher fühlt, ist er alkoholkrank.
Delta-Typ (Pegeltrinker, Spiegeltrinker, Alkoholiker) ist bestrebt, seinen Alkoholkonsum im Tagesverlauf (auch nachts) möglichst gleichbleibend zu halten: daher auch der Begriff Spiegeltrinker (Blutalkoholkonzentration bzw. Blutalkoholspiegel sind konstant). Dabei kann es sich um vergleichbar geringe Konzentrationen handeln, diese steigen jedoch im Verlauf der fortschreitenden Krankheit und der damit sich erhöhenden Alkoholtoleranz meist an. Der Abhängige bleibt lange sozial unauffällig („funktionierender Alkoholiker“), weil er selten erkennbar betrunken ist. Dennoch besteht starke körperliche Abhängigkeit. Er muss 24/7 Alkohol trinken, um Entzugssymptome zu vermeiden. Durch den ständigen Konsum entstehen körperliche Folgeschäden. Deltatrinker sind nicht abstinenzfähig und alkoholkrank.
Epsilon-Typ (Dipsomane, Quartalstrinker, Alkoholiker) erlebt in unregelmäßigen Intervallen Phasen exzessiven Alkoholkonsums mit Kontrollverlust, die Tage oder Wochen dauern können. Dazwischen kann er monatelang abstinent bleiben. Epsilon-Trinker sind alkoholkrank.

Um das jeweilige Stadium der Erkrankung zu fixieren, entwickelte Jellinek einen Erhebungsbogen mit knapp 30 Fragen, die von „Denken Sie häufig an Alkohol?“ über „Trinken Sie heimlich?“ bis hin zu „Hatten Sie bereits ein Delir?“ reichen. Je mehr dieser Fragen der Patient mit „Ja“ beantwortet, desto weiter ist er auf der Leiter des Alkoholismus nach oben geklettert. Wie es vielen Pionieren geschieht, so wurden auch Jellineks Forschungsansätze und -ergebnisse von seinen Nachfolgern in Zweifel gezogen. Zu oberflächlich und zu grobmaschig, lautete das Urteil. Was partiell durchaus stimmen mag, jedoch – im Nachgang sind wir alle schlauer. Jellinek kommt aber auf jeden Fall das Verdienst zu, sich als Erster wissenschaftlich konsequent mit Trunksucht beschäftigt zu haben. Ohne seine Vorarbeit gäbe es bis heute keine Anerkennung des Alkoholismus als eigenständiges und offiziell anerkanntes Krankheitsbild.

Hier noch zwei weitere heute gängige Typologieschemata. Der Psychiater und Genetiker Robert Cloninger unterscheidet nur zwei Typen voneinander:
Typ I: Ein Typ-I-Alkoholiker ist durch größeren Einfluss von Umweltfaktoren und den Beginn der Suchtkrankheit nach dem 25. Lebensjahr gekennzeichnet. Die Häufigkeit ist bei Männern gleich hoch wie bei Frauen. Der Typ I zeigt grundsätzlich einen eher milden Verlauf mit vorwiegend psychischer Abhängigkeit. Die Betroffenen leiden unter starken Schuldgefühlen und haben große Angst, abhängig zu werden.
Typ II: Der Typ-II-Alkoholiker ist stärker von genetischen Faktoren bestimmt und hauptsächlich durch einen frühen Beginn (vor dem 25. Lebensjahr) der Suchtkrankheit charakterisiert. Männer machen den größten Anteil der Typ-II-Alkoholiker nach Cloninger aus. Typisch sind ein stark ausgeprägtes Alkoholverlangen, gepaart mit asozialen Persönlichkeitseigenschaften und Aggressionsdurchbrüchen.

Der Mediziner und Psychologe Thomas F. Babor splittet ebenfalls in zwei Typen. Hier geht es allerdings vor allem um das Einstiegsalter in die Droge:
Typ A: später Beginn
Typ B: früher Beginn
So lapidar macht der Babor das? Ja, so lapidar macht er es.

Die Kriterien der WHO im ICD-10-Katalog

Konsum Geschlecht Gramm/Tag Entspricht in etwa*
Riskant 20-40 0,2-0,4l Wein
30-60 0,75-1,5l Bier
Gefährlich 40-80 0,4-0,8l Wein
80-120 1,5-3l Bier
Sehr hoch >80 0,5l Eierlikör oder
1l Weißwein
>120 >0,4l Schnaps**

* Die Höhe der (WHO-)Grenzwerte ist umstritten. Manche Mediziner fordern niedrigere
Schwellen; andere hingegen plädieren – vor allem bei „Riskant“ – für eine Anhebung
des Einstiegslimits.
** Ein Alkoholiker, der in einem Krankenhaus entgiftet, weist erfahrungsgemäß einen
Tageskonsum von ein bis zwei Flaschen Schnaps (zumeist Wodka oder Doppelkorn)
über einen längeren Zeitraum auf.

Suchtdruck und Kontrollverlust

Gemäß der WHO ist Alkoholabhängigkeit als psychische Erkrankung vor allem durch folgende Phänomene charakterisiert: Suchtdruck, Vernachlässigung von allem, was nichts mit der Droge zu tun hat, Toleranzentwicklung/Dosissteigerung, Kontrollverlust sowie Entzugserscheinungen. Bei zweien dieser Begriffe müssen wir kurz verweilen, denn sie sind wichtig und werden uns im weiteren Verlauf häufig begegnen: Suchtdruck und Kontrollverlust.

Suchtdruck – im angelsächsischen Sprachraum „Craving“ (Begierde, Verlangen) genannt – umschreibt das nahezu unbezwingbare Verlangen eines Abhängigen, sein Suchtmittel (Alkohol, Tabak, irgendeine der vielen illegalen Drogen) konsumieren zu wollen. Craving hat seine neurobiologische Grundlage in der Sensitivierung des Belohnungssystems im Gehirn. Die Zufuhr der Substanz bewirkt die 24/7-Aktivierung einer künstlich hergestellten, als angenehm empfundenen Gefühlswelt. Der Abhängige weigert sich, negative Empfindungen zuzulassen bzw. flüchtet sich, sobald der euphorische Höhenflug abflaut, sofort wieder in den nächsten Rausch: die Sucht als nicht mehr unterdrückbare Gier nach einem wahlweise hochgestimmten oder benebelten Erlebniszustand. Diesem unbedingten Verlangen werden die Kräfte des Verstandes völlig untergeordnet. Weil „Sucht“ den Ärzten und Therapeuten zu banal klingt, sprechen die medizinischen Experten lieber von Abhängigkeit oder gar vom substanzgebundenen Abhängigkeitssyndrom, drücken damit aber letztlich dasselbe aus wie wir, wenn wir seufzend sagen: „Der Heinz kommt seit Jahren nicht vom Schnaps weg und hat sich bald den letzten Rest seines Hirns weggesoffen. So schade um ihn. War mal ein attraktiver und kluger Mann.“

Kontrollverlust: Hiermit ist nicht der einmalige Verlust an Kontrolle gemeint. Die Wissenschaft beschreibt das traurige Phänomen so: Der Betroffene ist nicht mehr in der Lage, eigenständig über Trinkbeginn, Menge und Ende entscheiden. Vorher selbst gebastelte und mühsam aufrecht erhaltene Konsummuster (kein Bier vor vier, kein Schnaps in der Werkwoche) können plötzlich nicht mehr eingehalten werden. Der Süchtige tritt in das Stadium ein, in dem er seinen Konsum grundsätzlich nicht mehr steuern kann. Der Abhängige benötigt den Stoff nun rund um die Uhr. In der Extremvariante bedeutet Kontrollverlust Trinken bis zum Umfallen. Hardcoresäufer müssen deshalb häufig den Umweg über die Intensivstation nehmen, bevor sie von dort weiter in die Entzugsklinik verwiesen werden. Es gilt die harte Regel: einmal Kontrollverlust erlitten → Genusstrinken wird nie mehr möglich sein. Sobald ein Süchtiger diese Schwelle überschreitet, ist Alkoholismus irreversibel.

Von nun an gibt es keinen Weg zurück zum normalen Konsum. Es existieren angeblich in einem abgeschiedenen Appalachendorf in Kentucky und in Zimmer 273 des städtischen Altersheims Castrop-Rauxel zwei fabulöse Ausnahmen von dieser Regel, aber leibhaftig gesehen hat die beiden bisher noch niemand. Der Kontrollverlust markiert für 99,99 % aller Trinker das definitive Ende von Hoch-die-Tassen. Oder, um es ganz modern auszudrücken: Er stellt den point of no return dar. Von nun an bleiben bloß noch zwei Möglichkeiten offen: dem Schnaps für immer und ewig abzuschwören oder sich ungezügelt ins Grab zu saufen. Dazwischen existiert kein dritter Weg, auch wenn viele Alkis davon träumen. Das Suchtgedächtnis vergisst nichts und bestraft Experimente unbarmherzig.

Wer Alkoholiker ist und wer nicht, darüber streiten die Fachleute. Geht es um quantitative Mengen oder kontinuierlichen Konsum? Dazu sind Millionen Fachaufsätze publiziert und noch mehr Streitgespräche in Gruppentherapien geführt worden. Um nun nicht jeden, der fünfmal in der Woche mittags zu seinen Spaghetti aglio e olio ein zur Hälfte mit Wasser verdünntes Glas Frascati zu sich nimmt, in die Kategorie der hoffnungslosen Fälle einzusortieren, sei hier folgende Charakterisierung des Alkoholikers gewählt:
• er/sie trinkt regelmäßig
• in Mengen, welche die WHO als gefährlich einstuft
• das praktiziert er über einen längeren Zeitraum
• er verspürt oft Suchtdruck
• er setzt die Droge gezielt ein
• Unwohlsein und Zittern stellen sich ein, falls Alkohol nicht rechtzeitig bereitsteht
• Denken und Tagesablauf werden von der Droge bestimmt.

Wenn Sie jetzt noch nicht so genau wissen, ob Sie zu den Alkoholikern dazugehören, und auf welcher Stufe der Leiter Sie sich einsortieren sollen, empfehle ich Ihnen den Jellinek-Bogen. Setzt natürlich voraus, dass Sie die Fragen ehrlich beantworten. Andernfalls können Sie sich diese Übung schenken und stattdessen „lustig“ weiterzechen.

MERKE
Problematisch wird es mit dem Alkohol, sobald man ihn zu bestimmten Zwecken und regelmäßig einsetzt. Der Kontrollverlust bedeutet die letzte Schwelle, die der Trinker überschreitet. Von diesem Punkt an gibt es keinen Weg mehr zurück.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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