Die tragische Geschichte des Sigurd P.
Eine Kurzgeschichte von Uwe Fischer
1 Partytime
Sigurd ging es gar nicht gut, hatte er doch ein Problem mit Frauen. Mit Männern eigentlich auch, aber Problem Nr. 2 resultierte aus Problem Nr. 1.
Es war nicht so, dass er keine Frauen mochte, ganz im Gegenteil, er begehrte sie sehr und hatte auch immer wieder Gelegenheiten, seine Frau für’s Leben zu finden. Oder für ein paar Stunden wenigstens, 1 oder 2 Stunden wäre schon mehr gewesen, als er in seinem ganzen bisherigen Leben hatte.
Er war zwar nicht der Typ Samu Haber und auch kein Jason Momoa, sein Anblick war aber auch ohne Maskenpflicht durchaus zu ertragen. Reden konnte er über viele Themen, zwar nicht über die Relativitätstheorie, womit man Frauen vermutlich ohnehin nicht abendfüllend beeindrucken kann, jede Folge von Wer wird Millionär jedoch hinterließ ein breit gefächertes Spektrum an Gesprächsanlässen und beeindruckenden Schnipseln von oberflächlichem Wissen.
Irgendwann würde er der Frau dann Teile seiner Bettwäschesammlung zeigen und die Unterhaltung vernahm einen ganz anderen Verlauf. Doch das war leider relativ viel Theorie.
„Wäre wäre Fahrradkette“, wie Dr. phil. L. Matthäus es formulieren würde.
Kam es gelegentlich zu einer Begegnung mit dem Objekt seiner Träume, hatte er schon bei der 50€ Frage alle Joker verbraucht und schaffte es nicht, selbst das anspruchsloseste Wesen auf der anderen Seite des Tisches im Mac Donalds zu beeindrucken, spätestens nach dem ersten Cheeseburger blieb er alleine zurück. Wenn er schon das Menü bezahlt hatte, dann konnte er auch die Pommes der
Flüchtenden aufessen und die Reste ihres Chickenburgers für seinen Hund mitnehmen. Der verstand ihn immerhin. Vielleicht.
Frustrierende Dramen dieser Art wirkten sich unweigerlich auf seinen sonst recht unkomplizierten Umgang mit Männern aus, womit wir bei Problem Nr.2 wären. Fußball oder Formel 1 zählten jetzt nicht zu seinen Hobbys, doch da war ja noch Günther Jauch für die nötigen Basisinformationen, um an den richtigen Stellen nicken oder entrüstet schnaufen zu können. Wann er was einsetzte war egal,
denn wenn es um Sport geht, gibt es mehr als nur eine Meinung.
Es ist natürlich klar, dass Männer nicht nur über Fußball oder Motorsport reden, dass ist ein typisch weibliches Vorurteil. Männer unterhalten sich auch über Frauen und den Sex, den sie mit ihnen hatten, angeblich hatten oder garantiert haben würden, über Bier und Schnaps, Angeln und Kegeln, Handwerken und Autofahren, während sie gleichzeitig in der Lage waren, mit einer Hand eine Flasche Bier zu öffnen
und mit der anderen den Michael Jackson Griff machen. Warum machen Männer so etwas? Weil sie es können. Wir stellen also fest: Männer sind viel komplexer als gedacht, feinfühlig, emphatisch, klug, duldsam und so vieles mehr, leider hatte Sigurd das Pech, in seiner Firma mit den anderen zu arbeiten und so
nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Es war auf einer Betriebsfeier im Juli, mit Grill und Fassbier.
Schnaps war offiziell verboten, doch – s.o. – Männer sind auch klug und so fand der Schnaps seinen Weg auf das Fest. Das war schlecht für Sigurd, sehr schlecht.
Die anfänglich entspannte und jugendfreie Atmosphäre veränderte sich langsam, die Themen wechselten von beruflichen – die auf jeder Firmenfeier unter Strafe gestellt werden sollten – über Fußball hin zu Frauen und den Erlebnissen mit ihnen (s.o.). Mit jedem Bier wurden die Zauberstäbe der Männer einen Zentimeter länger, die Brüste der Frauen eine Körbchengröße größer und die Dauer der Orgasmen unermesslich.
Nur Sigurd schwieg, er konnte keine Erfahrungen zu dem Gerede beitragen und zu fantasielos, um sich mit Lügengeschichten aus der Affäre zu ziehen. Die Lektüre von 50 Shades of Grey konnte er nie mit der Praxis abgleichen, so schwieg er weiter.
Doch wie Arbeitskollegen so sind, fiel Sigurds Schweigen auf und die Blicke wandten sich ihm zu. Fragen prasselten auf ihn ein, Antworten hatte er keine und wollte sich dann doch mit seiner Buchlektüre retten.
Tapfer setzte er an:
„Also!!! Äh, Moment…“ nippte an dem Hugo, den er mitgebracht hatte und verschluckte sich prompt. Sein Hustenanfall ging im Gegröle der Kollegen unter, die nächsten Arbeitswochen würden hart werden.
Doch selbst einen Mann, der auf Grillfesten Hugo trinkt, sollte man nicht unterschätzen, Sigurd würde zurückkommen aus dem Tal der Tränen und mit seinem WWM Wissen über Fußball alles richten. Schnell noch drei Hugo gekippt – Prösterchen auch – tief Luft geholt und die Pause, in der gerade niemand zum verbalen Erguss kam, ausgenutzt.
„Die Bayern wieder, dass die schon wieder Meister werden! Immer erst abpfeifen, wenn die gewonnen haben, so ein Beschiss jedes Mal!“
Über die Bayern zu reden heizt jede Diskussion an, schnell noch ein „Und Katar!“ in die Runde werfen, ein fachgesimpeltes „Ja ja, und der Steuer-Uli und der Uhren-Kalle!“ und Sigurd war auf Kurs. Wenn der schon nicht poppen kann, vom Fußball hat er wenigstens Ahnung. Fachsimpeln kommt von simpel, womit der fachlichen Diskurs auf solchen Feiern hinreichend beschreiben sei.
Doch es war nicht sein Tag, es sollte einfach nicht sein. Nach zwei weiteren Hugo wurde er übermütig und lallte etwas von“ DanndochlieberHoffenheim!“, bekam die verwirrten Blicke nicht mit und legte nach: „Oder Red Bull Leipzig, das ist noch ehrlicher Fußball da!“
Dass die Kollegen sich auf ihn stürzen wollten, weil sie dem letzten Lallen ein
„Dass die Frauen Ronaldo gut finden muss man auch verstehen“ entnahmen, bekam er schon nicht mehr mit, als er mit dem Kopf erst in den Teller mit Bockwurst und Kartoffelsalat kippte und dann in die Bierpfütze unter dem Tisch. Ein Grillfest ohne solche Vorkommnisse wäre schließlich ein Kindergeburtstag, und Sigurd war ein Mann.
Die Kollegen entspannten ihre Fäuste und ließen Sigurd liegen, wo er war. Als die letzten von ihnen zum Morgengrauen ihrem Taxi entgegen taumelten, lag er immer noch da. Irgendwer hatte ihm mit wasserfestem Edding ein Red Bull Logo auf beide Wangen gemalt und auf die Stirn in Großbuchstaben „FICKEN“.
Nie wieder würde Sigurd seinen Kollegen selbstgebackene Kekse mitbringen, schon gar nicht die Tonerkartuschen wechseln würde er. So nicht! Nie mehr!
Der nächste Tag war ein Sonntag. Die Sonne schien von einem schlumpfblauen Himmel, an dem sich nur wenige schlumpfmützenblaue Wolken zeigten, es war ein schöner Tag für die Menschen im Rheinland. Nicht so für Sigurd, der lag mit einem Red Bull Logo in einer angetrockneten Pfütze aus erbrochenem Kartoffelsalat, Bockwurst, Senf und Hugo. Die Mischung roch darüber hinaus leicht
nach irgendeinem Schnaps, den hatten ihm die Kollegen kurz vor seinen Fußballweisheiten heimlich in den Hugo gekippt, um die Stimmung ein wenig anzuheizen. So läuft das halt, wenn Männer feiern.
Nie mehr Kartuschen wechseln! Ach ne, hatten wir ja schon, Kekse auch. Also nicht mehr grüßen, Strafe muss sein.
Sigurd erwachte völlig verkatert, als um 10 Uhr die Glocken der Dorfkirche bimmelten, schreckte hoch, knallte mit der Stirn gegen den Tisch der Bierzeltgarnitur, unter dem er die Nacht verbracht hatte und zog sich neben den doppelten Kopfschmerzen von Kater und Kopfstoß noch eine klaffende Platzwunde zu. Genau über dem Schriftzug, von dem er noch nichts wusste.
Die Ärztin in der Notaufnahme war zunächst sehr freundlich, säuberte ihm behutsam das Gesicht, bis sie die Schrift sah und eindeutig falsch verstand. Sigurd musste bis zum Dienstwechsel um 16 Uhr warten, als sich der ablösende Arzt seiner annahm, mit einem Grinsen die Wunde versorgte und die Schrift mit seinem Edding vorsichtig nachzog.
Als Sigurd um 17 Uhr endlich zuhause ankam roch er schon im Hausflur, dass sein Hund zu lange alleine gewesen war.
2 Große Pläne und Orthild
Am Montag nahm er sich einen Krankenschein und beschloss so lange nicht zur Arbeit gehen, bis entweder sein Pony bis zu den Augenbrauen gewachsen oder die Schrift verblasst war. Die Schrift verblasste schneller, das Gekicher der Kollegen hingegen hielt länger an.
Sigurd musste etwas ändern, wollte er endlich Erfolg haben bei den Frauen, das lag auf der Hand. Im Wohnzimmerschrank hatte er mehrere Ordner mit Gedichten und akribisch geplanten Gesprächen, mit denen er die künftige Frau seines Lebens beeindrucken wollte. Drei Regalreihen, gleich links neben dem Flatscreen, unter der Sammlung mit den Porzellanhäschen. Alles von Hand geschrieben mit einem edlen Füller, den er sich eigens für diesen Zweck zugelegt hatte. Teures, handgeschöpftes Papier mit Lavendelduft, die schicken Ordner thematisch nach Gesprächsthemen beschriftet.
Von A wie Amore und B wie Backen über D wie Delfine (welche Frau findet Delfine nicht süß?) und H wie Horoskope (die Frau seiner Vorstellung las die immer zuerst in ihrer Frauenzeitschrift), von O wie Oper (kulturell interessiert wäre sie natürlich), Q wie Quarkbällchen (zur Sicherheit auch unter B wie Backen zu finden), S wie Schampus und nicht etwa Schnaps zu Z wie Zuckerschnäuzchen (eine Frau, die bei so einer Anrede nicht dahin schmelzen und ihm noch in der Küche die
Bundfaltenhose vom Körper reißen würde, konnte er sich einfach nicht vorstellen!) – Sigurd war vorbereitet!
Doch das war aus der Zeit vor dem Betriebsfest und hatte nie funktioniert.
Was also lag näher, als es mit dem Stil der Kollegen zu versuchen, die kamen bei Frauen an, hatten mehr sexuelle Erlebnisse als Sigurd sich je hätte vorstellen können und wirkten glücklich und zufrieden. Mit Tränen in den Augen und neuer Hoffnung im Herzen trug Sigurd seine Ordner in den Hof und schmiss sie in die Tonne zum Altpapier. Das war eine schlechte Idee, denn Monate später erschien auf einer Plattform namens „Die Kolumnisten“ die Kolumnenserie „Die feuchten Träume
des erfolglosen Liebhabers Sigurd Pamplewski – Ergüsse nur auf Papier“.
Er hatte keine Energie, dagegen anzugehen, hätte er die Ordner nur geschreddert! Wenigsten auf die Nennung seines vollständigen Namens hätten diese verfluchten Nachbarn verzichten können, berühmt werden wollte er als größter Womanizer der Stadt.
Vom schädlichen Missbrauch seiner geheimsten Gedanken sollte er erst ein paar Wochen später erfahren, heute war er dran, heute war sein Tag!
In seiner Firma arbeiteten nicht nur idiotische Männer, es gab dort auch ein paar Frauen. Am häufigsten begegnete er Orthild aus der Disposition, mit der musste er sich in beruflichen Fragen zwangsläufig austauschen. Auf anderen Wegen wäre ein Kontakt wahrscheinlich nie zustande gekommen. Da die freie Rede nicht zu seinen Kernkompetenzen zählte und er schlechterdings seine Ordner in die Firma mitschleppen konnte, sparte er private Themen aus, sobald Orthild einen
Themenwechsel erzwingen wollte. Was ihm völlig abging, konnte sie nämlich gut – ungezwungen plaudern. Schade, denn „Orthilds Ordner“ klang deutlich besser als etwas mit „Erfolgloser Liebhaber“ und „Ergüsse nur auf Papier“ .
Was Sigurd nie erkannt hatte war der Umstand, dass sich diese eher unauffällige Frau durchaus für ihn interessierte. Obwohl es keinen sichtlichen Grund dafür gab, hatte sie nur wenige Kontakte zu Männern, diese wenigen waren stets eine einzige Enttäuschung und schnell ein Schatten ihrer Vergangenheit. Anfangs nett und angenehm, kaum dass sie am Ziel waren, eine gute Köchin, mobile Waschmaschine und Sponsorin für Kegeltouren und Fahrzeugtuning gefunden hatten, wurde Ihnen Orthild langweilig und sie zogen zur nächsten Waschmaschine mit Bügelbrett.
Sigurd hingegen war so anders, seine Zurückhaltung fand Orthild höchst erotisch und ließ sie von Dingen träumen, bei denen Sigurd auch ohne Schnaps im Hugo heftige Kopfschmerzen bekommen hätte!
Weil sie eher unscheinbar und zurückhaltend war, keinen Wert auf allzu viel Schmuck und Schminke legte und auch nicht jedem Modetrend nachjagte, fiel den meisten Männern erst auf den zweiten Blick auf, was für eine anziehende Frau Orthild wirklich war. Sigurd hingegen hätte man an sie ketten können, ohne dass ihm das aufgefallen wäre. Etwas doof war er schon.
Auf die Frage, wie Orthild denn so aussieht, konnte seine Antwort ungefähr so ausfallen:
„In etwa mittelgroß und mittelschwer, mit mittellangen Haaren, mittelblond oder mittelbraun, mit einer mittelgroßen Nase, einem mittelgroßen Mund und mittelrunden Augen die Stimme ist mittelhoch, das weiß ich aber nicht genau, sie spricht nämlich immer nur mittellaut.“
Sigurd war ein Idiot, kein mittelmäßiger sondern ein kompletter, was seinen ausbleibenden Erfolg bei Frauen erklärte. Dieser nicht mittelmäßige Idiot als einziger Zeuge einer Straftat und die Hälfte Stadt konnte zur Befragung vorgeladen werden. Heute wollte er kein Idiot sein.
Nun ist es hinreichend bekannt, dass ein kluger Mensch sich dumm stellen kann, der gleiche Trick umgekehrt in den seltensten Fällen funktioniert. In Liebesdingen war Sigurd allerdings so dumm, dass es ihm nicht einmal gelang, mittelmäßige Dummheit vorzutäuschen. Das nächste Desaster nahm seinen Lauf.
Orthild war reichlich erstaunt, als Sigurd mit einem lässigen „Na, schöne Lady!“ auf sie zu schlenderte und nervös zappelnd vor ihrem Schreibtisch stehen blieb.
„Na, schöner Mann! Wie geht es denn so?“
Es dauerte ein wenig, bis Sigurd sich zu einem souveränen „Muss, und selbst?“ durchringen konnte.
Es lief zäh, immerhin war es mehr als sonst und in beiden glomm die zarte Flamme der Hoffnung.
Was er noch unbedingt lernen musste war, das Gefühl des in ihm aufkeimenden Übermut zu erkennen und zu beherrschen, heute war er dummerweise noch nicht so weit.
„Was hält die schöne Lady davon, wenn wir zwei Hübschen es am Wochenende mal so richtig krachen lassen?“
Nicht sonderlich originell, doch Orthild war beeindruckt, so kannte sie ihn nur in ihren Träumen. Ha!.
„Äh…ja….äh….gerne! Was schwebt dir denn so vor?“
Nun wäre es an der Zeit für einen Blick in seine Ordner gewesen, die zur gleichen Zeit bei den Rentnern aus der Etage unter ihm auf dem Wohnzimmertisch lagen und von einer Gruppe von 20 weiteren Nachbarn der Straße und lautem Gejohle von Hand zu Hand gereicht wurden, um dann in Kleingruppen vorgetragen zu werden. Das Siegerpaar bekam eine Flasche Kellergeister, die selbstredend sofort geöffnet und die nächste Runde im Wettbewerb eingeleitet wurde. Viele Ordner,
viel Kellergeister, Sigurd bekam am nächsten Tag seine leeren Hugoflaschen nicht mehr im Glascontainer vor dem Haus unter und musste sie im Gebüsch des Kinderspielplatzes entsorgen.
B wie Backen, K wie Kino, T wie Theater – ihm hätte sich eine Fülle an Ideen dargeboten, um sein Schicksal in die richtige Richtung zu lenken und endlich da anzukommen, wo er immer sein wollte – im Bett mit einer Frau. Was ihm stattdessen einfiel waren die imaginären Ordner in seinem Kopf, zuerst der mit dem Buchstabe P.
„Möchtest Du mal meinen Pimmel sehen und raten, wie groß der werden kann?“
Wenn es einmal läuft, dann läuft es, das gilt auch dann, wenn es nicht läuft. Orthilds Augen wurden groß, was Sigurd als gutes Zeichen fehl deutete und ihn unnötig motivierte (imaginärer Ordner B wie Bettlaken).
“ Dann versauen wir meine Bettlaken so richtig, ziehen uns einen geilen Porno rein (auch im Ordner P, gleich nach Pimmel) und – (Ordner V) – vögeln bis zur Bewusstlosigkeit!“
Wenige Tage später war Orthilds Kündigung durch, als sie bald darauf mit dem Präsidenten des Chapters des örtlichen MC auf dessen Harley an ihm vorbei donnerte und ihm ein unfreundliches „Arschloch“ zurief, erkannte er sie nicht.
3 Ein Freund, ein guter Freund…
Die folgenden Tage und Wochen plätscherten dahin ohne besondere Vorkommnisse. Die Kollegen grinsten weiterhin, denn Orthild hatte sich zum Abschied persönlich von jedem einzelnen verabschiedet und von dem Gespräch berichtet. An Sigurds Stelle wechselte der Praktikant die Tonerkartuschen, was die Strafmaßnahme völlig wirkungslos machte, Orthilds Stelle wurde neu besetzt und Sigurd bekam
neben einer Abmahnung, die er absolut nicht verstehen konnte, ein Kontaktverbot mit der neuen Mitarbeiterin. Das wiederum störte ihn nicht, denn von Frauen hatte er die Nase gestrichen voll.
Er beschloss, die Sache langsamer anzugehen und sein neues Leben von der Pike aus zu lernen. Der Vorschlag, mit dem ihn die Kollegen ständig nervten, fand er interessant, die Hürde schien ihm noch zu groß. „Ey Mann, Sigurd! Geh doch mal in den Puff und lass Druck vom Kessel! Wir schmeißen zusammen und laden dich ein!“
Noch war er für solche Vorhaben zu unsicher, wusste er ja nicht, wie er ein eröffnendes und niveauvolles Gespräch mit einer Frau in einer solchen Situation führen konnte, ohne wieder in ein Fettnäpfchen zu treten und lehnte die Einladung mit dem Hinweis auf einen angeblichen leichten Bandscheibenvorfall ab. Er müsse,
das würden die Kollegen sicher verstehen, richtig in Form sein, um es richtig krachen zu lassen. Die Kollegen verstanden und grinsten weiter.
Sein erster Schritt auf dem Weg zu einem respektablen Mann war der Besuch der Kneipe ein paar Straßen von seiner Wohnung entfernt. „Zum müden Pinsel“ – das hatte einen Klang von Boheme und Verruchtheit, hier müssten eindeutig die Künstler der Stadt verkehren, das wäre seinem Niveau angemessen. Dass er sich wie so oft im Leben nicht auf seine Intuition verlassen konnte, wurde ihm bald klar, er war, wie schon erwähnt, ein kompletter Idiot.
Um sich langsam heranzutasten und im Falle eines Falles eine Ausrede parat zu haben, hielt immer am Ende einer Gassirunde mit seinem Hund Einkehr, wurde es ihm zu viel, konnte er mit dem Hinweis auf ein mögliches Verdauungsproblem des ahnungslosen Hundes die Kneipe verlassen ohne sich eine Blöße zu geben. Zwei große Pils waren für einen Gelegenheitshugotrinker auch die Schmerzgrenze und noch ausbaufähig.
Es kam der Tag, an dem er im müden Pinsel nicht mehr alleine an der Theke saß und erste Bekanntschaften machte. Hein war ihm zuvor schon aufgefallen, wenn der ebenso einsam an seinem Tisch saß, im frühabendlichen Ritual 5 Pils und 5 Korn kippte, 2 Frikadellen mit Brötchen und Senf aß und dann so schweigend ging, wie er gekommen war. Sigurd kratzte allen Mut zusammen, den er finden konnte, bestellte 2 Pils (für ihn schon das dritte), 2 Korn (abzüglich der neulich im Hugo der erste Schnaps seines Lebens), 2 Frikadellen mit Brötchen und Senf und setzte sich mit dem Hund ohne Verdauungsprobleme zu Hein an den Tisch. 2 schweigsame Männer und ein Hund, der gemäß seiner Natur ebenfalls schwieg, waren in einer Kneipe nichts Ungewöhnliches und so konnten sie sich in aller Ruhe näher kommen.
Ein paar Tage vergingen, das Schweigen ging erst in kurze Gespräche wie
„Tach Sigurd!“
„Tach Hein! „
„Was macht die Verdauung vom Hund?“
„Besser.“
„Und deine?“
„Läuft.“
und letztlich in richtige Unterhaltungen über. Ganz ohne Ordner, die Fortschritte waren nicht zu leugnen und Orthild wäre begeistert gewesen (das Vereinsheim des MC bot mittlerweile einen ungewohnten Anblick mit einer Waschmaschine und einem Bügelbrett mit Clublogo gleich neben der Theke).
Es blieb nicht aus, dass die beiden seltsamen Männer mit einem Hund ihre Seelenverwandtschaft
nicht nur spürten, sondern bald schon mit Worten benennen konnten. Die Frauen waren das unsichtbare Band, was sie zueinander führte und zusammenhielt. Genauer gesagt waren es ja die fehlenden Frauen im Leben. Hätte der Hund sprechen können, sie wären zu dritt gewesen in ihrem Leid. Kastriert war aber nur einer von ihnen und so blieb der Hund außen vor, als die frauenlosen Männer sich näher kamen.
Sigurd schaffte mittlerweile 5 Pils und 5 Korn, ohne unter dem Tisch zu schlafen, die Frikadellen samt Brötchen und Senf bekam der Hund.
Es tat so gut, endlich mal verstanden zu werden und auf einen Seelenverwandten zu treffen. Beide hatten ähnliche Erfahrungen gemacht und fühlten sich in der Welt der Männer wie Aliens. Allerdings war Hein einen Schritt voraus, und das erzählte er Sigurd, als er endgültig keine Zweifel mehr an dessen Vertrauenswürdigkeit hatte.
„Du hast eine Frau? Seit wann denn das?“
„Seit letzter Woche, ist noch ganz frisch alles.“
„Aber wie hat des geklappt, ich meine, wir sitzen jeden Tag hier, trinken unser Bierchen – wie kommst du dann an eine Frau?“
„Ganz einfach.“ sagte Hein und legte feierlich einen Katalog vor dem irritierten Sigurd auf den Tisch.
Was war denn das? Frauen, so viele Frauen! Alle Frauentypen, die Sigurd sich nur vorstellen konnte, mit ausführlicher Beschreibung der Eigenschaften und… sogar einer Preisliste! Kein Menschenhandel, keine Geschäfte im Darknet, keine teuren Flüge in fremde Länder, alles zwar verrucht, aber völlig legal! Sigurd war so sprachlos wie zu Beginn ihrer Freundschaft.
„Das ist mein Abschiedsgeschenk, mein Freund. Ich komme ab sofort nicht mehr, ich werde bei meiner Frau bleiben und die Zeit mit ihr verbringen. Kein Pils und kein Korn, ab jetzt Kaffee statt Bier und Kuchen statt Frikadellen. Es ist aus und vorbei mit dem müden Pinsel. Der letzte Deckel geht auf mich.“
Er schnappte sich den Deckel, klopfte Sigurd auf die Schulter, tätschelte dem erstaunten Hund den Kopf und war kurz darauf Vergangenheit.
Sigurd schaffte 10 Pils und 10 Korn, der Hund erbrach in der Nacht 11 schlecht verdaute Frikadellen, 11 Brötchen und 11 Portionen Senf (eine hatte sein Herrchen gegessen) auf den Flokati im Wohnzimmer. Aus beiden Enden seines Körpers.
Am nächsten Tag meldete Sigurd sich wieder krank, kurierte seinen Kater aus und hatte für nichts anderes Augen als für den Katalog. Der Hund gab sein Betteln um die Gassirunde auf und erleichterte sich im Bett. Den stinkenden Flokati registrierte Sigurd erst am übernächsten Tag, als er sich über die vielen
Fliegen wunderte, die sich gelegentlich zu zweit auf dem Katalog niederließen und zeigten, was Fliegen so machen wenn sie nicht gerade fliegen. Den Flokati entsorgte in der Dunkelheit hinter dem Zaun der Grundschule, die gleich neben dem Kindergarten lag, den Katalog schloss er während dessen im Tresor im Schlafzimmer ein. Als er zurückkam holte er den Katalog aus dem Tresor und traf eine Entscheidung, die ihm eine schlaflose Nacht samt Sehnenscheidenentzündung einbrachte.
Am nächsten Tag rief er die Nummer an, die er sich zur Sicherheit auf mehrere seiner verblieben handgeschöpften Papierbögen notiert und in der Wohnung verteilt hatte. Planen konnte er.
4 Die schönste Frau der Welt
Sie war so schön! Die langen schwarzen Haare, die großen braunen Augen, der gebräunte Körper! So elegant und gelenkig sah sie aus, seine Fantasie trieb die seltsamsten Blüten, er hätte sie ohne Unterlass anstarren und berühren können. Was ihm bei Orthild nicht möglich war, bei ihr konnte er jedes noch so kleine Detail ihres Aussehen wortreich beschreiben. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick, nie, niemals hätte er sich vorstellen können, so eine unglaubliche Frau an seiner Seite zu wissen. Für den Rest seines Lebens.
Zunächst aber galt es, ein paar wichtige Dinge zu erledigen. Sie war neu hier, kam ohne ihn kaum zurecht. Sprach er mit ihr, verstand sie ihn nicht, von ihr selbst kam kein Wort über diese wunderschön geschwungenen rubinroten Lippen, mit denen sie ihm… später, als neuer Mann in ihrem Leben musste er ihr zeigen, dass er den Laden im Griff hat und Prioritäten zu setzen wusste.
Erst die Pflicht, dann die Kür. Wer konnte schon sagen, wann sie nach ihrem ersten Mal das Bett wieder verlassen würden, es gab unendlich viel aufzuholen. Schamhaft drehte er sich zur Seite, seine heftige Erektion würde sie noch früh genug bewundern können.
Das Grillfest fiel ihm wieder ein, diese Demütigung! Dass sie ihn heimlich mit Schnaps abgefüllt hatten – geschenkt. Red Bull Logos im Gesicht – übel, ganz übel. Dann doch lieber eins von Bayern, mit ganz viel Bosheit auch eins von Schalke oder vom HSV. Aber von Rote Plörre Leipzig???
Die größte Demütigung aber war dieses Wort auf der Stirn. Wohl wissend, dass er sich so etwas immer gewünscht, aber noch nie gemacht hat (die eigene Hand zählt nicht).
Die nächste Party würde ihm gehören, es bliebe bis zum Morgengrauen keine Zeit für Fußball und andere Themen! Lernen würden sie von ihm, staunen! Nicht nur die Augen der Kollegen wären groß, wenn er einmal in Schwung kam.
Damals war er völlig verstört, als einer der Kollegen etwas von 69 erzählte. „Sex mit
Schweinefleisch süß-sauer???“ dachte Sigurd und starrte verstört auf die Bockwurst auf seinem Teller. Jetzt verstand er, Google sei Dank, jetzt wäre bei 69 gerade mal Halbzeit, seine Fantasien reichten weiter, weit über 138 sogar! Zahlenrätsel müssten jetzt die anderen lösen, er hatte den Jackpot.
Ach ja, für das Wort auf der Stirn hatte er auch schon eine Idee, er würde sich ein T-Shirt bedrucken lassen. Vorne und hinten wäre zu lesen:
„FICKER!“
Oder auch:
„DEUTSCHER MEISTER IM FICKEN“
So etwas in der Art, vielleicht sollte er das künftig auch im Büro tragen und gleich 5 davon bestellen, für jeden Wochentag eins. Nur in der Notaufnahme nicht, würde er jemals wieder da landen. Seine wichtigsten medizinischen Angaben auf der Notfallkarte im Portemonnaie müsste er ergänzen um:
„Vor der Einlieferung in die Notaufnahme bitte T-Shirt entfernen“. 6 Stunden unversorgt im Krankenhaus, mit Kater, Platzwunde und doppelten Kopfschmerzen brauchte er nie wieder.
Er musste los, seine Gedankenspiele hatten Zeit, ließ er sich weiter so gehen, käme er zu nichts. Essen und Getränke hatte er genug im Haus, um ein paar Tage mit ihr zwischen Bett, Bad und Küche zu pendeln, Kleidung brauchte sie unbedingt, sie kam nur mit dem bei ihm an, was sie am Körper trug, und ein wenig Kosmetikzeug. Über Ihren Geschmack konnte sie ihm nichts sagen, das bekam er schon hin.
Ihre genauen Maße hatte er aus dem Katalog, das mit Lidschatten, Lippenstift und diesem ganzen Zeug schaffte er auch. Er würde irgendwie „Freundin, Geburtstag, Überraschung, von allem etwas“ miteinander kombinieren und fertig. Das klappte bei Douglas bestimmt. „Von allem etwas“ fügte seinem Konto schon ein paar heftige Dellen zu, die Bewunderung der Frau des Lebens war ihm das wert.
So vergingen die Tage, Sigurd war glücklich und zufrieden, im Büro war er ein anderer Mensch. Die Kollegen starrten ihm nach, das bekam er natürlich mit, es war die Wandlung vom kompletten zum mittelmäßigen Idioten und er war längst nicht am Ende. Auch das Tuscheln, die veränderten Blicke, der respektvollere Umgang blieben ihm nicht verborgen. Möglicherweise würde er doch bald wieder die Kartuschen vom Kopierer wechseln, aber etwas konnten sie schon noch gutmachen.
Oder er könnte in die Offensive gehen und seine morgendliche Begrüßung ändern. Nicht mehr „Guten Morgen, Kollegen!“ sondern „Na ihr Luschen, seid ihr auch mit 69 in den Tag gestartet?“
Eine Frau ist wie ein neues Leben, für Sigurd war es wie eine Wiedergeburt.
So schön das neue Leben auch war, Sigurd musste ein paar Probleme angehen. Da sie nicht mit ihm sprach und da es dem Katalog nicht zu entnehmen war, musste er sich einen Namen für sie überlegen. Keinesfalls durfte es ein gewöhnlicher Name sein, so außergewöhnlich wie sie war, musste auch der Name klingen. Das gestaltete sich schwieriger als gedacht, zu jedem Namen, den er sich überlegte, gab es irgendeine Assoziation. Ehemalige Klassenkameradinnen, Schauspielerinnen,
Sängerinnen und andere Prominente, Kundinnen, Arbeitskolleginnen, Nachbarinnen… nichts fiel ihm ein. Dann beschloss er, ganz willkürlich, mit geschlossenen Augen und einem Kuli in der Hand, auf eine Zeitung zu tippen und die ersten sechs Buchstaben zu wählen. Vokale gehörten dazu, ganz
klar, klingonisch sollte ihr Name nicht klingen. Also los, erster Versuch.
K. T. W. T. E. S.
Nein, geht nicht, Blödsinn.
P. R. A. E. A. P.
Klingt doof. Weiter.
Q. G. M. S. O. L.
Nein. Nein. Weiter.
Versuch um Versuch, es kam einfach kein vernünftiger Name dabei heraus. Leicht genervt sah er zu ihr herüber, wie sie schweigend im Sessel saß und ihn beobachtete. Weiter, immer weiter, eine schöne Frau braucht einen schönen Namen. Als ihm vor Anstrengung schon der Finger krampfte, die Augen tränten und er kurz davor war aufzugeben, offenbarten sich die magischen sechs Buchstaben:
G. N. U. L. D. A.
Gnulda! Was für ein schöner, was für ein ungewöhnlicher Name! 6 Buchstaben, 2 Vokale, 2 Silben und dieser Klang!
„Gnulda! Gnul – da! Gnulda!“
Sogar die Kosenamen hörten sich so an, als wären sie nur für seine Gnulda gemacht:
Gnuldi. Gnuldilein. Gnuldinchen. Gnuldilinchen. Gnulli – ne, das nicht. Zuckerschnäuzchen war auch noch denkbar, die Ordner waren wider Erwarten noch hilfreich.
„Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, bitte begrüßen Sie Sigurd und Gnulda!“
Wie hörte sich das an? Wow! Wahnsinn!
Oder wie erst, wenn sie verheiratet wären?
„Und da kommen Frau Gnulda und Herr Sigurd Pamplewski!“
Hat es je eine schönere Frau mit einem schöneren Namen gegeben? Eindeutig nicht.
Sigurd musste schwer schlucken, so gerührt war. Endlich hatte seine Liebe einen Namen, der ihrer würdig war. Behutsam nahm er die Zeitung, die von den vielen, immer verzweifelter werdenden Versuchen fast zerhackt war, glättete sie und legte sie in den Schrank. Dahin, wo vor Wochen noch die nutzlosen Ordner standen, er würde später die Seite, die ihm den Namen seiner Gnulda offenbart hatte, kostbar rahmen lassen und wie eine Reliquie ins Wohnzimmer hängen. Über die
Stelle, wo zuvor der Flokati lag.
Apropos Ordner! Vielleicht könnte er der verdammten Kolumne seiner verdammten Nachbarn eine
entgegensetzen:
„Die 1001 Ergüsse des Sigurd Pamplewski“.
Klingt gut, aber wenn Gnuldilein schon so einen schönen Namen hat, sollte der auch für den Titel herhalten.
„Bettgeschichten mit Gnulda“?
Zu banal.
„Süß und gar nicht sauer – von 0 auf 69 mit Gnulda“
Klingt schon besser.
„Am Anfang war die 69 – die obszönen Abenteuer von Gnulda und Sigurd Pamplewski“
Die 69 wäre ab jetzt seine Glückszahl, jeden Tag gäbe es eine neue Technik auszuprobieren und die 69 wäre tatsächlich erst am 69. Tag dran. Dieses Maß an Kreativität traute er sich zu. Und Gnulda natürlich auch.
Es gab nur ein Problem, und das war der Hund. Der nämlich wurde im Liebestaumel völlig vernachlässigt und zeigte so einige Verhaltensauffälligkeiten, vor allem Gnulda gegenüber wurde er zunehmend aggressiv. Als es dunkel wurde, schnappte Sigurd sich die Hundeleine, der Hund freute sich wie verrückt weil er ahnte, dass er seit über einer Woche nicht mehr nur bei den Nachbarn im
Haus vor die Türen kacken musste (andere Nachbarn im Haus hatten auch Hunde, so leicht konnte Sigurd das nicht nachgewiesen werden). Sie gingen eine Weile, bis sie Sigurds Ziel erreichten. Als niemand zu sehen war, band Sigurd den Hund vor der Notaufnahme des Krankenhauses fest, hing ihm einen Zettel mit dem Namen der arroganten Ärztin vom letzten Juli um den Hals und kehrte
zurück zu Gnulda.
Probleme lösen konnte er.
5 Und es war Sommer
Vorbei waren der Sommer der Demütigung, der Herbst der Selbstfindung, der Winter mit Gnuldas Einzug, der Frühling mit dem Erreichen der 69 und der Sommer hielt Einkehr in die Stadt. Das bedeutete auch: das nächste Betriebsfest, das denkwürdige. Doch wie so oft geschah etwas, das Sigurds Pläne durchkreuzen sollte. Die Frauen der Arbeitskollegen hatten die Nase gestrichen voll
davon, wie ihre Männer nach jeder Grillparty nachhause kamen und luden sich kurzerhand selbst zum nächsten Betriebsfest ein. Hugo wäre damit zwar offizielles Betriebsfestgetränk, aber erstens vertrug Sigurd mittlerweile Bier und Schnaps, zweitens wären die T-Shirts, die frisch gebügelt seiner süßen Rache harrten, überflüssig. Und Gnulda war immer noch keine Quasselstrippe und
würde vermutlich mit gelangweilt und schlechtgelaunt neben ihm sitzen und die anderen Frauen anschweigen. Klar war auch, dass deren notgeilen Männer der Sabber aus den Mundwinkeln triefen würde bei Gnuldas Anblick und die pure Eskalation mit einem Rudel eifersüchtiger Frauen vorprogrammiert wäre.
Was also tun? Mittlerweile war er im Lösen von Problemen bewandert, hatte sich vom kompletten über einen mittelmäßigen hin zu einem Kaumnochidioten gewandelt und außerdem eine Idee. Er würde zwar mit Gnulda zum Grillen fahren, sie blieb aber in Sichtweite im Auto sitzen, damit die Kollegen sie endlich zu Gesicht bekämen und er wenigsten eine kleine Genugtuung. Sollte die Angelegenheit mit eifersüchtigen Frauen ruhig ohne ihn ablaufen, je schweigsamer die Kollegen am
Montag sein würden, desto größer wäre seine Schadenfreude. Dann würde er erklären, dass ihnen leider ganz kurzfristig eine Einladung für ein recht exclusives Modellshooting für Gnulda dazwischen gekommen wäre und sie unbedingt den reservierten Privatflieger nach Madrid, Mailand oder sonst wo in Italien erreichen müssten.
Der Plan ließ sich gut an, Gnulda war sommerlich leicht gekleidet, die langen Haare toll gestylt, sie saß mit den nackten und schön gebräunten Füßen auf der Ablage vor der Windschutzscheibe neben ihm und war von allen gut zu sehen, als er im Schritttempo und hupend am Grillplatz entlang fuhr.
Kurz hielt er an, rief „Ich komme sofort !“ aus dem Fenster und stellte ein paar Meter weiter den Wagen auf dem Schotterparkplatz ab. Dass Gnulda hinter den begrenzenden Sträuchern nicht mehr zu sehen war, konnte er verschmerzen, mit weit aufgerissenen Großmäulern hatte jeder einzelne Kollege sie bereits angestarrt.
Nicht nur ein paar Autos seiner Kollegen standen auf dem Parkplatz, auch ein BMW mit recht jungen Leuten stand dort, diese saßen auf der Motorhaube oder lungerten daneben, vergnügten sich mit Dosenbier und ließen einen fetten Joint kreisen.
‚Auch eine Idee, das Leben zu genießen’, dachte Sigurd, grüßte die Jungs freundlich, die grüßten ebenso freundlich zurück. Er schlenderte lässig wie nie zuvor in seinem Leben zu den anderen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.
Jetzt sein Spruch, eine kurze Wirkungspause, mit der Hand winken (wieder lässig), auf den Absätzen umdrehen (sehr lässig) und mit einem Daumen in einer Hosentasche (ganz besonders lässig) zurück zu Gnulda.
Er hatte seinen Auftritt, und dieser Auftritt würde noch in 100 Jahren das Thema schlechthin in der Firma bleiben.
Als er fast am Auto ankam sah er, dass die Jungs mit dem BMW verschwunden waren. Und auch Gnulda war nicht mehr zu sehen. Er sah weg, wieder hin, schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen. Zum Auto hatte er zu rennen, zu rufen, zu schreien, doch er stand starr wie sein eigenes Denkmal. Dann merkte er, dass er vor Panik sie Luft angehalten hatte, sein Zwerchfell löste sich und der längst überfällige Schrei ertönte:
„Gnuuuuuuuuldaaaaaaaaaa!!!“
Endlich lösten sich auch die Füße vom Boden, Sigurd rannte und schrie und schrie und rannte. Kam am Auto an, riss die Fahrertür auf um zu sehen, ob Gnulda vielleicht ohnmächtig von der Hitze in den Fußraum gerutscht war oder müde und schlafend auf der Rückbank lag.
Gnulda war weg. Ein weiterer Schrei, dann noch einer, in jede Himmelsrichtung schickte Sigurd den Namen seiner geliebten Frau, auch in den Himmel, durch die Wolken bis an jedes Gestirn der endlosen Weite.
Und er wusste, dass sie nicht antworten würde, das hatte sie noch nie getan.
Sigurd rannte ziellos in jede Richtung, in der er Gnulda vielleicht finden könnte. Als ihm die Erkenntnis kam, gaben seine Beine nach und er fiel schluchzend ins Gras. Von Heulkrämpfen geschüttelt verstand er endlich, was geschehen war, denn Gnulda hatte ihn nicht aus eigenem Antrieb verlassen, das hätte sie nie gekonnt, das hätte sie ihm nie angetan. Die Typen mit dem BMW, die die ganze Zeit grinsend in der Nähe seines Wagens abhingen. Die trinkenden und kiffenden Idioten, die so freundlich wirkten. Sie hatten Gnulda entführt.
6 Jedes Problem findet ein Ende
Wach wurde er, als der Regen heftig wurde und er nicht weit entfernt von der Stelle, wo vor einem Jahr die Geschichte ihren Anfang nahm, in der aufgeweichten Wiese lag. Nicht verkatert, ohne Schmierereien im Gesicht, ohne Platzwunde an der Stirn. Und trotzdem in einem so jämmerlichen Zustand, dass er lieber die Uhr zurückgedreht und sich in die damalige Lage versetzt hätte. Da war es nur eine tiefe Demütigung, jetzt war es der Verlust seiner Liebe, seiner Zukunft, seines ganzen Lebens. Alles war weg.
Irgendwann war er zuhause, wusste nicht, wie er dahin gekommen war. Stand unter Dusche, ohne sich ausgezogen zu haben. Sogar die Schuhe hatte er noch an. Langsam kam er zu sich und überlegte. Alles der Reihe nach, Prioritäten setzen, das konnte er.
So hatte er es an seinem ersten Tag mit Gnulda auch gehalten, so hatte er sie – auch wenn sie das kommentarlos hingenommen hatte – auf Anhieb beeindruckt. An ihren Augen konnte er das sehen, an ihrem Strahlen. Liebe braucht keine Worte, das hatte er in all den Monaten erfahren, als das Glück in seinem Leben Einzug gehalten hatte.
Also, das Wasser abstellen als erster Schritt. Dann die Schuhe ausziehen, am besten noch in der Dusche. Wenn Gnulda wieder da wäre, hätte er viel zu erklären, aber die Wohnung sollte nicht wie ein Schlachtfeld aussehen. Er trocknete sich ab, zog sich trockene Sachen an und auch gleich trockene Schuhe. Er musste bereit sein. Wofür bereit, das wusste er nicht, bereit zu sein klang nach einer guten Idee und gab ihm Hoffnung.
Ein Plan! Er brauchte einen Plan!
Den guten Füller hatte er noch, leere Bögen seines guten, handgeschöpften Papiers auch. Altvertraute Gewohnheiten gaben Sicherheit in diesem Chaos, er setzte sich wie früher an seinen Küchentisch um den Plan zu erstellen.
Das Blatt blieb leer, was halfen auch gedrechselte Formulierung mit Worten, die er schnulzigen Liebesromanen stehlen konnte, wenn es um die Entführung seiner Gnulda ging. Sein Kopf blieb so leer wie das Papier vor ihm, er war drauf und dran, wieder unter die Dusche zu gehen, als er auf einmal wusste, was zu tun ist.
Er rief die Polizei an!
Es war ein schwieriges Telefonat, die Ausgangslage konnte Sigurd gut beschreiben, auch eine so detaillierte Personenbeschreibung, dass sich der Beamte am Telefon mehrmals räusperte und darauf hinwies, dass manche Details im Augenblick verzichtbar wären. Bei Gnuldas Namen traute er sich nicht, die Wahrheit zu sagen, außerdem hieß sie jetzt so wie sie hieß und seinen Nachnamen trug sie schon so gut wie sicher. Zur Wache kommen wollte Sigurd keineswegs, lieber würde er zuhause
sitzen bleiben, am Telefon, um auf einen Anruf der Entführer und auf eine mögliche
Lösegeldforderung zu warten.
Erst der Einwand des Beamten, wie wichtig ein aktuelles Foto für eine Fahndung sei und ein paar behutsam angedeutete, mögliche Konsequenzen für Gnulda in der Hand ihrer Entführer konnten ihn überzeugen.
Mögliche Konsequenzen! Sigurd war gerade dabei, den Katalog, durch den er Gnulda gefunden hatte, aus dem Schrank zu holen, als er sich wieder hinsetze.
Die zweite Lähmung an diesem Tag befiel ihn, als dieser Gedanke sich in seinem Kopf auszubreiten begann. Konsequenzen. Für Gnulda. Für seine einzigartige, zarte, sanftmütige Gnulda. Mittlerweile war er in Liebesdingen erfahrener als noch vor einem Jahr und konnte die Bilder nicht abstellen, die
vor seinem geistigen Auge vorüber zogen. Er sah sie leiden, schweigend leiden, seine sprachlose Gnulda. Kurz keimte der Gedanke auf, dass die Männer vielleicht gar nicht so bösartig waren, wie er sie gerade sah, bei ihrer Begegnung wirkten sie schließlich eher wie übermütige große Jungen und überhaupt nicht gefährlich.
Was wäre denn, wenn sie Gnulda einfach überredet hätten und die sie freiwillig mitgegangen wäre? Dann könnte sie jetzt einvernehmlich zusammen sein und sie könnte den Bubis alles das zeigen, was Sigurd ihr bis zur 69 und darüber hinaus beigebracht hatte!
Sigurd wollte wieder schreien, bekam keinen Ton heraus und ließ seinen Tränen freien Lauf. Nein, er glaubte an seine Gnulda, freiwillig wäre sie nie mitgegangen und freiwillig würde sie sich keinem Mann außer ihm anvertrauen. Es war schlimmer. Es musste schlimmer sein. Sigurd steigerte sich in diese Überlegungen hinein, immer neue Gedanken fielen über ihn her, die Bilder in seinem Kopf wurden unerträglich. Ihm wurde bewusst, dass Gnulda mit solchen Erlebnissen nie klarkommen könnte, keine Therapie der Welt würde ihr helfen, schon gar nicht dann, wenn sie nicht
einmal mit Sprache dazu beitragen könnte. Nur er war in der Lage, ihr zu helfen, nur der einzige Mann auf der Welt, der sie wirklich kannte und sie genau so liebte, wie sie ist.
Ein letzter Akt der Liebe, der größte überhaupt. Er würde sie erlösen, wenn es nicht anders ginge.
Doch erst Prioritäten setzen, das zählte immer noch. Nichts war entschieden, alles konnte gut werden. Ein dummer Streich, ein Missverständnis, eine Albernheit, so viel war möglich, es musste nicht gleich das Schlimmste sein. Stark bleiben und logisch, für sie. Und dennoch bereit sein, wofür auch immer.
Sigurd fühlte sich klar und stark.
Er ging zum Schrank und nahm den Katalog, riss die Doppelseite mit Gnulda heraus, mehr brauchte er nicht für die Polizei. Jetzt in die Küche, an den Messerblock. Bereit sein, erlösen und vielleicht auch rächen. Keine Prioritäten setzen sondern spontan entscheiden, wenn es denn nötig wäre.
Dann zum Telefon, die Rufumleitung auf sein Smartphone einrichten. Logisch und klar, immer entlang der Prioritätenliste.
So würde er es Gnulda auch erzählen, wenn sie wieder da ist. Stolz wäre sie auf ihn, schon wieder. Auch auf der Arbeit hätte er genug, um bis zur übernächsten Grillparty geachtet zu werden. Mit einem Hugo in der Hand (so viel Provokation musste sein) und dennoch respektiert und heimlich bewundert. Der Edding nicht für bescheuerte Schmierereien im Gesicht sondern für Autogramme. Seine Geschichte, die Geschichte von Gnulda und dem heldenhaften Sigurd, käme in die Zeitungen, das war sicher. Danach stand eine Verfilmung an: „Sigurd, der Tag des Rächers“. Also Autogramme, ganz klar. Und neue T-Shirts mit genau diesem Spruch. Und das Wechseln der Tonerkartuschen? Er sah die Kollegen schon vor sich, wie sie ihn künftig darum bäten, diese Aufgabe für ihn übernehmen zu dürfen.
Weiter mit den Prioritäten – das Messer. Mit einem Santokumesser in der Hand lief man schließlich nicht einfach zur Polizei. Messer neben die Wohnungstüre legen – check. Katalogseite nehmen – check. Smartphone auf laut stellen – check. Wohnungsschlüssel einstecken – check. Sigurd war so weit und griff nach der Türklinke – check.
Es klingelte.
Die Zeit stand still und Sigurd mit ihr. Er lauschte angespannt, bewegte langsam das Gesicht zum Türspion und sah ins Treppenhaus. Niemand war zu sehen. Das Ohr an das Türblatt. Kein Geräusch. Das Messer. Langsam die Tür öffnen, vorsichtig und geräuschlos. Herzrasen. Keine Prioritätenliste mehr, der Gedanke an Autogramme weit weg. Weiter, die Tür noch ein Stück auf. Dann ganz auf. Kein Mensch auf seiner Etage, unten fiel die Haustür ins Schloss.
Und dann:
Gnulda! Sie lag neben der Wohnungstür und konnte es doch nicht sein. Ihre Kleidung war verschwunden, statt dessen trug sie ein altes verwaschenes T-Shirt mit Metallica Aufdruck. Eine ebenso alte Jeans, die zarten Füße steckten in plumpen grünen Gummistiefeln. Richtig schlimm wurde es weiter oben, an ihrem Kopf. Die langen, ebenholzfarbenen Haare waren verschwunden, die Glatze von einem verrutschten gelben Bauarbeiterhelm verdeckt.
Was sie mit ihrem Gesicht angestellt hatten war viel schlimmer als das, was ihm auf dem Grillfest widerfahren war. Die sorgfältig aufgetragene Schminke war verschmiert, die Oberlippe zierte ein mit schwarzem Edding aufgemaltes Hitlerbärtchen, am Kinn hatten sie einen Spitzbart angeklebt, zurecht geschnitten aus ihren Haaren.
Als wäre alles nicht schlimm genug, konnte er unter dem verrutschten Helm auf der Stirn Buchstaben erkennen. Sigurd kniete nieder, schob sanft den Helm zur Seite:
„PERVERSE SAU“.
Warum nahm er plötzlich wahr, dass es im Haus nach Mittagessen roch? Sauerbraten, ganz klar das Rentnerpaar aus der ersten Etage links, das mit seinen Ordnern. Sein Magen knurrte, was in dieser Situation mal gar keinen Sinn machte. Musik. Osibisa und „Sunshine Day“. So etwas hörte die Frau aus dem Parterre, die immer so bunt angezogen war und ihn als einzige Nachbarin freundlich grüßte. Auch unpassend. Irgendwo über ihm lief ein Fernseher zu laut, es klang nach Kinderprogramm. Als er nach oben sah fiel ihm auf, dass an der Decke ein kleiner Wasserfleck zu sehen war, das musste er den Eigentümern melden. Wann? Morgen oder besser heute? Das mit dem lauten Fernseher sollte auch noch geklärt werden, vor den Eigentümern oder danach? Eine Prioritätenliste, unbedingt, schon alleine wegen Gnulda.
Ach ja, die war auch noch da, lag noch immer auf dem kalten Boden. In die Wohnung bringen, unter die warme Dusche. Und dann erlösen.
Sein Blick wanderte von dem Fleck auf der Decke zu Gnulda, ihre Gliedmaßen waren seltsam verbogen, ganz unnatürlich sah das aus. Er nahm das Messer, hielt es fest in der Hand. Sigurd machte einen Schritt auf Gnulda zu und rutschte auf der Katalogseite aus, die er wohl fallengelassen haben musste, als er seine Frau sah und fiel.
Nun ist ein Santokumesser nicht nur besonders scharf, sondern auch in der Küche vielfältig einsetzbar. Ohne diese Erfahrung jemals nutzen zu können erfuhr Sigurd, dass dieses Messer auch in Treppenhäusern gute Dienste leistet. Dass es mit seiner Klinge von 17,5 Zentimetern und 68 Schichten japanischen Edelstahls sanft zwischen menschlichen Rippen hindurch gleiten und ein Herz so sauber zerteilen kann wie ein Hähnchenbrustfilet auf der Küchenarbeitsplatte. Aber dass er
Dank der hervorragenden dieses Küchenutensils gleichermaßen wenig Schmerz empfand wie das Hähnchenbrustfilet, wusste er in diesem Augenblick verständlicherweise nicht zu würdigen. Das Letzte, was er sah, bevor die Dunkelheit ihn für immer von künftigen Grillfesten entfernte, war Gnuldas Name auf der Katalogseite. Wie er den nur immer übersehen konnte:
REAL DOLL SAPHIRA
Schreibe einen Kommentar