Sagen, was man denkt
Die BILD startet eine irrwitzige Aktion. Kolumne von Heinrich Schmitz
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Nach einer Allensbach-Umfrage haben nur noch 45% der Befragten das Gefühl, die politische Meinung in Deutschland frei äußern zu können. Mit Gefühlen ist das so eine Sache, denn Gefühle müssen mit der Realität nicht viel zu tun haben.
Aber genau mit der Behauptung, man könne in Deutschland seine Meinung nicht mehr frei äußern, machen seit Jahren gerade diejenigen Stimmung, die ihre Meinung am lautesten äußern. Heute wird nämlich nicht etwa derjenige beachtet, der sich seinen Mitmenschen gegenüber korrekt verhält, der seine Meinung begründet vorträgt, sondern derjenige, der jeden Anstand vermissen lässt, der laut ist, der schreit. Es ist die Stunde der Pöbler und Hetzer. Die sozialen Netzwerke sind seit ihren Anfangstagen allen Algorithmen zum Trotz längst zu asozialen Hetzwerken mutiert. Der Idiot, der früher besoffen an der Theke hing und Adolfs Geburtstag feierte, den aber niemand ernst nahm, weil jeder seinen geistigen Horizont kannte, gründet heute eine Facebookgruppe und fühlt sich wie der Führer einer Widerstandstruppe. Und jeder Vollidiot, über den man früher nur gelächelt hätte, findet heute Follower und Unterstützer. Je schlimmer der Tabubruch, um so höher der Effekt. Wenn es also um das Gefühl geht, wie viel Meinungsäußerung möglich ist, dann ist mein persönliches Gefühl, dass die Grenzen sich in eine Richtung verschoben haben, die eher ein ungutes Mehr als ein Weniger bedeutet. Aber auch das ist nur ein Gefühl. Nicht mehr und nicht weniger.
Helden der Meinungsfreiheit
Jeder Dreck wird heute mit dem Zusatz, „Das wird man doch noch sagen dürfen“ heraus posaunt. Und das ist rechtlich in sehr vielen Fällen auch zulässig. Es verletzt zwar die Regeln des Anstands, aber das sind eben keine rechtliche Regeln. Das wird man doch noch sagen dürfen, ist die Parole der Leute, die etwas sagen, von dem sie behaupten, man dürfe es nicht sagen und sich dabei dann vorkommen, als seien sie die Helden der Meinungsfreiheit. Das wird man doch noch sagen dürfen! Und wer ihnen nicht beipflichtet und an die simpelsten Regeln des Anstandes oder der Pietät erinnert, dem wird entgegengehalten, dass die entsprechende Äußerung doch der Meinungsfreiheit unterfällt, was sie meistens tatsächlich tut. Ja, ist ja gut, sie dürfen das noch sagen und damit ist ihr Argument, ihre Meinungsfreiheit sei eingeschränkt, bereits wirksam widerlegt.
Wird ekelhaften Äußerungen aber widersprochen, dann ist gleich das Theater groß. Man wird doch noch antisemitisch, rassistisch oder einfach ein Arschloch sein dürfen. Ja klar, kann man sein. Darf man auch sein. Man muss aber nicht erwarten, dass jedermann einem Arschloch zujubelt. Und es ist eben keine Einschränkung der Meinungsfreiheit oder gar Zensur, wenn einem widersprochen wird. Das ist dann einfach die Freiheit der Gegenmeinung.
Nicht alles, was rechtlich erlaubt ist, muss auch gesagt oder getan werden, wenn es andere Menschen verletzt. Wer meint, das trotzdem tun zu müssen, der will ganz bewusst verletzen. Und eine Gesellschaft von zunehmend in ihrem Menschsein verletzten Menschen, wird am Ende eine verletzte Gesellschaft sein. Da nun die Unanständigen sich aufgemacht haben, diese Gesellschaft und ihre Grundlagen mit Hohn und Häme zu überziehen und den Versuch unternehmen, diese zu spalten, bedarf es des Zusammenhalts aller Anständigen, diese in die Schranken zu weisen. Ob das funktioniert, bezweifle ich zunehmend; aber es ist unumgänglich.
BILD kämpft
Nun will also die BILD den armen Menschen, die das Gefühl haben, nicht mehr sagen zu dürfen, was sie denken, eine Plattform bieten. BILD kämpft für die Unterdrückten. Yeah, yeah, yeah. Kann man sich nicht ausdenken. Ausgerechnet die BILD, die immer wieder mit Hetze auffällt, entwickelt ein Herz für die Meinungsunterdrückten.
Und mal ehrlich, ist das nicht eine wunderbare, nahezu dadaistische Kunstaktion, Menschen dazu aufzufordern, ein Video zu machen, in dem sie sagen, was sie angeblich nicht sagen dürfen? Vielleicht ein Honigtopf, mit dem man Holocaustleugner und Staatsfeinde einsammeln will? Melden sich da bestimmte KSK-Mitglieder, Polizisten und Verfassungsschützer und klagen ihr Leid? Vielleicht auch ein Brainstorming für die BILD, mit dem sie herausfinden möchte, welche niederen Instinkte von ihr noch etwas besser entfacht oder angefacht werden könnten? Ich weiß es nicht, bin aber gespannt, wer alles so ein Video dahin schicken wird. Sind das Leute wie Sie und ich? Ach nee, ich kann es nicht sein, mir fehlt ja dieses Gefühl, Mist aber auch. Sind es eher Leute wie Boris Palmer oder Hans-Georg Maaßen, die sich grundsätzlich immer missverstanden fühlen? Kommt da ein Video von Xavier Naidoo oder Attila Hildmann aus dem Exil ? Oder vielleicht von Ursula Haverbeck, die sich damit zurück in die JVA bringt? Und was meinen die alle nicht sagen zu dürfen?
Wenn selbst die BILD-Kommentatorin meint,
Dass homophobe, frauen- oder ausländerfeindliche Sprüche heute nicht mehr geduldet werden, ist ein Segen.
dann frage ich mich, um welche Meinungsäußerungen es denn gehen soll? Und was soll überhaupt der Blödsinn, ein Gefühl abzufragen? Wie wäre es denn, wenn man konkret gefragt hätte, ob der Einzelne in seiner Meinungsfreiheit – und nicht nur im Kopf – beschränkt ist und falls ja, wie sich das realisiert? Dass Boris Palmer ständig das Gefühl hat, falsch verstanden zu werden, wenn er Kritik erhält, hindert ihn ja nicht daran, zu sagen, was er denkt und dies dann auch über – ja tatsächlich – die BILD zu verbreiten.
Art. 5 GG
Es fällt mir nicht viel mehr als Kopfschütteln ein, wenn einige Zeitgenossen in Deutschland von Zensur oder Meinungsdiktatur faseln. Die gibt’s hier nicht. Das garantiert das Grundgesetz:
Art 5
1. Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
2. Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
3. Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
Ja, eine Zensur findet nicht statt! Isso., ob da jemand etwas anderes fühlt oder nicht.
Und trotzdem behaupten – zumindest gefühlt – immer mehr Menschen das Gegenteil. Vielleicht geschieht das absichtlich wider besseres Wissen, vielleicht ist es aber auch nur ein falsches Verständnis des Zensurbegriffs.
Das Grundgesetz versteht unter Zensur die sogenannte Vorzensur, also die staatliche Kontrolle von Presseerzeugnissen vor ihrer Veröffentlichung. Die gibt es hier definitiv nicht. Und schon gar nicht bei Meinungsäußerungen außerhalb der Presse.
„Lügner, Lügner“, rufen jetzt garantiert ein paar Erregte von rechts und links oder der anderen Seite des Mondes, die „öffentlich-rechtlichen Medien“, die „Systempresse“, der „Staatsfunk“, die „rot-grün versiffte“ Medienlandschaft seien fest in der Hand des Staates, einer ominösen Macht- oder Finanzelite (ein antisemitisches Synonym) und diene nur der Volksverdummung und Kontrolle des entrechteten Bürgers, der eigentlich ein Sklave sei. Dass es in diesem furchtbaren System sogar Sklaven gibt, die komplett von staatlicher Unterstützung leben, ohne irgendwelche Sklavenarbeit zu leisten – geschenkt. Der böse, böse Mainstream-Journalismus und die Cancel Culture verhindern, dass wir die wirklich wahre Wahrheit erfahren. „Gottlose Mietschreiber, eine pädophile, homoperverse Schwulenlobby, kommunistische Linkspresse wie ,taz‘ und“ – bitte nicht lachen, es ist ein Originalzitat – „die ,ZEIT‘ manipulieren uns.“ Ja nun. Auch das darf derjenige meinen und er wird sogar noch in seiner Meinungsfreiheit geschützt, dass man ihn nicht ungestraft Arschloch oder dumme Sau nennen darf, auch wenn man das gerne täte und es vermutlich auch sehr zutreffend wäre. Das wären nämlich Formalbeleidigungen, die strafbar sind. Insoweit also tatsächlich eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zum Schutz des Einzelnen. Aber das böse Wort wird man ja nicht zwingend sagen müssen, um einem Arschloch zu bedeuten, dass es ein solches ist.
Ich bin auf die Veröffentlichung der Videos der Meinungs- und sonstigen Beschränkten echt gespannt, mit denen BILD dem Gefühl der vermeintlichen Meinungsunterdrückung Futter geben wird. Vielleicht nutzt ja der Wendler seine Chance noch einmal, das deutsche Volk mit seinem Meinungsmüll zu beglücken. Egal.
Übrigens, wer wirklich immer alles sagt, was er denkt, ist, falls er das zwanghaft tut, entweder psychisch krank oder einfach unerzogen. Ich hoffe mal, dass das nicht wirklich auf 45% der Bevölkerung zutrifft.