Warum „Don Quixote“ grob die Hälfte aller späteren Literatur überflüssig macht.
Don Quixote ist, wie viele Genreromane heute, Literatur, die zugleich Literaturkritik sein will. Dabei macht der Roman so vieles besser als seine geistigen Nachfolger, dass es nicht nur beeindruckt: Die meisten Nachfolger wirken zudem wie Texte, die in völliger Unkenntnis des Quixote verfasst wurden.
Was für ein großartiges Werk der Don Quixote tatsächlich ist, kann man vielleicht daran ermessen, wie viel der modernen Meta-Literatur, wie ich derivative Werke nennen möchte, die sich vor allem polemisch gegen andere Literatur wenden oder Literatur feiern, er eigentlich überflüssig macht. Würde Don Quixote bis heute gründlich gelesen – die meisten dieser Bücher müssten wohl nicht geschrieben werden.
Zum Beispiel: Mit die gesamte heroische Fantasy mit ihren Kriegeridealen, die der Ritter von der traurigen Gestalt doch längst erledigt hat. Vielmehr aber noch die gesamte Meta-Fantasy, die sich ein ums andere Mal “unterlaufend” an diesen Krieger-Topoi abarbeitet. Denn es gereicht ja doch niemand heran an diesen herrlichen Ritter, der aus Edelmut schlimmste Verbrecher befreit, einen Trauerzug voller Priester niederreitet, einem Barbier seinen Scherkessel abnimmt, da er ihn für den Helm des Mambrin hält, und noch allerlei weitere tolle Abenteuer erlebt, von denen das mit den Windmühlen beinah noch das langweiligste ist.
Die selbstkritische Meta-Phantastik
Das Geniale am Quixote aber ist, dass er nie trotzdem zum Helden stilisiert wird. Die moderne Meta-Phantastik möchte nämlich für gewöhnlich ihren Kuchen haben und essen und dann auch noch blutig zerschnetzeln (in dieser Reihenfolge). Herausragendes Beispiel: Patrick Rothfuss’ Kvothe aus den Kingkiller-Chronicles erzählt zwar den Leserinnen und Lesern wieder und wieder und wieder, dass er eigentlich gar kein Held sei und diese gesamte Heldenverehrung ihm auf die Nerven gehe und überhaupt auch ganz schön dumm sei, doch ist er gleichzeitig noch immer ein übermächtiger Recke und vollbringt, wenn auch von vielen Zufällen begleitet, Heldentat um Heldentat. Und selbst das reicht noch nicht. Als selbstkritischer Superheld stellt er sozusagen gleich noch eine höhere Stufe des Heldentums vor. Mehr Marty Stue geht eigentlich gar nicht.
Nun aber kommt es im Quixote zu einer besondere Wendung, die den uralten Cervantes zugleich so viel moderner macht als seine heutigen Nachahmer, die sich der Nachahmung kaum bewusst sein dürften. Gerade weil Quixote stets die nur in seinem Kopf und in der Verehrung Sancho Panzas bedeutende Elendsgestalt bleibt, die nur manchmal und mit Glück auch eine tatsächlich gute Tat vollbringt, gewinnt die Figur bis heute eine besondere Dignität. Denn diese Erbärmlichkeit eines andauernden Kampfes, in dem es mehr darum geht die eigene Selbstachtung irgendwie doch noch durch eine Welt durchzuboxen, die sie uns Tag um Tag nehmen will, ist noch immer die moderne Existenzweise überhaupt. Im paradoxen Pathos des Ritterlichen, das gleichzeitig lächerlich ist, aber auch noch ein Gran Magie aufbewahrt, wächst der Don Quixote über die reine Abrechnung mit überkommenen Idealen und Rollen dialektisch hinaus. Das, und natürlich sein unglaublicher Sprachwitz, machen ihn zu einem Werk, das dauern wird, solange die Menschheit noch dauert. Mit viel Glück also macht der Quixote noch sein 500. Lebensjahr voll. Abrechnungen mit zeitgenössischer Literatur dagegen haben eher eine kurze Halbwertszeit.
All die „Lesen ist toll“-Bücher…
Aber der Quixote ist ja auch als reine Abrechnung mehr als eine Abrechnung mit (ihm) zeitgenössischer Literatur. Wer hätte etwa gedacht, dass es nach diesem Buch noch unzählige Bücher über die „Magie des Lesens“ geben würde? Wo auch hier der Quixote doch schon wieder beides war: Kraftvolle Beschwörung des Zaubers und listige „Dekonstruktion“ desselben. Eben nicht einfach: „Lesen ist cool“, wie es uns diese unsäglichen Bücher über Bücher heute Mal um Mal versuchen einzubläuen, sondern: Lesen kann etwas Besonderes sein, mit vielen Fallstricken und nicht jedes Buch ist ein gutes Buch, wobei der Quixote als Ritterroman und Roman über sich selbst im zweiten Teil natürlich auch autoaggressiv gegen den Quixote austeilt.
… und Texte, die außer Erzählkritik nichts zu bieten haben
Und zwischendurch ist da noch diese wunderbare kleine Geschichte, die Sancho erzählt, und bei der es nötig ist, das Übersetzen der 300 Schafe über den Fluss Schaf für Schaf nachzuerzählen, wobei Erzähler und Hörer genau aufpassen müssen, wie viele Schafe bereits auf der anderen Seite sind. Denn: Wird die Geschichte nicht sauber erzählt, macht man etwa einen Fehler bei den Schafen, geht es nicht weiter. All die postmoderne Romane, in denen man hin und her springen muss, Fußnoten lesen und die möglicherweise in der Mitte abbrechen oder in denen einem plötzlich ganz leere Seiten präsentiert werden: erledigt. Das kann man einmal machen, so wie es einmal cool war, ein schwarzes Quadrat zu malen, aber zur Marotte geworden, ödet es nur noch an. Drum geht nach dieser kritischen Intervention ins traditionelle Erzählen der Quixote dann zum Glück auch weiter, selbst wenn die Leser bei den Schafen nicht genau mitgezählt haben. Denn irgendwann muss das neue Erzählen eine neue selbstgenügsame Form finden, die sich nicht allein durch den kritischen Bezug auf das angeblich Überwundene definiert.
Schließlich: Neuere Forschungen scheinen nahezulegen, dass der berühmte „falsche“ zweite Quixote, mit dem Cervantes im „echten“ zweiten Teil kämpft, auch aus der Feder Cervantes oder aus einer Art Kollaboration stammen könnte. Stellte sich das als wahr heraus, hätte sich die Kunstgeschichte auch spätere Fakes und Autoren-Verwechselspielchen sparen können. Gibt’s alles schon bei Cervantes.
Schreibe einen Kommentar