1920. Ein Buch, das mit der Vergangenheit von der Zukunft spricht
„1920. Am Nullpunkt des Sinns“ setzt Ideen und Protagonisten der 20er Jahre im deutschsprachigen Raum miteinander in Beziehung, und blickt vermittelt auch auf das jahr 2020. Besprechung von Sören Heim.
War 1920 ein besonderes Jahr? Ich denke, eigentlich nicht, und tatsächlich legt 1920. Am Nullpunkt des Sinns von Wolfgang Martynkewicz das auch nicht wirklich nahe. Das Jahr wurde wohl herausgezogen, weil sich so die Parallele zu 2020 anbietet. Gewissermaßen vor allem ein Verkaufsargument. Martynkewicz macht im Verlauf seiner Ausführungen dann auch durchweg klar, dass eigentlich ein Kontinuum behandelt wird, das sich mindestens von der Zeit des Weltkrieges bis in die späten 20er zieht. Geschickt sind entscheidende Werke und Ereignisse aus dem Jahr 1920 miteinander verknüpft und gegenübergestellt, doch hätte man Ähnliches sicher auch für 1921 oder 22 finden können. Ein Problem ist das nicht. Anhand entscheidender Begriffe und Ereignisse umkreist 1920 das, was man mit dem ebenfalls behandelten Sigmund Freud als das „Unbehagen an der Kultur“ bezeichnen könnte, des Weiteren die Angst vor und die Faszination für die Masse und die Sehnsucht weiter Teile der Gesellschaft nach einer Erlöser-Figur, vielfach auch schon deutlicher formuliert nach einem Diktator oder Führer. Freud, Döblin, Brecht, Einstein, Jünger und andere treten auf und werden durch ihre Schriften und Lebensumstände miteinander in Beziehung gesetzt. Auch wer glaubt, sich mit diesen Autoren, der Zwischenkriegszeit und dem langsamen Weg in den Nationalsozialismus bereits auszukennen, wird hier noch einiges Neues erfahren.
Die Angst vor dem Abstrakten,
der Fetisch der Ursprünglichkeit
Allein, wie anhand der Begeisterung und der rasch anwachsenden Ablehnung für Albert Einstein und dessen Relativitätstheorie die Abwehr von Komplexität, die Abwehr eines bestimmten intellektuellen Habitus, der sich nicht auf den Patriotismus festlegen lassen will und schließlich der Antisemitismus als ein gemeinsamer Komplex aufgezeigt werden, der eben nicht erst bei manifester Agitation gegen Juden beginnt, ist lesenswert. Das findet man sonst im besten Fall in Schriften, deren Hauptthema die Untersuchung des Antisemitismus ist. Und natürlich kam die Abwehr der Relativitätstheorie nicht allein von rechts. Auch Alfred Döblin etwa, den die meisten als er linken Autor auf dem Schirm haben dürften, tat sich hier hervor:
„Alfred Döblin hat die »gemeinverständliche« Darstellung ein »dutzendmal, absatzweise und im ganzen, gelesen«. Doch verstanden hat er nichts. Er war aufgebracht. »Es begann scheinbar populär; nach einigen Seiten brachen die Formeln los, die leeren kabbalistischen Zeichen der heutigen Mathematik. Man glaubt, ich scherze? Ich scherze ganz und gar nicht. Ich hörte von allen Seiten, hier würden Dinge verhandelt, die zu den allerwichtigsten für einen denkenden Menschen gehören. Vorstellungen würden hier evident gemacht, die eine Umwälzung des gesamten Weltbildes nach sich zögen. Sagte man. In einem dutzend Aufsätzen las ich: was hier, in der Relativitätslehre, vorgebracht würde, sei den Entdeckungen des Kopernikus, Galilei gleichzustellen. Aber Galilei und Kopernikus tragen einfache Tatsachen vor; diese neue Lehre schließt mich und die ungeheure Menge aller Menschen, auch der denkenden, auch der gebildeten, von ihrer Erkenntnis aus!« Döblin lässt seiner Wut auf Einstein freien Lauf, dieser würde ihn von seinem »Recht auf Erkenntnis der Welt« ausschließen. Er benutze die Mathematik dazu, die Menschen mit »sonderbaren geheimnisvollen Figuren« in die Irre zu führen und von der »Natur«, den »Quellen des Lebens«, abzudrängen. Döblin warnte die Leser in einem Artikel vor der »abscheuliche[n] Relativitätstheorie«, er warnte vor der »Hierarchie der jetzt thronenden Wissenschaftler«, nennt sie einen »Geheimbund«, eine »Verschwörung und Freimaurerei der Rechner«“
Auch die, wie mir meine Schul- und Studienerfahrung zeigt, immer noch weit verbreitete Überzeugung von den avantgardistischen Künsten der 1920er Jahre als in erster Linie progressiv wird wohltuend zerschlagen. Ob die italienischen Futuristen mit ihrem
“Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht“,
oder zahmere deutsche Dadaisten mit Überzeugungen wie dieser:
“Wir wollen lachen, lachen, und tun, was unsere Instinkte heißen. Wir wollen nicht Demokratie, Liberalität, wir verachten den Kothurn des geistigen Konsums, wir erbeben nicht vor dem Kapital […]: wir wollen nicht Wert und Sinn, die dem Bourgeois schmeicheln – wir wollen Unwert und Unsinn.”,
und nicht zuletzt Teile des Expressionismus: Auf dem Feld der Kunst wurde die Umwertung der, nein, die Zerschlagung aller Werte, lang vorweggenommen und gekoppelt mit der Grandiosität des individuellen und kollektiven Spektakels und der Strahlkraft charismatischer Persönlichkeiten. All das, was später von den europäischen Faschismen wiederum ästhetisch in die Politik überführt werden sollte. Gewiss, ein Gutteil der Avantgarde in Deutschland wurde zu überzeugten Antifaschisten, doch ob im Angesicht eines ästhetischeren Faschismus wie dem Mussolinis, der ihre Werke nicht verboten, sondern gefeiert hätte wie die Marinettis und seiner Kameraden, sich nicht noch einige mehr hätten verführen lassen? Kunst, so meine Überzeugung, tut wenig, politische Entwicklungen zu befeuern, doch sie dient als hervorragender Seismograf: Der Fetisch des Ursprünglichen und Eigentlichen bei gleichzeitig höchster Technisierung, der später die Faschismen in ihrem Vernichtungsstreben ausmachte, er schlug sich früh in den Künsten nieder. So wie auch heute wieder die Kunst, spätestens seit den späten 60ern, die Spektakellogik und das Polarisierende des modernen Populismus ästhetisch vorexerzierte und immer weiter auf die Spitze trieb, ehe eine politische Bewegung sich das Instrumentarium aneignete.
Der (vermittelte) Blick auf heute
Mindestens ebenso wichtig wie das Damals ist 1920 entsprechend das Heute. Auch wenn es meist nur sehr implizit mitschwingt, 2020 ist immer anwesend. Wenn besorgte Bürger die Sorgen artikulieren, das neue Massenmedium, die Zeitung, verdränge die Lesekultur des sich ins Buch versenken, vereinzele die Menschen und mache sie anfällig für Demagogen, ist das die gleiche Angst, mit der heute über das Internet geredet wird. Ein Indiz, dass am Populismus nicht die Technik Schuld ist, sondern fundamentalere Gründe? Ja und nein. Sicher, es ist absurd, so zu tun, als seien Massenbewegungen und besonders solche völkischer Natur, erst seit dem Internet möglich. Aber die technische Basis heute ist ebenso entscheidend, wie die technische Basis es 1920 war. Ob der Nationalsozialismus ohne Massenmedien und insbesondere ohne das Radio als das Medium der Propaganda-Rede der damaligen Zeit hätte funktionieren können, es darf bezweifelt werden.
All das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem so informativ und gut geschriebenen wie geschickt arrangierten Buch. 1920 Am Nullpunkt des Sinns gehört auf den Lektüretisch aller Leser mit breiterem historischen Interesse.
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