Eine Schande für Europa
„Recht hat er“, hatte ich bei Facebook gepostet und einen Handelsblatt-Artikel über Robert Habecks Forderung, die Kinder aus den Lagern in Griechenland zu holen, verlinkt. Einige Kommentare machten mich sprachlos. – Eine Kolumne von Heinrich Schmitz
Bild von cocoparisienne auf Pixabay
„Holt als erstes die Kinder raus“, forderte Robert Habeck in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Raus aus den hoffnungslos überfüllten Lagern in Griechenland. Raus aus Lagern wie Vathy auf Samos, das für 648 Bewohner gedacht waren, in dem jetzt aber 7500 Menschen leben. Raus aus anderen Lagern wie Moira auf Lesbos und anderen in der Ägäis, in denen nach Angaben der griechischen Regierung insgesamt um die 40.000 Menschen untergebracht sind, obwohl dort nur Platz für 7500 Flüchtlinge ist.
Diese Lager befinden sich auf dem Gebiet der Europäischen Union. Und auf diesem Gebiet gilt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Und Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber die gilt tatsächlich schon seit 1950. Die EMRK schützt alle Personen, die sich im Hoheitsgebiet eines ihrer 47 Mitgliedstaaten aufhalten und zwar völlig unabhängig von deren Staatsangehörigkeit oder deren Aufenthaltsstatus.
Westliche Werte
Man sollte also meinen, dass Flüchtlinge, die sich auf dem Gebiet der EU aufhalten, zumindest menschenwürdig behandelt werden. Schließlich legen die Europäer doch stets großen Wert auf ihre „westlichen Werte“. Dass das eher die Werte von sogenannten Wertpapieren als die immer wieder beschworenen „christlich-jüdischen“ Werte sind, konnte man ja schon länger ahnen, aber dass die Europäer es tatsächlich schaffen, andere Menschen wie Dreck zu behandeln und im Dreck einzupferchen, hätte ich nicht geglaubt. Was da geschieht, ist eine Schande für Europa.
Dabei hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Umgang z.B. der französischen Behörden mit einem zwölf Jahre alten Flüchtlingsjungen aus Afghanistan als „entwürdigend“ gerügt. Das Kind hatte nach Feststellungen des Gerichts monatelang ohne jegliche Betreuung in dem Elendslager „Dschungel“ bei Calais gelebt. Dieses Lager sei eine für Kinder „völlig unangemessene Umgebung“ gewesen. Frankreich habe die Pflicht gehabt, die Kinder in dem Lager zu schützen. Das gilt natürlich nicht nur für ein Kind in Frankreich, sondern für alle Kindern, die in diesen Elendslagern hausen müssen.
Und wie hilft man den Kindern? Richtig – indem man sie umgehend aus diesen Lagern herausholt und in eine menschenwürdige Umgebung schafft – wie Habeck es gefordert hat.
In meiner Facebook-Diskussionsrunde gab es da gleich Widerspruch.
Den SOS-Kinderdörfern gehen wohl die Kinder aus, selbst in Deutschland, wobei in westl. Ländern „Sozialwaisen“, TV-Werbung (neue) gehört eigentlich verboten… “ meinte eine Maria E.
„Hier in Berlin sind die Schulen voll die Kinderärtze voll die Jugendämter überlastet die Unterkünfte voll ( nicht die Container ) wo sollen die Kinder hin und wer soll sich drum kümmern? – kommentierte ein Matthias H.
Okay, die Kinder besoffenen Kinderärtzen (was auch immer das sein mag) auszusetzen, geht natürlich gar nicht. Komisch dass man von diesen Trunkenbolden noch nie was gehört hat. Skandalös.
Ein in verschiedenen Varianten immer wiederholtes Argument, aus welchem Grund Deutschland die Kinder nicht aus den Lagern holen sollte, lautete
Sollten nicht erst einmal die übrigen EU-Staaten, die bislang großteils die Hände in den Schoß gelegt haben, ihre Schuldigkeit tun? Deutschland sollte sich lieber auf die dreimillionen Leute einstellen, die uns überraschen werden, sobald dem Erdogan der Kragen platzt.“ – Gerd P
Ja klar, sollten die europäischen Länder das tun. Aber zum einen sind wir nun mal auch ein europäisches Land und zum anderen möchte ich einem verreckenden Kind nicht gerne sagen,
Äh, hör mal, ich würde Dich ja gerne retten und ich könnte Dich auch problemlos retten, aber, Du weißt schon, das kann ich jetzt nicht machen, weil das geht nur im europäischen Rahmen. Und da müssen wir erst mal eine paar Konferenzen machen, und dann müssen wir das irgendwie einstimmig hinbekommen und , ja tut mir leid, aber die Ungarn und die Polen, ja das sind so ganz fromme Christenvölker, die wollen keine Muslime aufnehmen und deshalb gibt es keine Einigung, ja und deshalb kann ich Dich nun gerade nicht retten. Warte mal, bis der Winter zuende ist, dann hat sich Dein Problem vielleicht schon erledigt.“ – „Rettest Du mich dann?“ – „Äh, nein, aber vielleicht bist Du bis dahin ja schon nicht mehr zu retten. Dann müsste ich Dich nicht retten und – dass musst Du jetzt verstehen – wenn wir dann Bilder von Dir über das Internet weltweit verbreiten, dann hat das bestimmt eine abschreckende Wirkung auf andere, die so ganz ohne Not ihre Heimat verlassen, weil sie uns die Weihnachtsplätzchen wegfressen wollen.“ – „ Ach so. Ja das verstehe ich.“
Nein. Ich verstehe es nicht. Und ich will es auch nicht verstehen. Da sind Menschen in akuter Not, und es besteht offenbar die Möglichkeit, ihnen schnell zu helfen. Und dann werden alle möglichen Ausflüchte gesucht, warum man bzw. Deutschland ihnen leider , leider nicht helfen kann.
Da sind mir doch fast die menschenverachtenden „Patridioten“ lieber, die ganz offen darüber schwadronieren, dass sie gar nicht helfen wollen, nach dem Motto „Nur ein toter Ausländer ist ein guter Ausländer“. Allemal ehrlicher als das geheuchelte Getue der sogenannten Christen.
Ja, wäre toll, wenn die europäischen Länder sich endlich auf einen verbindlichen Aufnahmeschlüssel verständigen könnten. Da hätte kein vernünftiger Mensch etwas gegen. Aber das kann doch nicht bedeuten, dass man den Bedürftigen solange nicht hilft, bis das geschehen ist.
Die Mär vom Pulleffekt
Die Mär, dass durch Hilfe nur Anreize geschaffen würden, der sogenannte Pull-Effekt, ist wissenschaftlich längst widerlegt. Kein Mensch verlässt seine Heimat aus Jux und Dollerei, sondern nur, wenn er es muss. Wenn ihm die Bomben um die Ohren fliegen oder wenn er von Terroristen verfolgt wird oder wenn er nichts mehr zu essen findet.
Ja, es wäre auch ganz toll, wenn man – wie es immer so schön heißt – die Fluchtursachen beseitigt. Aber das tut man nicht, indem man Waffen in alle Welt liefert und sich einen Scheißdreck darum kümmert, was damit angestellt wird. Vermutlich werden sie zu dem Zweck eingesetzt, zu dem sie gedacht sind: zum Töten. Zur Aufrechterhaltung von Diktaturen oder diktaturähnlichen Systemen. Mit diesen Waffenlieferungen werden Fluchtursachen nicht verhindert, sondern geschaffen. Sollten dann nicht wenigstens alle Einnahmen aus den Waffenlieferungen für humanitäre Zwecke eingesetzt werden?
Wenn z.B. Frankreich die Bundesrepublik gleich zweimal um Unterstützung bei Antiterroreinsätzen in Mali bittet und unsere Regierung das ablehnt – ja wo ist denn da die europäische Solidarität, die wir so gerne von anderen einfordern?
Ein weiteres Blödsinnsargument ist ein Kommentare wie:
Dann nehmen Sie doch selbst Flüchtlinge auf.
Klar, ein oder zwei Kinder würde ich auf der Stelle aufnehmen, falls das Jugendamt meint, bei einem alten weißen Mann seien die noch an der richtigen Stelle. Platz wäre noch da. Hier sind ja schließlich schon drei eigene Kinder aufgewachsen. Aber darum kann es gar nicht gehen. Kein Mensch käme auf die Idee, auf die Feuerwehr oder den Katastrophenschutz zu verzichten und diese Aufgabe irgendwelchen Freiwilligen zu überlassen, die gerade Bock haben, einen Großbrand zu löschen. Das sind typisch staatliche Aufgaben. Es ist schon eine Schande, dass es seit Jahrzehnten Spenden und Hilfsorganisationen bedarf, um Aufgaben, die eigentlich staatliche sind, einigermaßen anzugehen.
Tränendrüse
Weitere Kritik lief in die Richtung, Habeck habe mit seinem Vorstoß kurz vor Weihnachten „auf die Tränendrüse“ gedrückt. Schön, wenn es Menschen gibt, die überhaupt noch eine Tränendrüse haben, auf die man drücken kann. Was ist denn das für ein saudummes Argument. Wenn sich die Lage in den Lagern durch den Winter zuspitzt, dann soll man mit seiner Forderung warten, bis Weihnachten vorbei ist oder was?
Natürlich muss diesen Kindern geholfen werden.
Aber die Kinder stecken schon lange in diesem Elend, und wenn der Habeck dann damit 3 Tage vor Heiligabend kommt, um auf die Tränendrüse zu drücken, ist das nix weiter als grüner Populismus. – Reinhold E.
Es ist mir auch scheißegal, ob jemand meint, dass sei doch nur PR für eine Partei. Ja, wenn es denn so sein sollte, was ist schlecht daran, an gerade an Weihnachten daran zu erinnern, dass es Menschen gibt, die dringend unserer Hilfe bedürfen. Muss man da an Wählerstimmen denken, oder kann man ausnahmsweise mal an diese Menschen denken?
Zur Propaganda: Niemand will Herrn Prof. Dr. Meuthen seinen seltsamen Weihnachtsbaum, der angeblich mit einer mir völlig unbekannten deutschen Tradition zu tun haben soll und aussieht als habe er vorher in einer Disco oder einem Puff gestanden, streitig machen, und er kann auch so viele Kerzen anzünden, wie er möchte und sein Kaminfeuer anzünden. Aber der Sabbel, den er dazu in salbungsvollem Ton ablässt – das ist genau die Propaganda, die kein Schwein braucht. Und deshalb verlinke ich den Driss hier auch nicht.
Beruhigend, dass ich nicht alleine angewidert bin von den empathielosen Kommentaren, die auch noch ausgerechnet an Weihnachten von sogenannten Christen abgegeben werden. Ihnen müsste die Weihnachtsgans samt der Knödel im Halse stecken bleiben. Gerade Christen sollten sich eventuell einmal daran erinnern, was ihr Christuskind später so gesagt hat:
Dann wird der König denen zu seiner Rechten sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist! 35 Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; 36 ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben oder durstig und dir zu trinken gegeben? 38 Und wann haben wir dich fremd gesehen und aufgenommen oder nackt und dir Kleidung gegeben? 39 Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er zu denen auf der Linken sagen: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! 42 Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; 43 ich war fremd und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. 44 Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? 45 Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. 46 Und diese werden weggehen zur ewigen Strafe, die Gerechten aber zum ewigen Leben.
Und auch im Talmud heißt es :
Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte“. Und: „Die Gerechten aus den Völkern haben einen Platz in der kommenden Welt“.
Aber ganz unabhängig von religiösen Motiven sollte doch jeder Mensch noch einen Funken Menschlichkeit und Anstand besitzen, um anderen – ganz gleich welcher Herkunft – in der Not zu helfen. Das nennt man auch Humanität. Und die ist spätestens mit der EMRK auch zu Recht geworden. Wer wie die EU den Friedensnobelpreis erhalten hat, sollte zumindest in Zukunft alles tun, damit diese Humanität auf ihrem Boden zu einer Realität wird und sich vor allem an seine eigenen Regeln halten.
Wenn das nicht geschieht, muss halt ein einzelnes Land den Job erstmal alleine machen, meinetwegen als Geschäftsführung ohne Auftrag.
Schöner als mein Freund Claus Bueck könnte ich das Fazit der Diskussion auch nicht ausdrücken:
Manch‘ wohlgefeilten Worte hier entspringen einem zurückentwickeltem Geist, bei dem Herzensbildung kein Teil der Allgemeinbildung ist. Bei Kindern, um die es hier geht, hört die Historie oder Herkunft ihrer Wanderschaft auf eine Rolle zu spielen…es sind Kinder, denen es nicht gut geht – Punkt. Und jeder, dessen Geist nicht völlig verroht ist, der begrüßt diese, statt zu versuchen Argumente zu finden, warum ihnen nicht geholfen werden soll. Und wer das anders sieht, tut mir von herzen leid und hat hoffentlich keine eigenen.
Und besonders ekelig empfinde ich diejenigen, die im Doppelripp auf der Couch Zeilen zum Besten geben, die erklären sollen, warum man denn nicht helfen soll, bzw. das andere doch bitteschön erst einmal mitmachen sollen … erbärmlich. Dieses Land ist voll von Mitfühlenden, die aber nur bereit sind ihrer Nächstenliebe freien Lauf zu lassen, wenn denn die eigenen, geliebten Lebensumständen vollkommen unberührt bleiben … um dann Tränen der Rührung bei „Ist das Leben nicht schön?“ zu vergießen.“
Das war meine letzte Kolumne im Jahr 2019. Ich möchte mich bei allen Leserinnen und Lesern bedanken und wünsche Ihnen und allen Menschen auf der Welt ein friedvolles Jahr 2020.