Von Textnutten und Leverkusen
Anlässlich seiner 100sten Kolumne fällt Henning Hirsch nichts ein, weshalb er beschließt, entweder nach Leverkusen zu fahren oder eine Gedichtstunde im Kölner Pascha zu besuchen
»Was ist eine Textnutte?«, fragt sie.
»Eine was?«
»Ne Textnutte.«
»Eine Nutte, die ihren Freiern vor dem Blowjob ein Gedicht vorliest?«
»Das gibt in diesem Zusammenhang keinen Sinn«, sagt sie.
»In welchem Zusammenhang?«
»Na, im Zusammenhang dieses Leserbriefs, der dir zu deiner letzten Kolumne geschickt wurde. Öffnest du die Post etwa nicht?«
»Nicht alle«, sage ich.
»Das ist mal wieder typisch für dich, dass du nicht alle liest«, sagt sie, »Also ich würde das tun und jedem antworten.«
»Du bist aber halt keine Textnutte wie ich«, erwidere ich.
Geistesblitz in Leverkusen
Während ich drüber grübele, wie eine Textnutte eigentlich aussieht, genauso sexy wie die Damen im Kölner Pascha, das zu meiner Jugend noch unter Eroscenter firmierte, oder doch eher wie der Schreiber Bartleby in Melvilles gleichnamiger Novelle, fällt mir auf, dass ich mittlerweile bei Kolumne Nr. 100 angelangt bin und überlege zwischen Morgenschiss, einer Tasse lauwarmem Filterkaffee und einem Song der Pet Shop Boys auf SWR1, womit ich diese Jubiläumsausgabe am besten füllen kann. Und während ich weiter überlege, will ich vorab schon mal mit einem weitverbreiteten Irrglauben aufräumen: Kolumnisten brüten ihre Ideen weder auf dem Klo aus, noch haben sie großartig Ahnung von dem, worüber sie schreiben. Mir beispielsweise kommen die Einfälle für einen neuen Beitrag oft in der halben Stunde, die ich auf dem Weg ins Büro am Kreuz Leverkusen im Stau verbringe. Keine Ahnung, weshalb das so ist. Leverkusen animiert mich zum Schreiben. Habe über diese Stadt sogar schon mal ein Gedicht getippt. In dem es allerdings recht düster zugeht und der Protagonist – der in der Poetik LI (= Lyrisches Ich) genannt wird – am Ende Selbstmordgedanken hegt. Aber heute ist Sonntag, das Büro bleibt geschlossen, und extra für ne Kolumne ins Auto steigen und bis zur BayArena fahren? Dafür bin ich dann doch zu faul, zumal ich noch im Schlafanzug am Schreibtisch sitze, also vorher erstmal duschen und mir die Zähne putzen müsste. Wobei, unter uns gesagt, nach Leverkusen kann man auch ungeduscht reisen. Riecht dort eh immer nach Chemie.
Also bleibe ich im Schlafanzug, setze einen zweiten Pott Kaffee auf, und rätsele, während die braune Brühe aus dem Filter in die Glaskanne tropft, worüber zum Henker ich heute was zu Papier bringen kann. Letztlich wurde alles schon eine Million Mal gesagt, hunderttausend Mal über den Newsticker gejagt und 999x von schlauen Fachjournalisten und sonstigen Experten kommentiert. Für uns Kolumnisten bleibt da nur die Resteverwertung. Wir sind ja sowas wie digitale Leichenfledderer, die sich um die letzten, halbverwesten Fleischstücke eines Nachrichtenkadavers kloppen, um daraus ein undefinierbares Textgulasch zuzubereiten. Hatte ich Ihnen übrigens schon mal erzählt, dass ich als Student von einem Nachbarn, der sehr erfolgreich im Bestattungsgewerbe unterwegs war, das Angebot bekam, zwischen Sonnenuntergang und -aufgang Leichen zu waschen? War ein wegen des Nachtzuschlags nicht uninteressanter Job, den ich aber, weil mir die Leichen am Tag darauf im Traum begegneten und mich übel beschimpften, dann doch nach der ersten Probeeinheit nicht antrat und stattdessen als Ferienvertretungshausmeistergehilfe in einem Sozialhochhauswohnblock im Kölner Norden anheuerte. Davon hatte ich Ihnen bisher nichts erzählt? Okay, da kann man nichts machen. Werde ich jedoch auch heute nicht tun, weil mich das Schreiben über Leichen depressiv stimmen würde.
Die einsame Nachbarin und ne Gedichtstunde im Pascha
Es klingelt, Die Nachbarin aus der zweiten Etage fragt, ob ich ihr mit Zucker aushelfen kann, denn sie habe vergessen, den zu besorgen und ohne könne sie ihren Kaffee nicht trinken. Dann erkundigt sie sich, ob mir aufgefallen sei, dass die alte Dame aus dem dritten Stock schon seit Tagen ihre Wohnung nicht mehr verlassen habe, ob man sich da Sorgen machen müsse. Ich drücke ihr den Zucker in die Hand, sage, »Die lebt. Hat gestern Abend LAUT Musik gehört«, schließe die Tür und hoffe, dass sie nicht auf die Idee kommt, mir die Ausleihe zurückbringen zu wollen, was sie aber hundertpro tun wird, denn die Nachbarin aus der Zweiten ist weniger auf der Suche nach Zucker als stets heißhungrig auf Kommunikation. Ein chronischer ü50-Single, die mit dem Alleinsein nicht zurechtkommt.
Ich stelle fest, dass ich immer noch im Schlafanzug bin und die Uhrzeit schon leicht fortgeschritten ist. Zehn Uhr am Sonntag, und ich zermartere mir seit zwei Stunden ergebnislos das Gehirn, was heute derart wichtig sein könnte, dass darüber ein 1000- (oder gar 1500-) Wörter-Kommentar lohnt. Für die Nummer-100-Kolumne klafft ein riesiges schwarzes Loch in meinem linken cerebralen Lappen, das jeden Gedankenblitz sofort absorbiert und hinein in die Schublade „Lass die Finger weg von der Tastatur. Das Ergebnis würde kein Schwein interessieren“ saugt. Das ist wie Weltmeister im Training, aber Kreisliga auf dem Platz, denke ich und denke im Anschluss, dass es auch irgendwie zu mir passt. Denn, wem die Ideen für einen Text im Stau am Kreuz Leverkusen kommen – jeweils zu einem Drittel inspiriert durch Beiträge im Radio, Facebookstories und Blicke in die Gesichter der Fahrer in den daneben stehenden Fahrzeugen –, der darf sich nicht beschweren, wenn ihm am Sonntagmorgen zwischen Morgenschiss, Filterkaffee und Nasenhaartrimming nichts Gescheites einfällt.
Ich beschließe deshalb, es für heute sein zu lassen. Morgen ist ein neuer Tag, der Stau in Leverkusen wartet schon auf mich, und die Nummer 101 wird dann hoffentlich gehaltvoller sein als diese Zeilen. Vielleicht gönne ich mir auch eine schöpferische Pause und besuche ein Seminar für Nachwuchskolumnisten. Da flatterte vorgestern ein ganz interessantes Angebot einer auf Schreibblockaden spezialisierten Agentur bei mir rein, die solche Kurse wahlweise in der Toskana – dort kombiniert mit Weinproben – oder einem abgeschiedenen Nordtiroler Kloster abhält. Da ich keinen Wein trinke, entscheide ich mich wohl für das Kloster oder lasse mir ein paar Gedichte im Pascha vorlesen, was mich vermutlich am schnellsten wieder auf den Pfad der Kreativität zurückfinden lässt.
Und nun werde ich endlich duschen, mir die Zähne putzen und mit dem Rest des Sonntags was Sinnvolles anfangen. Denn die Gratis-Textnutterei – entgegen anderslauternder Gerüchte schreiben wir hier nämlich für umme, wofür uns jede Paschahure auslacht – muss mit links aus dem Ärmel geschüttelt werden. Zu langes (Gratis-) Nachdenken ist betriebswirtschaftlich unvernünftig. Da gehe ich lieber eine Runde am Rhein spazieren.
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