Le Bonheur par Aznavour – Ein literarisches Feuilleton

Kolumnist Wolfgang Brosche verneigt sich ein letztes Mal vor dem großen Chansonnier Charles Aznavour


In der Nacht zum 1. Oktober ist Charles Aznavour gestorben. – In jenen geheimnisvollen Tagen der Wintersonnenwende, an denen der Legende nach kaum Wind weht und die Welt lind ist, an denen man sich Geschenke macht, schrieb ich diesen Text um die letzte Jahreswende, nachdem ich Aznavour wiederentdeckt hatte …

In der vergangenen Nacht oder am frühen Morgen, in jenen Stimmungen ohne Zeit, wenn die Phantasie mit der Melancholie zu schweben beginnt und ich, der Nichtraucher, Sehnsucht verspüre, das Gewölk eines Zigarillos, dieses sinnlos schöne Nichts, in die Dämmerung zu hauchen, bin ich dem Glück begegnet. Auf ARTE habe ich ein Konzert gesehen, das Charles Aznavour 2014 im Pariser Olympia gegeben hat.

Das Glück ist ein über neunzig Jahre alter Mann, klein und zart, weißhaarig und häßlich, der sich anderthalb Stunden allein auf die Bühne wagt ins Nordlicht, ein Licht, das zugleich nichts verbirgt und doch alles verzaubert.  Der alte Mann machte nichts anderes als was er sein Leben lang gemacht hatte: er sang seine Lieder – und damit machte er: Alles. Er ließ Licht sein, Schatten und Dunkelheit, die Sterne, das Getier, das Meer und den Wind über dem Land und die Menschen, die Männer, die Frauen, die Kinder und den Reichtum all der Geschlechter, die es sonst noch gibt. Er sang seine Lieder, viele alte, einige neue. Lieder über die Liebe, das Leben, den Tod, die Einsamkeit und die unmögliche Zweisamkeit, Lieder über die Fülle und die Armut der Gefühle.

Und ich war traurig und glücklich zugleich, traurig weil man nicht wissen kann, wie lange er noch singen wird und glücklich, weil er sang. Nein, weil ER sang. Sein Singen überwältigte mich mit Erinnerungen, sogar mit Erinnerungen, die ich nicht einmal erlebt hatte, mit Hoffnungen, die immer enttäuscht worden waren – aber immerhin, ich erinnerte mich an ihre Knospen.

Ich ärgerte mich, daß mein Schulfranzösisch noch ungelenker war als damals in der Schule. Dennoch verstand ich jedes Wort, jede Silbe und jeden Ton, obwohl ich (obwohlig – denn nur aus dem obwohl entsteht Widerstand und Leben) nicht einmal richtig Noten lesen kann…
Ich erinnerte mich an Liebe, die ich nie erlebt, an Liebe, die ich vergeblich erhofft hatte und an Liebe, die nie sein wird… – weil Charles Aznavour von der Liebe sang, von seinem Leben und meinem Leben, das er doch eigentlich gar nicht kennen konnte.

Ein alter Mann, der Bescheid weiß und deshalb nicht von sich behauptet, jung geblieben zu sein – diese Selbsttäuschung der Verzweifelten. Aznavour weiß mit den Zweifeln und der Verzweifelung umzugehen, er besitzt den Mut der Verzweifelung und deshalb macht er immer weiter – als ob Camus singen könnte. Aznavour sang von Frauen, die er geliebt hatte und die ihn nicht geliebt hatten; von Frauen, die ihn geliebt hatten, die aber er nicht geliebt hatte; von verpaßten Chancen, von weggeworfenen Chancen und vom Glück, dem er keine Chance geben wollte und das ihn dennoch erreicht hatte. Und ich, der ich mich immer in Unerreichbare verliebe, die sich nicht in mich verlieben, fühlte mich verstanden… Nichtgeliebte verstehen einander wie Liebende einander verstehen! – Ein Mann, der träumt, versteht einen Träumenden… Manche Verletzte verstehen andere Verletzte – und können sogar davon singen; wie bedauerlich, daß ich nicht singen kann…. Hélas, mais alors – manchmal versuche ich es wider besseres Wissen.

Aznavour ist ein Sänger des Privaten, nein, ich korrigiere mich – des Persönlichen. Er singt mit seinen 90 Jahren nicht bloß von seinen glücklichen oder unglücklichen Lieben. Da sein ganzes Erleben der Welt immer von glücklicher oder unglücklicher Liebe geprägt ist, wird selbst ein Chanson wie „Les enfants de la guerre“, über den Völkermord an den Armeniern, ein Lied von der Liebe – von der ermordeten Liebe eines ganzen Volkes, das eben doch aus einzelnen, empfindenden Kindern der Hoffnung bestand und nicht einer anonymen Masse. Mit den heiseren Nuancen seiner Stimme, einer ganzen Skala an ergreifender Heiserkeit – und diese Heiserkeit ist zärtlich – gibt Aznavour den Vergessenen Gesichter – und es wird spürbar: die nicht gegönnte Zukunft der Kinder Armeniens war die Ermordung der Liebe.

Aznavour ist der Sohn eines vor diesem Völkermord an den Armeniern geflohenen Paares. Sein 1924 in Paris begonnenes Leben beweist – man wird eben nicht neu und unbeschwert geboren. Mit der ganzen Last einer mörderischen Vergangenheit wuchs er auf, die zur Last seines Empfindens wurde. Es ist die Last des Verachtetseins. Ob ausgeschlossener und verfolgter Armenier oder verstoßener Sohn oder verstoßene Tochter oder abgewiesener Flüchtling: Wer Menschen verachtet und für minderwertig erklärt, nimmt ihnen nicht allein Stolz und Würde und Leben, er mißgönnt, er raubt ihnen das Erleben möglicher Liebe.

Welchen Widerstand gegen den Menschenmord und den Mord an der Liebe hat dieser kleine Mann entwickeln können, welchen Funken, welche Melodie hatten die Verbrecher bei seinen Eltern doch nicht ausgelöscht, Funken und Melodie, die sie weitergeben konnten an den Sohn. Der stürzte sich hemmungslos, wie er in seinem Chanson über seine achtzehn Jahre, „La jeunesse“, mit restrospektivem Spott erzählt, in die Abenteuer der Liebe und des Lebens. Ein kleiner, häßlicher Troubadour, der sehr groß und sehr schön wurde, wenn er sang. Genau wie Edith Piaf, die sich in die begehrenswerteste Frau der Welt verwandelte, wenn sie sang. Mit ihr verband ihn eine längere Affäre. Beide erkundeten alle Facetten der Liebe und der Traurigkeit – aber er hatte mehr Talent zum Leben als sie. Piaf sang bloß von „La vie en rose“, er lebte das hell- und das dunkelrosenarbige Leben und behielt am Ende auch die Blüten, nicht bloß die Dornen.

Seine Erfolge sind Legende – 200 Millionen Platten sind in Umlauf. 70 Filme hat er gedreht und dabei vom Pianisten bis zum Armenschneider die abgelegensten und einsamsten und schönsten Lebens- und Liebes-Müh-Seligkeiten gespielt. Aber was sollen uns diese Rekorde? Wichtig ist seine Flamme, mit der er uns immer noch entzündet und die, die er in uns zu entzünden versteht. Er treibt keinen Aufwand, außer dem zu sein in kleinen Gesten. So klar wie das Leben, dieser Auftritt: ein Scheinwerfer, ein paar Handbewegungen, ein Heben der Augenbraue, des Kopfes, ein Glänzen in den Augen – das hat er von Piaf. Das Selbstsichere, das hat er von Charles Trenet, das Weltläufig-Charmante von Chevalier – aber das Melancholische, das all das erst so schön werden läßt, das hat er nur von sich.

Das alles ist kalkuliert, aber natürlich…es sind 90 Jahre Leben: das Wissen, daß jetzt das Auge tränen muß, aber nicht zuviel, die Stimme kippen muß, aber nicht abgleiten. Das ist die Souveränität eines gelebten Lebens. Er kann ja nicht jeden Abend sein ganzes Leben noch einmal leben – aber er schenkt uns an jedem Konzertabend Facetten seines Lebens.

Er läßt die Töne seiner Lieder im Publikum versinken und wir meinen ihn noch immer singen zu hören, obwohl doch sein schmaler Mund längst zart geschlossen lächelt…am Ende eines Chansons. Der kleine Mann singt vielleicht auch gar nicht, er hat einen klingenden Körper, den keiner zu verspotten wagt, tendre et delicat. Was Aznavours Lieder heute in uns zum Erklingen bringen sind jene Erinnerungen an das Leben, das wir nicht gelebt haben…aber gerne hätten. In jener Nacht bei ARTE war es wie Erinnerungen an Filme, schwarzweiße zumal, denn in schwarzweiß sieht man besser und das Licht kann unvergeßliche Gesichter und Geschichten zaubern. Farbe ist für die Gegenwärtigen…. Was sind denn das für Filme, was sind denn das für Erinnerungen, was ist Film, was ist meine Erinnerung? – Ich bin in meinem Film: Wange an Wange mit mir. „Allez, dansons joue contre joue“ – Les plaisirs démodés… Natürlich Walzer, „Ma Bohéme“, die unergründlichen Augen von Arletty auf dem „Boulevard du Crime“, in einer Kaschemme, wo auf den Pianisten geschossen wird, wenn er falsch spielt und sich der Rauch eines Zigarillos um ein funkelndes Nachthimmelkleid aus Pailletten wendelt, so ein Kleid, wie es Marlene trägt in „Martin Roumagnac“. Und ich bin „Les yeux sans visage“ in so einer Kaschemme, in nur eine Richtung starrend aus dem Schatten heraus, der meinen früh schütter werdenden Kopf verdecken sollte, die hochgeschlossene Strickjacke um meinen damals dürren Leib gehüllt, fröstelnd wie Cocteau, der Marais entdeckt, und ich stellte mit Erschrecken wie jener mit vierzig fest, daß ich mich mit fünfundzwanzig nicht mehr gegen das Verlieben wehren konnte, denn der andere war berückend und schmerzhaft schön. Ein Moment des Glücks, der nicht glücklich macht, der Zwillingsmoment, in dem ich spürte: ich werde seine Liebe nicht erringen, denn er ist zu schön, er ist zuviel Körper und Spott.

Der schöne Blonde ist längst gestorben, sein Körper war zu gierig nach der Liebe der anderen; so hat er sich den Tod einverleibt. War er ein Einsamer wie ich, der sich nur durch seinen Körper trösten konnte, so wie ich durch meine Einsamkeit mit Worten? – Nicht mal dreißig ist er verreckt, ein geschwächter Körper, der kaum noch atmen konnte und ein einziger Schmerz war, bevor er lebendig zerfiel. Aber immerhin, er hatte die Illusion geliebt zu werden. Hoffentlich!

Mir blieb die Liebe abhanden gekommen…für diesen Zustand sind sie da, die Chansons von Charles Aznavour, für jeweils drei Minuten oder die Länge eines Konzertes machen sie glücklich – sonst würde man es ja gar nicht aushalten. Man kann nicht ein ganzes Leben „Mourir d´aimer“ mit den immer gleichen Schmerzen wie damals, denn die Zeit heilt nichts…aber ein Chanson von Aznavour schafft die Illusion des Trostes…das ist das Glück. Dieses trompe l´oeuil der Liebe, diese Sehnsucht nach dem schönen Körper und dem schönen Blick und dem Tanzen, Wange an Wange, ganz dicht beieinander, altmodisch, wie Aznavour singt, das ist das einzig wahre Tanzen…und wir tanzen, wenn er singt, mit in sein Glück.

Warum lieben wir Stars? Weil wir in ihnen das sehen, was wir nicht zu sein imstande sind. Das ist der Herzschlag aller Illusion. Und deshalb war ich bezaubert – weil dieser kleine, alte, weißhaarige, häßliche Mann mich für neunzig Minuten glücklich machen konnte, mich glauben machen konnte, es gäbe die Liebe.

Jetzt hab ich gar nichts über Aznavour erzählt, oder? Pas du tout – ich habe alles erzählt!

Anmerkungen
*der Titel spielt an auf die Autobiographie „Aznavour par Aznavour“
** Nordlicht – Führungsscheinwerfer, der von steil oben kommt und Stirn und Augen und betont.
Charles Aznavour spielte in „Tirez sur le pianiste“(1961) einen Pianisten, in „Les fantomes du chapelier“ (1982) einen armenisch-jüdischen Armenschneider.
Arletty – Schauspielerin in Filmen des poetischen Realismus, 30/40er Jahre. „Les Enfants du Paradis“ (1944/45), spielt an der Theatermeile von Paris, dem „Boulevard du Crime“, „Martin Roumagnac“ (1946) und „Les Yeux sans Visage“ (1959) gehören zu den bekanntesten Filmen dieses Genres.
Die französischen Zeilen sind Titel von Aznavours Chansons.

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