Unseren täglichen Skandal gib uns heute
Nicht jeder Skandal ist ein Skandal. Oder: der eigentliche Skandal liegt oft hinter dem vordergründigen verborgen, meint Kolumnist Henning Hirsch
Skandal! schreibt der Boulevard.
„Schon wieder ein Skandal“, ruft Herr Meier seiner Frau beim Frühstück zu.
„Wissen Sie bereits über den neuesten Skandal Bescheid?“, fragt Frau Meier ihre Nachbarin Müller, die sie ein paar Stunden später beim Einkauf an der Supermarktkasse trifft.
„Kein Tag ohne Skandal. Man kommt überhaupt nicht mehr zur Ruhe“, antwortet die.
„Das war doch zu erwarten, dass diese Sache uns irgendwann um die Ohren fliegt“, meint Herr Müller beim Abendessen.
„Ein sich anbahnender Skandal“, eröffnet die hübsche Nachrichtensprecherin die 20-Uhr-Tagesschau.
„Diese andauernden Skandale machen einem das Leben wirklich schwer“, seufzen hundert Meter voneinander entfernt Frau Meier und Frau Müller.
„Von einem Skandal möchte ich heute noch nicht reden. Dafür fehlen mir noch genauere Erkenntnisse. Aber schwerwiegend ist die Angelegenheit allemal“, sagt der zuständige Minister im Brennpunkt, der im Anschluss ausgestrahlt wird, und verspricht brutalst mögliche Aufklärung und personelle Konsequenzen. Er selbst habe davon auch erst heute aus der Presse erfahren und müsse nun Versäumnisse seines Vorgängers glattbügeln, erklärt er auf Nachfrage.
„Die Häufigkeit der Pannen und Skandale dieser Regierung ist besorgniserregend“, empört sich am nächsten Morgen ein Leitartikler in der von mir bevorzugten Regionalzeitung.
„Ich trau mich gar nicht, zu fragen“, sagt mein Kumpel Jupp, als ich ihn tags darauf beim Seniorensport treffe. „Worin besteht denn nun eigentlich der Skandal, von dem alle sprechen?“
„So ganz genau weiß ich das auch nicht. Aber es muss eine Riesennummer sein, denn seit 48 Stunden lese und höre ich von nichts anderem.“
Chronik eines hochgejazzten Skandals
tagesschau.de zeichnet die Chronologie der Bremer Ereignisse nach:
Mitte April: In der Bremer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sollen etwa 1200 Asylanträge anerkannt worden sein – und zwar ohne rechtliche Grundlage.
Die damalige Leiterin der Außenstelle, Ulrike B., soll mit Rechtsanwälten zusammengearbeitet haben, die die Flüchtlinge, überwiegend aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, offenbar systematisch zu ihr geführt haben.
Die sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen lauten:
Unklar ist, welche Motivation die Beteiligten für die Bewilligung der Asylanträge ohne rechtliche Prüfung hatten.
Ist vielleicht sogar potentiellen Attentätern durch eine Fehlentscheidung Asyl gewährt worden?
warum die Bremer Außenstelle überhaupt über die Flüchtlinge aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen entscheiden konnte.
Wann wusste Jutta Cordt, die Chefin des BAMF, über die Vorwürfe Bescheid? Wurde dort alles getan, um die Sache aufzuklären?
Wann wusste Innenminister Horst Seehofer Bescheid?
Zwischenfazit 1: bei über einer Million Asylanträge, die seit 2015 zu bearbeiten sind, halte ich 1200 „Fehlentscheidungen“ nummerisch gesehen allenfalls für ein Skandälchen. Fehlentscheidungen in Anführungszeichen, weil sich ja noch gar nicht definitiv herausgestellt hat, ob es sich tatsächlich um solche handelt. Ein Bescheid in dubio pro homo ist ja nicht zwangsläufig falsch, nur weil diese Rechtsauffassung den Hardlinern nicht gefällt.
Hektik bestimmt nun das Geschehen
Da bei Skandalen immer dringend sofort was geschehen muss, wird die, erst vor vier Monaten in die Hansestadt gerufene, Leiterin der Bremer Bamf-Außenstelle umgehend versetzt, der Bundesrechnungshof mit der Überprüfung sämtlicher 18000 (positiven) Vorgänge seit dem Jahr 2000 beauftragt, die Behörde für diesen Zeitraum geschlossen und deren Tagesgeschäft an die Außenstelle Fallingbostel ausgelagert. Was ist ein Fallingbostel? Musste ich erstmal googlen. Klingt so, als würden die Kölner Asylanträge demnächst im beschaulichen Königswinter bearbeitet. Wer kommt bloß auf so eine Schnapsidee?
Benno Schirrmeister schreibt dazu in der ZEIT unter der Überschrift „Bamf-Affäre – Skandal oder Pragmatismus?“ folgendes:
Sicher ist, dass ein Team mit so viel geballter Prüfkompetenz, wie es die Bremer Zaks-Bamf-Taskforce hat, auf Auffälligkeiten stoßen wird. Alles andere wäre angesichts der Überlastung des Bamf in den vergangenen drei Jahren überraschend. Denn seit 2015 sind nicht nur weit mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Das Bamf ist in dieser Zeit auch von einer überschaubaren Institution zu einer großen Behörde mit 7.300 Mitarbeitern ausgebaut worden – mit allen Verwerfungen, die das mit sich bringt.
So begünstigt der Druck, dass jeder Sachbearbeiter pro Tag 3,5 Entscheidungen treffen soll, Pannen. Hinzu kommen die Ermessensspielräume, die durch das Anhörungsverfahren eingeräumt werden und seit 2015 noch erweitert worden waren. Im November 2015 teilte der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) beispielsweise mit: „Asylverfahren von syrischen und von irakischen Antragstellern jesidischen oder christlichen Glaubens werden vom Bamf seit dem 18. November 2014 prioritär in einem vereinfachten Verfahren bearbeitet.“
Das sind genau die Vorwürfe, die nun der Bremer Dependance gemacht werden, weil sie den Gestaltungsspielraum im Zweifel für die Flüchtlinge ausgenutzt hatte.
Dass mutmaßlich vereinfachte Verfahren angewandt wurden, erklärt noch nicht, warum vor allem die Verfahren der beiden Anwälte Irfan C. und Cahit T. in offenbar großem Stil durchgewunken wurden. Ebenso ist unklar, warum die Außenstelle Verfahren aus anderen Orten an sich zog, die sie nicht hätte erledigen müssen.
Menschen, die mit Ulrike B. privat Umgang pflegen, nennen sie eine „Überzeugungstäterin“. Könnte sie sich bereichert haben? „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Doch dass die Regierungsdirektorin ihre Pension nach bald 30 Jahren Amtsleitung aufs Spiel setzte, um Menschen zu helfen, das klingt manchen plausibel. Ulrike B. twitterte immer wieder Berichte über die Not der Jesiden. Das ist die Flüchtlingsgruppe, die am meisten von Ulrike B.s Wirken profitiert haben soll.
Denn bei vielen Bremer Unregelmäßigkeiten, die bislang bekannt geworden sind, handelt es sich um Fälle, in denen andere Bamf-Außenstellen bereits negativ entschieden hatten. Nicht, weil die Fluchtgeschichte unplausibel gewesen wäre. Nicht, weil Zweifel daran bestanden hätten, dass die Betroffenen in ihrem Herkunftsland verfolgt würden. Sondern wegen der Dublin-Verordnung: Die Antragsteller hatten schon in einem anderen EU-Staat Asyl beantragt und sollten deshalb in diese Länder zurückkehren.
Etliche solcher Fälle hatte der Hildesheimer Anwalt Irfan C. nach Bremen vermittelt. Andere hatte Ulrike B. einfach an sich gezogen. Schließlich hatte sich Hannovers Regionspräsident Hauke Jagau (SPD) darüber in der Bamf-Zentrale in Nürnberg beschwert. Als er im Sommer 2016 angeordnet hatte, eine im Übergangslager Friedland abgelehnte jesidische Familie aus dem Irak nach Bulgarien abzuschieben, ersetzte Ulrike B. den Negativbescheid durch eine Anerkennung: Geflüchteten drohe in Bulgarien eine unmenschliche Behandlung.
Im Januar 2018 teilte das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg in einem parallelen Fall allerdings Ulrike B.s Rechtsauffassung: Durch eine Abschiebung nach Bulgarien würde die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt. Ulrike B. hatte offenbar nichts weiter getan, als dem Recht zur Geltung zu verhelfen – möglicherweise dank einer Bamf-internen Regelungslücke.
Offenbar hatte Ulrike B. auch nach Bamf-interenen Maßstäben den Deutungsspielraum, den sie für ihre Entscheidungen genutzt hat.
Insofern die im Moment laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft keine Schmiergeldzahlungen ans Tageslicht befördern, entdecke ich persönlich in Blickrichtung auf Ulrike B. Nullkommanull Skandal. Sie hat geltende Regeln und Ermessensspielräume zugunsten der Flüchtlinge interpretiert. Vom Dienst suspendiert wurde sie bereits im Sommer 2017 aufgrund einer Beschwerde des niedersächsischen Innenministers Pistorius, weil Bremen Negativbescheide des Nachbarbundeslandes, die gegen jesidische Familien ergangen waren, nachträglich korrigierte, was Hannover nicht gefiel. Kann man gut oder schlecht finden. Ein Vergehen ist es nicht.
Leicht unappetitlich wird es, wenn nun einige Zeitungen vorschnell von Asylmissbrauch sprechen. Denn der setzt ja – bisher nicht nachgewiesenen – Vorsatz voraus. Wer soll den Missbrauch betrieben haben: die Sachbearbeiter als sie, wie vom Innenministerium gewünscht, Jesiden schneller durchwinkten, die Anwälte, die einzig das taten, was Anwälte nun mal qua Standesordnung tun, nämlich alle Rechtswege ihrer Mandanten ausschöpfen, die Antragsteller, weil sie lieber bleiben, als in ihre vom Bürgerkrieg zerbombte Heimat zurückkehren wollten? Falsche Begriffe bewirken falsche Meinungen, die wiederum zu falschen Skandalen führen.
Zwischenfazit 2: Die geschasste Behördenleiterin handelte aus Überzeugung und mit hoher Wahrscheinlichkeit regelkonform. Ob sie sich von den zwei Rechtsanwälten hin und wieder zum Essen einladen ließ: sollte man als Beamtin nicht tun; aber ist nun sicher kein Kapitalverbrechen.
Die verschmähte Whistleblowerin
Anfang 2018 wird Josefa Schmid von Deggendorf nach Bremen gerufen. Sie soll die, behördenintern schon seit langem als Durchwinke-Einrichtung bekannte, Außenstelle auf Vordermann bringen. Die Niederbayerin wird aktiv und liefert. Und zwar schneller und öffentlichkeitswirksamer als es ihren Vorgesetzten lieb ist. Bereits Ende Februar liegt ein 99-seitiger Bericht auf dem Tisch von Chefin Jutta Cordt, in dem von 1200 mangelhaft durchgeführten Verfahren die Rede ist. Es geschieht erstmal nichts. Man weist Josefa Schmid an, ihren aufklärerischen Elan zu bremsen und die Sache auf dem dafür vorgesehenen Dienstweg geräuscharm abzuwickeln. Die resolute und politikerfahrene Bürgermeisterin will sich den Mund nicht verbieten lassen, wendet sich jetzt direkt an ihren obersten Dienstherrn, den frisch im Amt befindlichen Heimatminister Seehofer. Der reagiert jedoch nicht. Hätte ihre Nachrichten alle nicht erhalten, könne zudem nicht jedem ihm zugesandten Hinweis nachgehen, heißt es später, als die Angelegenheit langsam brenzlig wird. Josefa Schmid zieht man derweil von Bremen ab und beordert sie zurück in die niederbayerische Provinz. Aus Fürsorge, erklärt die Nürnberger Zentrale. Wem die Fürsorge gelten soll allerdings nicht.
Zwischenfazit 3: Das Unter-den-Tisch-kehren eines brisanten Papiers und die wochenlange Nicht-Reaktion des Ministers lassen sich schon eher in die Rubrik Miniskandal einsortieren
Bamf: seit 2015 völlig überfordert
Der eigentliche Skandal ist die extrem hohe Zahl falscher Entscheidungen, die nachher von Verwaltungsgerichten korrigiert werden. Bei einer Quote von 40% könnte das BAMF genauso gut würfeln, das wäre günstiger und rechtsstatlich gesehen ungefähr genauso zuverlässig. Das ist aber leider der Skandal, über den nicht geredet wird, obwohl das Ergebnis das gewünschte Ergebnis der „Reformen“ beim BAMF darstellt.
Ich empfinde es als skandalös, dass erwartet wird, von jetzt auf gleich die Antragsbearbeitung zu verzehnfachen (wie kann das funktionieren?), als skandalös, dass dem Anschein nach unzureichend geschultes Personal entscheiden durfte, dass kritische Mitarbeiter (nicht zuletzt Josefa B. Schmid Schmid) ruhiggestellt werden sollten, dass das Kanzleramt die Flüchtlingsfrage erst zur Chefsache gemacht hat und jetzt schweigt, dass Seehofer vermutlich zu spät reagiert hat, dass sich viele Beteiligte (auch aus der Opposition) einer externen Prüfung verweigern und so das ohnehin ramponierte Vertrauen in die Behörde weiter beschädigen, dass die korrupte/fehlerhafte/gesinnungsorientierte Bearbeitung gegen rechtmäßig beschiedene Personen instrumentalisiert wird und vieles mehr. Ja, ich halte es es für einen Skandal.
(c) zwei Facebook-Freunde in meinem Profil
Hier nähern wir uns dem eigentlichen Kern des Problems – nämlich:
(1) Dem augenscheinlichen Missverhältnis zwischen Quantität Antragsteller und Anzahl Sachbearbeiter
(2) Der oberflächlichen Schulung der Bamf-Mitarbeiter
(3) Der Effizienz-Vorgabe: 3.5 Entscheidungen/ Tag
Die Kombination von (1) & (2) & (3) lässt vermuten, dass das Bamf jede Menge nachträglich anfechtbarer Entscheidungen – und zwar in beide Richtungen. Sowohl positiv als auch negativ – fällte. Kein Wunder, dass Gerichte im Anschluss so häufig die fehlerhaften Bescheide wieder einkassieren.
Fazit
Der eigentliche Skandal liegt darin, dass eine chronisch unterbesetzte Behörde mit teils schlecht ausgebildeten Mitarbeitern bei Beachtung illusorischer Zielvorgaben über das Schicksal von Menschen entscheidet, die häufig eine Flucht unter Lebensgefahr hinter sich gebracht haben und im Falle der Ablehnung erneut von Lebensgefahr bedroht sind.
Und da der Fisch zumeist vom Kopf her stinkt, müssen Innenministerium und Kanzleramt hier mehr in die Pflicht genommen werden. Wer sagt, „Wir schaffen das“, hat auch die notwendige Infrastruktur und Personalstärke bereitzustellen, damit die hochwichtige Aufgabe der Überprüfung von Dokumenten und die im Anschluss erfolgende Entscheidung seriös, plausibel, belastbar und möglichst geräuscharm über die Bühne gehen.
Sowohl Ulrike B. als auch Josefa Schmid waren – obwohl ich mich in Blickrichtung auf zwei Damen etwas schwertue mit diesem Begriff – Bauernopfer. Die Motivationslagen der zwei Frauen für ihr Handeln könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Erstgenannte wollte helfen, die Nachfolgerin publikumswirksam einen Enthüllungsbericht platzieren und dadurch ihre Karriere fördern. Beide Aktivitäten zulässig.
Skandal ist vom altgriechischen skándalon hergeleitet und bedeutete ursprünglich Fallstrick. In dem verheddert man sich zuerst, bevor man auf die Schnauze fällt. Die Verantwortlichen für die Bremer Misere (so es denn am Ende der Untersuchung überhaupt noch eine ist) sitzen weiter oben in der Hierarchie. Bin gespannt, wer nach Abschluss der Ermittlungen im Skándalon noch so alles straucheln und sich eine blutige Nase holen wird.
Bisher: viel Skandal-Geplärre um eine nicht geklärte Angelegenheit. Die Empörungsindustrie hat mal wieder „gute“ Arbeit geleistet
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