Warum Arme früher sterben

Wer wenig Geld hat, muss früher sterben – eine niederschmetternde Diagnose. Aber liegt das am Essen? Und was ist zu tun?


„Was geht alles für 4.80 Euro?“ fragt Henning Hirsch in seiner gestrigen Kolumne „Kochen mit Hartz IV“. In dem Text finden sich viele Behauptungen, über deren Wahrheitsgehalt unter denen, die meinen „Hartz IV ist staatlich verordnete Armut“, weitgehend Einigkeit besteht. Die Kommentare unter dem Artikel und bei Facebook bestätigen das eindrucksvoll. Das ist der Grund, warum ich diese Kolumne nicht einfach ignorieren kann, wie ich es eigentlich wollte, sondern doch kritisch nachhaken muss.

Was hat Kochen mit dem frühen Tod zu tun?

Schon im Teaser stellt Henning Hirsch eine Beziehung her zwischen der „Armut“ der Hartz-IV-Empfänger und ihrer gegenüber den Reichen deutlich niedrigeren Lebenserwartung. Ohne es ausdrücklich zu sagen, aber durch eine eindeutige Zusammenstellung der Sätze provoziert er die Schlussfolgerung: da Hartz-IV-Empfänger sich von dem bisschen Geld nicht vernünftig ernähren können, müssen sie früher sterben.

In einem Online veröffentlichten Text ist es ein Leichtes, die Herkunft solcher Angaben durch eine Verlinkung anzugeben. Merkwürdigerweise verzichtet der Autor darauf, was umso mehr überrascht, als er seine Erkenntnis als Ergebnis einer Recherche preist. Bemüht man selbst eine Suchmaschine, wird schnell klar, warum. Man erfährt nämlich, dass es in erster Linie ganz andere Gründe sind als die Ernährung mit billigen Lebensmitteln, die zu einer geringeren Lebenserwartung bei Menschen mit geringerem Einkommen führen. Klickt man sich durch die verschiedenen Studienergebnisse der letzten fünf Jahre, dann erkennt man, dass eine insgesamt ungesunde Lebensweise, weniger Sport, höherer Tabak- und Alkoholkonsum, geringeres Gesundheitsbewusstsein wesentliche Faktoren sind, warum Menschen mit geringerem Einkommen eine kürzere Lebenserwartung haben. Hinzu kommt vor allem bei Frauen die psychische Belastung durch Einkommensknappheit, bei Männern die oft schwerere und ungesündere Arbeit der unteren Einkommensgruppen. Zur Erhöhung der Lebenserwartung tragen auf der anderen Seite offenbar höhere Bildung und ein umfangreiches Freundesnetz bei.

Interessant sind auch die Studien zur Lebenserwartung von Lottogewinnern, die zeigen, dass eine plötzliche Erhöhung des Einkommens bzw. des Wohlstandes nicht zu einer Erhöhung der Lebenserwartung führen. All das zeigt, dass es ein sehr komplexes Beziehungsgeflecht zwischen Einkommen, Lebensweise, sozialer Einbindung und Bildung gibt. Was Ursache und was Wirkung ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Keineswegs gilt: wer wenig Geld für Ernährung ausgeben kann, stirbt früher, wie es Henning Hirsch nahelegt.

Wer die Würde nimmt

Argumentationen wie die von Henning Hirsch laufen immer wieder darauf hinaus, dass die Menschen mit geringem Einkommen gar nichts an ihrer Lage ändern können. Sie erscheinen darin als die hilflosen Opfer einer bösen Welt, die nichts für sich tun können und denen der Staat einfach die Zuwendungen erhöhen muss, damit es ihnen besser geht und damit sie endlich in Würde leben können. Aber diese angebliche Sorge um die Würde dieser Menschen nimmt ihnen in Wirklichkeit die Menschenwürde – denn als Mensch lebt man in Würde, wenn man sich als selbstbestimmtes Wesen versteht, dass seine Situation begreift und aktiv verändert. Die Studien zum Zusammenhang von Lebenserwartung und Einkommen leisten dazu einen guten Beitrag – sie zeigen, was man tun kann, um sein Leben selbst aktiv zu gestalten und das Beste daraus zu machen. Wer die vielfältigen Zusammenhänge auf den einfachen Satz „Bist du arm, dann musst du eher sterben“ reduziert, trägt dazu bei, dass die Betroffenen ihre Situation gerade nicht verstehen und wie gelähmt in ihrer Bedürftigkeit verharren.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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