Falsches Spiel mit Leopoldo Lopez?

Venezuelas Oberster Gerichtshof hat Oppostionsführer Leopoldo Lopez überraschend aus der Haft in den Hausarrest entlassen. Ein Gnadenakt des Maduro-Regimes für einen Schwerkranken? Oder steckt hinter dieser überraschenden Wende doch politisches Kalkül? Es wird spannend zu sehen, wie beide Seite aus der Freilassung Nutzen schlagen wollen.


Für viele, die am Wochenende am Rande des G20-Gipfels in Hamburg gegen Kapitalismus und Freihandel demonstriert haben, dürfte Venezuela lange so etwas wie ein Vorbild gewesen sein. Ein sozialistischer Operettenstaat mit einem linken Volkstribun, der Unternehmen im Handstreich verstaatlichte und salbungsvoll gegen Imperialismus, Marktwirtschaft und die USA agitierte. Und so erklang unter anderem aus der deutschen Linkspartei regelmäßig Bewunderung für Revolutionsführer Hugo Chavez. Der ist mittlerweile mehr als vier Jahre tot. Seitdem ging es mit Venezuelas Wirtschaft ebenso steil bergab wie mit dem Ölpreis. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass der so genannte Sozialismus des 21. Jahrhunderts in der Karibik auch nicht erfolgreicher oder demokratischer ist, als es der Sozialismus des 20. Jahrhunderts in Mittel- und Osteuropa war. Mangel aller Orten, eine katastrophale Versorgungslage und ein kollabierendes Gesundheitssystem sind nur die sichtbarsten Folgen von fast 20 Jahren chavistischer Herrschaft in Venezuela.

Chavez glückloser und wenig charismatischer Nachfolger Nicolas Maduro ist im Volk mittlerweile so unbeliebt, dass er nicht einmal mehr gefälschte Wahlen gewinnen kann. So schaffte es ein eher schlecht aufgestelltes Oppositionsbündnis, den Sozialisten im Herbst 2015 die Parlamentsmehrheit abzunehmen. Seitdem versuchen Maduro und seine Leute regelmäßig, die neue parlamentarische Mehrheit mit Hilfe des Verfassungsgerichtes auszutricksen. Dabei sitzen die führenden Köpfe der Opposition seit längerer Zeit in Haft oder stehen unter Hausarrest. Der wohl charismatischste und vielversprechendste Oppositionsführer, Leopoldo Lopez, musste 2014 unter fadenscheinigen Anschuldigen ins Hochsicherheitsgefängnis von Ramo Verde bei Caracas einrücken, wo er angeblich gefoltert wurde und nach Angaben seiner Familie zeitweise in Einzelhaft einsaß. Lopez-Anhänger vergleichen ihr Idol inzwischen mit dem jungen heißblütigen Nelson Mandela und Ramo Verde mit dem südafrikanischen Horrorknast Robben Island.

Venezuela braucht einen Ausweg

Nun erinnere ich mich sehr gut an den 11. Februar 1990, den Tag als Mandela nach 27 Jahren hinter Gittern in die Freiheit entlassen wurde. Obwohl das Apartheid-Regime erkennbar den Rückwärtsgang eingelegt hatte und mit Frederik Willem de Klerk gerade ein relativ moderater Mann Präsident geworden war, überraschte mich die Freilassung des damals wohl bekanntesten Häftlings der Welt. Jedem, der einigermaßen politisch informiert war, musste klar sein, dass mit diesem Schritt unumkehrbar das Ende der weißen Minderheitsregierung am Kap der Guten Hoffnung eingeläutet wurde. Die Weißen stellten nur einen kleineren Teil der Bevölkerung, und Mandela war im Gefängnis zu einer noch größeren Figur herangereift als er sie als in Freiheit lebender Aktivist ohnehin gewesen war. Wer eins und eins zusammenzählen konnte, musste wissen, dass der weiße Anspruch auf Vorherrschaft nicht mehr aufrechtzuhalten war. Instinktiv fragte ich mich an jenem 11. Februar, ob de Klerk und Mandela einen gemeinsamen Plan für die Zukunft ihres Landes haben oder ob Südafrika nun eventuell doch vor einem gewaltsamen Machtwechsel stünde.

Sollte es die Absicht von de Klerk gewesen sein, sich mit Mandela auf einen gemeinsamen Weg hin zur Überwindung der Rassentrennung zu verständigen, dann war die Begnadigung in der Tat eine politische Großtat historischer Dimension. De Klerk und seine Nationale Partei zogen sich wenige Jahre später ohne Aufsehens zurück, um Mandela und dessen Afrikanischem Nationalkongress (ANC) die Macht friedlich zu übergeben. Seitdem ist Südafrika eine Demokratie, in der jede Frau und jeder Mann formal die gleichen Rechte hat. Nach Mandelas Rückzug ist die Situation im Land schlechter geworden, und Südafrika scheint weit davon entfernt, eine perfekte Demokratie zu sein. Aber verglichen mit allen möglichen Alternativszenarien, haben Mandela und de Klerk wirklich das Bestmögliche erreicht.

Zurecht haben die beiden Friedensnobelpreis erhalten. Nie zuvor und nie danach war diese Auszeichnung wohl derart verdient. Nicht zu vergleichen mit den fast schon peinlichen PR-Gags, als etwa der frisch gewählte US-Präsident Barack Obama oder der bürokratische Leviathan Europäische Union mit Preis beglückt wurden.

Könnte Mandela ein Vorbild sein?

Fast noch überraschter als bei Mandelas historischer Freilassung, war ich am vergangenen Samstag, als ich hörte, dass Venezuelas prominentester Häftling Leopoldo Lopez das Gefängnis verlassen dürfe, um nun unter Hausarrest bei seiner Familie zu leben. Staatschef Maduro hat sich bislang deutlich kompromissloser gegeben als der südafrikanische Reformpräsident de Klerk. Und anders als im Südafrika der späten 80er und der frühen 90er Jahre hat die venezolanische Regierung bislang auch keinerlei Signal der Aussöhnung ausgesendet. Im Gegenteil: Regimescharfmacher Diosdado Cabello, Vize-Chef der sozialistischen Partei und so etwas wie der oberste Ideologe der Chavisten, drischt in seiner Fernsehshow „Con el mazo dando“ (was übersetzt in etwa „Mit dem Hammer draufschlagen“ heißt) regelmäßig oft Opposition und gewählte Volksvertretung ein und bezeichnet diese abwechselnd als unfähig, von den USA gesteuert oder obsolet. Maduro selbst hat das Parlament lange Zeit schlicht rechts liegen lassen, bis er vor wenigen Wochen auf die Idee kam, dem Land eine neue Verfassung und eine neue Volksvertretung zu geben.

Das neue Grundgesetz soll aber nicht von einem in allgemeiner Wahl bestimmten Gremium ausgearbeitet werden, sondern von einer Ansammlung von Leuten, die zu einem großen Teil von regierungstreuen Gewerkschaften und anderen chavistischen Organisationen bestimmt werden. Seitdem ist auf den Straßen von Venezuela im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los. Verzweifelte Anhänger der Opposition, die ihr Land auf dem Weg sehen, ein zweites Kuba zu werden, treffen auf Sicherheitskräfte, die finster entschlossen sind, den Protesten so wenig Raum wie möglich zu geben. Die Ergebnisse sind bekannt: Unzählige Tote und Verletzte sowie Zerstörung und Chaos aller Orten. Ein Kompromiss, eine Einigung, schien bislang nicht in Sicht.

Was für ein Spiel spielt Maduro?

Im Gegenteil: Am vergangenen Mittwoch wurde eine weitere Eskalationsstufe gezündet. Als sich anlässlich des Unabhängigkeitstages das von der Opposition beherrschte Parlament versammeln wollte, stürmten regierungsnahe Schlägertrupps das Gebäude. Übereinstimmenden Presseberichten zufolge sollen sie wild um sich geschossen und mehrere Parlamentarier sowie ein Dutzend Angestellte und Journalisten zum Teil schwer verletzt haben. Am Morgen zuvor soll Vizepräsident Tarek El Aissami vor Parteifreunden die linke bolivarische Revolution gepriesen und das Volk dazu aufgerufen haben, „seinen von der Oligarchie entführten Platz einzunehmen“. Honi soit qui mal y pense…Vor diesem Hintergrund wirft Lopez` Freilassung mehr Fragen als Antworten auf. Die Frage aller Fragen lautet einmal mehr: Qui bono? Wem nutzt es?

Haben sich Maduro und Lopez vielleicht auf ein Südafrika-Szenario verständigt, mit friedlicher Machtübergabe und Straffreiheit für die Mitglieder des Ancien Regimes? Oder spielt der Sozialistenfrüher gerade nur ein ganz raffiniertes Blatt, um Dampf aus dem venezolanischen Hexenkessel zu lassen und Zeit und Ruhe für sein umstrittenes Verfassungsprojekt zu gewinnen. Und um anschließend die Umwandlung seines Landes in eine Ein-Parteien-Diktatur à la Kuba noch entschlossener voranzutreiben? Oder wollen die Sozialisten einfach nur ein Szenario vermeiden, wie wir es gerade in Nordkorea im Fall Otto Warmbier erleben mussten. Ein unter mysteriösen Umständen Verhafteter, der im Gefängnis lebensgefährlich erkrankt und anschließend stirbt, so etwas hätten Maduro & Co. selbst den notorischsten Chavismus-Verstehern in der westlichen Welt nicht mehr verkaufen können. Der Aufschrei weltweit wäre groß gewesen. Allerdings machte Lopez auf den ersten Fernsehbildern in Freiheit keinen wirklich schwerkranken Eindruck. Die Wahrheit, sie dürfte wohl in der Mitte von alldem liegen.

Aus Lebemann wurde politische Figur

Für eine Südafrika-Lösung ist es wohl entweder zu früh oder zu spät. Sozialisten und Opposition standen sich bislang nicht nur politisch, sondern auch auf der zwischenmenschlichen Ebene absolut unversöhnlich gegenüber. In Südafrika dagegen dürften führende Vertreter des Apartheid-Regimes die Wandlung Mandelas vom jungen Hitzkopf zum weisen Versöhner schon vor dessen Freilassung respektiert, wenn nicht so gar bewundert haben. In so jemanden kann man Hoffnungen setzen, wenn einem westliche Sanktionen und internationale Proteste das Leben schwer machen und man dringend einen Deal braucht. Anderseits hat de Klerk direkt nach seiner Amtsübernahme deutliche Signale der Annäherung und des Wandels in Richtung ANC ausgesendet. Ein Mann mit der Lebensweisheit und der Klugheit Mandelas musste den Weg erkennen, der ihm da von höchster Stelle geebnet wurde.

Gegenseitiger Respekt und Weitsicht beim Machthaber fehlten bislang in Venezuela. Maduro gab sich als chavistischer Eiferer und Betonkopf. Die Leute, die ihm möglicherweise aus den eigenen Reihen nachfolgen könnten, wie eben Cabello oder El Aissami, gelten eher als noch hartleibiger. Deshalb prognostizierten die Venezuela-Kenner durch die Bank: Die Alternative zu Maduro seien nicht demokratische Wahlen, sondern ein linker Militärmachthaber.

Lopez indes begann wie Mandela als junger Hitzkopf. Ob auch er sich vom begnadeten Tribunen zum Versöhner wandeln kann, bezweifeln einige in Venezuela. Andere halten ihn für intelligent genug, in eine solche Rolle finden zu können. Seine Rhetorik war aber bislang ebenso unversöhnlich wie die von Maduro. Von Seiten der Chavisten dürfte es zu wenig Vertrauen geben, um mit Lopez einen Deal in beiderseitigem Einvernehmen eingehen zu wollen.

Einsteiger Lebemann zog Haft Dolce Vita vor

Ließe sich Lopez aber andererseits zum trojanischen Esel für Maduros Verfassungsreferendum machen, um nach einer Karenzzeit nach Miami oder Panama auszureisen? Und um dort, dank eines nicht unbeträchtlichen Familienvermögens, ein sorgloses Leben zu führen? Dagegen spricht, dass Lopez all das hätte billiger haben können. Längst hat das Regime ihm und seiner Ehefrau Lilian Tintori unmoralische Angebote gemacht. Für die Zusage seines Stillschweigens hätten ihm Chavisten fraglos ein Flugzeug für die Ausreise ins kapitalistische Ausland gechartert. „Seht her, da ist er. Der vermeintliche Volkstribun, der lieber am Strand von Miami seinen Martini schlürft, anstatt dem anständigen Volk von Venezuela bei der Bewältigung des Alltags zu helfen.“ Bessere Bilder hätten sich die Machthaber von Caracas für Ihre PR und die Zersetzung der Opposition nicht wünschen können.

Doch statt sich in Florida zu sonnen, hat der frühere Sonnyboy Haft und Isolierung klaglos ertragen. Selbst nachdem er jetzt das Gefängnis verlassen hat, klingt Lopez nicht wie einer, der sich hat brechen oder kaufen lassen. Unverändert ruft er seine Anhänger auf, für Demokratie und Freiheit auf die Straße zu gehen. Und er sagt, lieber wieder ins Gefängnis gehen zu wollen, als den Widerstand gegen das Regime aufzugeben.

Kompromiss wäre Win-win-Situation

Vielleicht kann man es so sagen: Es ist schwer zu vorherzusehen, ob mit einem Leopoldo Lopez in Freiheit eine tragfähige Lösung für Venezuela möglich ist. Mit einem Oppositionsführer in Haft wäre das Land jedoch noch weiter von einer Aussöhnung entfernt. Und wäre Lopez in seiner Zelle gestorben, dann schiene ein Kompromiss erst recht  unmöglich. Vielleicht wissen es Lopez und Maduro noch nicht, aber der Ex-Häftling hält jetzt die Schlüssel für die Zukunft seines Landes in der Hand. So unterschiedlich die Biographien, die Lebenserfahrung und die Temperamente von Mandela und Lopez auch sein mögen, beide eint Leidenschaft für die Freiheit und das Erlebnis einer willkürlichen Inhaftierung. Und diese Erfahrung hat auch aus einem Lebemann aus der Oberschicht- vielleicht wider dessen Willen – die alles entscheidende Figur für Venezuela gemacht. Lopez` Passionszeit in Ramo Verde hat ihm mehr Autorität verliehen, als er sie als in Freiheit lebender Abgeordneter je gehabt hätte. Und welcher Liberal-Konservative in der westlichen Welt kann schon von sich behaupten, für die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat gelitten zu haben. Lopez, aber auch Maduro & Co., sollten dieses Momentum begreifen und für ihre jeweiligen Interessen nutzen. Ein ,Weiter so‘ schadet beiden Seiten. Anders als es Mandela in Südafrika war, ist Lopez zwar nicht der unumstrittene Hoffnungsträger des ganzen Volkes, er ist nicht einmal die uneingeschränkte Führungsfigur der Opposition. Er dürfte derzeit aber der charismatischste Politiker in ganz Venezuela sein, zudem einer, der inzwischen weltweit bekannt ist und dessen Ehefrau ein globales Netzwerk zu Regierungen und Medien aufgebaut hat. PR, das kann das Powerpaar Tintori/Lopez.

Wenn der Oppositionsführer seinem Land aber wirklich die Freiheit bringen will, dann muss er auch das richtige Maß aus versöhnlichen Worten und Entschlossenheit finden. Falls Maduro und seine Schergen wirklich einsehen sollten, dass ihre Zeit und die des Sozialismus des 21. Jahrhunderts vorbei sind, dann muss der Oppositionsführer ihnen auch etwas anbieten. Eine Generalamnestie für Angehörige des Regimes beispielsweise dürfte ein hoher Preis sein. Aber er ist nicht zu hoch, um Venezuela weiteres Leid und den völligen Zusammenbruch unter einer unfähigen Regierung zu ersparen. Der chilenische Weg der Milde nach dem Rückzug des Autokraten Pinochet könnte ein Vorbild sein. So umstrittenen dieser Pakt zwischen Lagern im Andenstaat bis heute ist, erst er hat Chile die gewaltfreie Rückkehr zur Demokratie ermöglicht.

Nelson Mandela war deshalb so groß, weil ihm in seinen späten Jahren Recht wichtiger war als Rache. Das Lieblingsgedicht des Südafrikaners war bekanntlich ,Invictus‘ von William Ernest Henley. Darin heißt es: ,Ich bin der Meister meines Schicksals, ich bin der Kapitän meiner Seele.‘ Man sollte es Maduro und Lopez vorlesen.

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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