Eine vertane Chance der russischen Demokratie? Der bolschewistische Putschversuch vom Juli 1917 und seine unerwarteten Folgen

Vor etwa hundert Jahren – im Juli 1917 – erlitten die Bolschewiki bei ihrem Versuch, die im Februar 1917 errichtete „erste“ russische Demokratie zu beseitigen, ein totales Fiasko. Die Ausmaße ihrer Niederlage erinnern an das Debakel, das 6 Jahre später eine andere totalitäre Partei, diesmal rechter Prägung, erleben musste. Ich meine damit den Hitler-Putsch vom 9. November 1923. Auch die Nationalsozialisten unterschätzten damals die Kampfentschlossenheit ihrer demokratischen Widersacher. Dass die Verlierer vom Juli 1917 bzw. vom November 1923 es aber vermocht hatten, ihr jeweiliges Debakel recht glimpflich zu überstehen und einige Zeit später ihre politischen Triumphe feierten, gehört zu den schmerzlichsten Kapiteln der neuesten russischen bzw. deutschen Geschichte.


Entsprang die russische Februarrevolution dem „bolschewistischen Geist“?

Die im Februar 1917 errichtete „erste“ russische Demokratie, die acht Monate nach ihrer Entstehung von ihren bolschewistischen Widersachern zerstört wurde, hat in Russland nicht allzu viele Verteidiger. Zu ihren schärfsten Kritikern gehörten viele ihrer früheren Protagonisten, die ihre ursprünglich positive Einstellung zu diesem Ereignis später grundlegend änderten. Zu ihnen zählte auch der einflussreiche russische Publizist Pjotr Struve. In seiner 1922 geschriebenen Abhandlung sah er im Grunde keinen qualitativen Unterschied zwischen der demokratischen Phase der russischen Revolution (Februar-Oktober 1917) und der nach dem bolschewistischen Staatsstreich begonnenen totalitären Phase :

Die Revolution von 1917 und der nachfolgenden Jahre stellt geistig, moralisch-kulturell und politisch letztendlich einen einheitlichen Prozess dar… Die ganze Revolution als Volksbewegung entspringt dem bolschewistischen Geist.

Diese Vermischung der demokratischen und der totalitären Aspekte der russischen Umwälzung ist indes kaum begründet. Die Februarrevolution stellte den Höhepunkt des im Dezember 1825 (Dekabristenaufstand) begonnenen Kampfes der russischen Gesellschaft gegen die staatliche Bevormundung dar. Sie vollendete den 1905 eingeleiteten Prozess der Verwandlung Russlands in ein pluralistisches, auf Gewaltenteilung und Anerkennung von Grundrechten basierendes Gemeinwesen. Die bolschewistische Revolution hingegen stützte sich auf die geradezu entgegengesetzten Prinzipien. Die kurze Zeit bestehende freieste Gesellschaftsordnung der russischen Geschichte wurde im Oktober 1917 durch die unfreieste abgelöst.

Ähnlich wie Pjotr Struve bezichtigt auch Alexander Solschenizyn die politischen Gruppierungen, die das im Februar 1917 entstandene System maßgeblich prägten, eines übermäßigen Radikalismus. Darauf führt er auch das Scheitern dieses Systems zurück. In diesem Zusammenhang spricht Solschenizyn von einer verhängnisvollen Rolle des wohl mächtigsten Organs der Revolution – des Zentralen Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten (ZIK). Seinen für Russland „schädlichen Radikalismus“ erklärt Solschenizyn durch die vorwiegend nichtrussische Zusammensetzung dieses Gremiums, dem die Interessen Russlands angeblich gleichgültig gewesen seien.

Die wahren Sachverhalte werden durch diese Behauptung im Grunde auf den Kopf gestellt. Denn gerade dieses angeblich „unrussische“ ZIK bemühte sich in den ersten Monaten der Revolution unentwegt um die Eindämmung der radikal-revolutionären Stimmung, die damals, die von Solschenizyn derart verklärten russischen Volksschichten erfasst hatte. Um gemeinsam mit den bürgerlich-liberalen Kräften diese anarchische Woge zu kanalisieren, traten gemäßigte Führer der Sowjets sogar in die „bürgerliche“ Provisorische Regierung ein. Und gerade deshalb verlor der Sowjet bei den Massen an Popularität.

Für einige Autoren bedeutet die Errichtung der „bürgerlich“-sozialistischen Koalitionsregierung zugleich das Ende des im Februar 1917 entstandenen Systems der Doppelherrschaft. Aus einem revolutionären Kontrollorgan habe sich nun der Petrograder Sowjet in einen Teil des Regierungsblocks verwandelt. Die immer radikaleren Volksschichten hätten sich von den zentralen Sowjetinstitutionen nicht mehr vertreten gefühlt.

Auch der Arbeitsstil der Sowjetorgane veränderte sich damals sehr stark. Die Sitzungen des Sowjets verliefen nicht mehr so chaotisch wie in den ersten Tagen der Revolution. Aber durch die größere Effektivität büßten die zentralen Sowjetorgane an Popularität ein. Der russische Philosoph und Akteur der damaligen Ereignisse, Fjodor Stepun, meinte, ein wichtiges Wesensmerkmal der Revolution sei das Chaos. Deshalb habe nur ein chaotischer Sowjet der damaligen Gemütslage der Volksmassen entsprochen. Je besser und geordneter der Sowjet zu funktionieren begann, desto weniger Einfluss habe er auf die Massen gehabt.

Bedrohung der Revolution von links?

Trotz dieser Entwicklung wäre es sicher verfehlt, die Errichtung der sozialistisch-bürgerlichen Koalitionsregierung als ein Zeichen für das Ende der Doppelherrschaft zu betrachten. Die sozialistischen Minister der Provisorischen Regierung fühlten sich weiterhin ihrer proletarisch-bäuerlichen Klientel verpflichtet und betrachteten sich als Vertreter der sozialistischen Solidargemeinschaft, die auch die Bolschewiki einschloß. Für das weitere Schicksal der Februarrevolution sollte dieser Sachverhalt von ausschlaggebender Bedeutung werden.

Obwohl die Bolschewiki die gemäßigten Sozialisten unentwegt als „Handlanger der Bourgeoisie“ und „Verräter der Werktätigen“ diffamierten, appellierten sie wiederholt an deren sozialistisches Gewissen und Solidaritätsgefühl, wenn die Provisorische Regierung versuchte, entschlossener gegen die regierungsfeindlichen Aktivitäten der bolschewistischen Partei vorzugehen.

Zu den wenigen Verfechtern einer härteren Vorgehensweise gegenüber den Bolschewiki gehörte der Menschewik Iraklij Tsereteli. Als die Führung des Sowjets am 9. Juni erfuhr, dass die Bolschewiki für den nächsten Tag eine große, gegen die Regierung gerichtete Demonstration planten, ohne dabei die Sowjetmehrheit zu konsultieren, forderte Tsereteli die Entwaffnung der Bolschewiki.

Er vertrat die Meinung, dass die größte Gefahr, die die russische Revolution nun bedrohe, nicht von rechts komme, wie viele Vertreter der Sowjetmehrheit annähmen, sondern von links.

Diese Worte klangen in den Ohren der gemäßigten Sozialisten beinahe blasphemisch. Sie betrachteten die Bolschewiki als einen integralen Bestandteil der sozialistischen Solidargemeinschaft. Demzufolge galt ihnen eine eventuelle Entwaffnung der Bolschewiki als Schwächung des eigenen Lagers, als Verrat an der Sache der Revolution. Einer der Führer der Menschewiki, Julij .Martow, sagte, sollten die Führer des Sowjets Gewalt gegen die Bolschewiki anwenden, würden sie sich in „Prätorianer der Bourgeoisie“ verwandeln.

Tsereteli setzte sich mit dieser Position Martows und anderer nichtbolschewistischer Linken schonungslos auseinander. In seinen Erinnerungen schrieb er: Die nichtbolschewistische Mehrheit des Sowjets habe keine Macht gewollt, um nicht gezwungen zu sein, gegen die Bolschewiki nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten vorzugehen. Die nichtbolschewistische Linke habe es für ein Axiom gehalten, dass Revolutionen ihre Feinde nur auf der Rechten, niemals auf der Linken haben können.

Die Thesen Tseretelis bedürfen indes einer Korrektur. Im Verlaufe des Jahres 1917 gab es durchaus Situationen, in denen die russische Demokratie sich gegen die linksextreme Herausforderung zu wehren suchte, und zwar mit Erfolg. Dies vor allem während eines linksradikalen Putschversuches vom 3.-5. Juli 1917

Das Scheitern des bolschewistischen Putschversuchs vom Juli 1917 – erste Ansätze einer „wehrhaften Demokratie“ in Russland?

Die Ereignisse vom Juli 1917 wurden durch neue Entwicklungen an der Front ausgelöst. Dort begann am 16. Juni eine russische Großoffensive, die nicht nur militärischen, sondern vor allem innenpolitischen Zielen dienen sollte. Alexander Kerenski, der im Mai 1917 das Amt des Kriegsministers übernommen hatte und zur zentralen Figur der Provisorischen Regierung wurde, versuchte mit Hilfe dieser Offensive eine patriotische Stimmung im Lande auszulösen, um auf diese Weise der Regierung eine zusätzliche Legitimierung zu verschaffen.

Nach dem Beginn der Großoffensive plante die Regierung die Entsendung einiger Regimenter der Petrograder Garnison an die Front. Als die Kunde von der bevorstehenden Entsendung an die Front die entsprechenden Petrograder Militäreinheiten erreicht hatte, reagierten sie darauf mit einer beispiellosen Empörung. Diese wurde von den bolschewistischen Propagandisten zusätzlich geschürt. So begannen am 3. Juli 1917 regierungsfeindliche Demonstrationen Bewaffneter, die von vielen radikal gesinnten Petrograder Arbeitern unterstützt wurden. Dies war die gefährlichste Herausforderung, die die junge russische Demokratie bis dahin erlebte. Dass sie ihrer Herr werden konnte, zeigt, dass sich in Russland bereits Mitte 1917 die ersten Ansätze für eine „wehrhafte Demokratie“ zu bilden begannen.

In den Ereignissen vom 3.-5. Juli spiegelte sich die Widersprüchlichkeit der Februarrevolution besonders deutlich wider. Die meuternden Soldaten und Arbeiter, die einen Tag nach dem Ausbruch der Rebellion die Hauptstadt weitgehend kontrollierten, marschierten unter der Parole „Alle Macht den Sowjets“. Sie strömten zum Taurischen Palais, in dem sowohl der Petrograder wie auch der gesamtrussische Sowjet residierten, und versuchten die Führer der Sowjets dazu zu zwingen, die gesamte Macht im Lande zu übernehmen. Diese Forderung wurde von den gemäßigten Sozialisten, die damals im Sowjet dominierten, rundweg abgelehnt. An ihrer Haltung hatte sich seit dem Beginn der Februarrevolution nichts geändert. Sie waren nicht bereit, die gesamte Verantwortung für das Schicksal eines Landes zu übernehmen, das sich gleichzeitig im Aufruhr und im Krieg befand. Sie hielten die Fortsetzung des Bündnisses mit den bürgerlichen Demokraten für unbedingt erforderlich.

Die Haltung der Bolschewiki während der Juli-Ereignisse war sehr ambivalent. Sie waren damals sowohl die Getriebenen, die sich der radikalen Stimmung der meuternden Massen anpassten, als auch die treibende Kraft. Sie wagten es nicht, die gesamte Macht für die eigene Partei zu beanspruchen und traten ähnlich wie die rebellierenden Soldaten und Arbeiter unter der Devise „Alle Macht den Sowjets“ auf.

Zwar hatte Lenin einige Wochen zuvor – auf dem I. Gesamtrussischen Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten – verkündet, dass die bolschewistische Partei „jeden Augenblick bereit ist, die gesamte Macht (in Russland) zu übernehmen“. Diese Erklärung rief allerdings nur Heiterkeit bei der Mehrheit der Deputierten hervor.

Aber auch Lenin selbst hatte während der Ereignisse vom 3.-5. Juli nicht den Mut, die gesamte Macht für die eigene Partei zu verlangen und erklärte, das Ziel der am 3. Juli begonnenen Auflehnung gegen die Provisorische Regierung sei „die Übergabe der ganzen Macht an den Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten“, d.h. an eine Einrichtung, die diese Macht auf keinen Fall übernehmen wollte. Diese widersprüchliche und zögerliche Haltung der Bolschewiki verschaffte der Regierung und der demokratisch gesinnten Sowjetmehrheit eine gewisse Atempause, die dazu ausgenutzt wurde, regierungstreue Truppen zu mobilisieren. Schon beim ersten Anblick dieser Einheiten räumten die Rebellen das Feld.

Die Juli-Ereignisse zeigten, dass die junge russische Demokratie durchaus imstande war, sich gegen ihre radikalen Gegner zu wehren und dass ihr entschlossenes Vorgehen auf die Extremisten geradezu lähmend wirkte. Iraklij Tsereteli berichtet in diesem Zusammenhang von seinem Gespräch mit Josef Stalin, der die Regierung davor warnte, die Zentrale der Bolschewiki zu besetzen. Dies werde zu Blutvergießen führen. Tsereteli antwortete, es werde kein Blutvergießen geben. „Sie werden also unsere Zentrale nicht besetzen?“ reagierte Stalin erfreut. „Nein, wir werden sie besetzen“, entgegnete Tsereteli, „und es wird trotzdem kein Blutvergießen geben.“ Und in der Tat, die Bolschewiki leisteten bei dieser Aktion der Regierungstruppen keinen Widerstand. Etwa 800 Anführer der Juli-Revolte wurden verhaftet, darunter viele Bolschewiki. Die probolschewistischen Militäreinheiten wurden entwaffnet. Um einer Verhaftung zu entgehen, floh Lenin aus der Hauptstadt und lebte bis zur bolschewistischen Machtergreifung im Oktober 1917 in einem Versteck auf finnischem Territorium.

Zur Diskreditierung der Bolschewiki trug zusätzlich die Tatsache bei, dass die Regierung einige Dokumente über die Zusammenarbeit der Bolschewiki mit den Deutschen der Öffentlichkeit zugänglich machte. Lenin drohte ein Prozess wegen Hochverrat.

In einer Mitteilung des Staatsanwalts der Petrograder Gerichtskammer vom Juli 1917 wurden Lenin und andere bolschewistische Funktionäre der Kooperation mit den „im Krieg mit Russland stehenden Staaten“ beschuldigt. Ihnen wurde vorgeworfen, Geldmittel von diesen Staaten für Propagandazwecke erhalten zu haben.

Die intensive Zusammenarbeit der Bolschewiki mit den Deutschen im Jahre 1917 lässt sich übrigens auch anhand zahlreicher Dokumente aus deutschen und russischen Archiven ausreichend belegen. Nach einer Berechnung Eduard Bernsteins, die er im Januar 1921 im SPD-Organ „Vorwärts“ veröffentlichte, stellte die deutsche Regierung den Bolschewiki etwa 50 Millionen Goldmark zur Verfügung.

„Verirrte Brüder“?

Warum gelangten dann die Bolschewiki trotz ihres verheerenden Rückschlags im Juli 1917 einige Monate später an die Macht? Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst auf die Haltung der nichtbolschewistischen Linken nach den Ereignissen vom Juli eingehen.

Die Tatsache, dass die Bolschewiki während der Juli-Ereignisse die bestehende Ordnung mit Gewalt zu stürzen versucht hatten, führte nicht zu ihrem Ausschluss aus dem sogenannten „revolutionär-demokratischen Lager“. Sie wurden von ihren sozialistischen Gegnern weiterhin als integraler Bestandteil der sozialistischen Solidargemeinschaft angesehen. Nicht zuletzt deshalb lehnten die Vertreter der Sowjetmehrheit ein allzu hartes Vorgehen gegen die Bolschewiki ab. Da die Provisorische Regierung weitgehend auf die Unterstützung des Sowjets angewiesen war, mussten ihre bürgerlichen Minister den Bedenken ihrer sozialistischen Koalitionspartner Rechnung tragen. Unentwegt prangerte das Zentrale Exekutivkomitee des Sowjets die Hetzkampagne der bürgerlichen Presse gegen die Bolschewiki an und wandte sich gegen die Behauptung, die Bolschewiki arbeiteten mit den Deutschen zusammen. Viele der verhafteten Bolschewiki wurden bereits nach einigen Wochen freigelassen. Trotz ihrer Beteiligung am Putschversuch im Juli 1917 wurden sie nicht wegen staatsfeindlicher Tätigkeit angeklagt. Diese Milde des demokratischen Staates gegenüber seinen extremen Feinden wurde von den Bolschewiki als Schwäche interpretiert. Später sagte Lenin, die Bolschewiki hätten im Juli 1917 eine Reihe von Fehlern gemacht. Ihre Gegner hätten dies im Kampfe gegen sie durchaus ausnutzen können:

Zum Glück besaßen unsere Feinde damals weder die Konsequenz noch die Entschlusskraft zu solchem Vorgehen.

Russische Zustände“ in Deutschland?

Das Schicksal der Bolschewiki nach ihrem missglückten Staatsstreichversuch vom Juli 1917 erinnert in verblüffender Weise an das Schicksal Hitlers nach dem gescheiterten Münchener Putsch vom November 1923. Auch der Führer der Nationalsozialisten war von der Milde der Sieger überrascht.

Den Bolschewiki und den Nationalsozialisten kam zugute, dass sie von den Kräften, die das politische Geschehen einerseits im revolutionären Russland des Jahres 1917, andererseits in der Weimarer Republik bestimmten, als verirrte Brüder und als Gesinnungsgenossen angesehen wurden. Während die nicht-bolschewistische Linke die Bolschewiki als eine Art Reserve der revolutionären Front betrachtete, waren die Nationalsozialisten und ihre Kampfverbände für die deutschen Konservativen, die die Schlüsselpositionen im Weimarer Staat kontrollierten, eine Art Reserve der nationalen Front, eine Ergänzung zum Hunderttausend-Mann-Heer, das der Versailler Vertrag dem besiegten Deutschland zugestanden hatte. Abgesehen davon kam der NSDAP die übertriebene Angst der deutschen Konservativen vor einer kommunistischen Revolution zugute. Auch hier wird eine verblüffende Parallele zu den Entwicklungen in Russland im Jahre 1917 sichtbar. So wie die russischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre in den Bolschewiki, trotz ihres rücksichtslosen Kampfes um die Macht, Verbündete gegen die „Gegenrevolution“ sahen, betrachteten die Weimarer Konservativen die Nationalsozialisten als eventuelle Partner im Kampf gegen die Kommunisten. Der Kampf gegen die imaginäre gegenrevolutionäre Gefahr führte zur Verharmlosung der bolschewistischen Gefahr in Russland. In Deutschland wurden andererseits die konservativen Schichten so sehr durch ihre Abwehrmaßnahmen gegen eine – kaum mögliche – bolschewistische Revolution, gegen die sogenannten „russischen Zustände“ in Deutschland absorbiert, dass sie die viel aktuellere Gefahr der nationalsozialistischen Diktatur in der Regel nicht wahrnahmen. Nicht zuletzt deshalb bekämpften sie die Gewaltanwendung von links mit einer wesentlich größeren Entschiedenheit als die von rechts.

Dass die Kommunisten nicht imstande waren, die bestehende Ordnung in Deutschland ernsthaft zu gefährden, hat sich während der Nachkriegskrise (1918-1923) wiederholt gezeigt. Den nach der Auflösung der Sowjetunion zugänglich gewordenen Dokumenten aus den Moskauer Archiven kann man entnehmen, wie skeptisch manche bolschewistische Emissäre in Deutschland den revolutionären Elan der deutschen Kommunisten bewerteten. Als Beispiel möchte ich hier den Bericht der engen Gefährtin Lenins, Jelena Stassowa, zitieren, die im Juni 1921 Folgendes über die KPD schrieb:

Alles ist hier schwach: die Organisation, die Agitation, die Propaganda und die illegale Arbeit. Die Menschen können hier nicht richtig arbeiten. Man muss ihnen jede Kleinigkeit beibringen“.

Drohte Russland im Jahre 1917 eine „gegenrevolutionäre Gefahr“?

Und wie verhielt es sich mit der „gegenrevolutionären“ Bedrohung im revolutionären Russland vom Jahre 1917? Erforderte die Bekämpfung dieser Gefahr wirklich die Mobilisierung aller linken Kräfte, auch solch militanter Antidemokraten wie die Bolschewiki? Das klägliche Scheitern des Putschversuchs von General Lawr Kornilow (Ende August 1917), zeigte, dass die Armee zum Kampf gegen das eigene Volk nicht mehr geeignet war. So brauchte die russische Demokratie keineswegs die Hilfe der Linksextremisten, um der Gefahr von rechts erfolgreich zu begegnen. Dennoch war die Angst der gemäßigten Sozialisten vor der Gegenrevolution derart überdimensional, dass sie ihre eigenen Kräfte maßlos unterschätzten. Der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew schrieb im September 1917 in diesem Zusammenhang:

Das alte Regime war ausschließlich durch die Angst vor einer Revolution geprägt, das neue (demokratische) durch die Angst vor einer Gegenrevolution.

Nicht zuletzt deshalb gaben die russischen Demokraten den Bolschewiki, die infolge des gescheiterten Juli-Putsches entwaffnet worden waren, erneut die Waffen in die Hand. Dies war vielleicht die verhängnisvollste Folge der Kornilow-Affäre.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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