Die Schlagerfamilie und das Fischer-Netz – Eine Kolumne über drei Alphafrauen des Schlager und das neue Album von Helene Fischer

Unser Musik-Archäologe Ulf Kubanke beschäftigt sich in dieser Hörmal-Kolumne mit dem Schlager. Er vergleicht drei Alphafrauen des Genres mit der aktuellen Helene Fischer-Platte und reviewt letztere ohne Vorurteil oder Dünkel. Aber lest selbst:


Helene Fischer ist spätestens seit dem Überhit „Atemlos“ zweifellos eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Sängerinnen aller Zeiten. Gleichzeitig polarisiert sie enorm. Was den einen perfekte Unterhaltung bedeutet, ist den anderen pures Grauen. Die Liste an Vorwürfen und Ehrerbietungen ist mithin lang. Grund genug ihr neues – schlicht „Helene Fischer“ betiteltes – Album und dessen musikalischen Ansatz einmal näher und unvoreingenommen unter die Lupe zu nehmen.

Gegen Genre-Chauvinismus

 Zunächst einmal gilt es, sich selbst – so schwer es auch fallen mag – vom Genre-Chauvinismus zu befreien. Schlager muss nämlich weder debil, noch oberflächlich oder gar nivellierend sein. Auch der eskapistische Ansatz Fischers taugt formal nicht zum Bashing. Denn es ist nichts Ehrenrühriges daran, sich vorwiegend als reine Entertainerin zu präsentieren, die ihrem Publikum gern ein paar Minuten Pop-Asyl inmitten einer aus den Fugen geratenen Welt bietet.

Die einzige Todsünde wäre – und das gilt für jede Musik, jeden Stil gleichermaßen – Ideenlosigkeit, Ignoranz und Dünnbrettbohrertum. Ich meine jene Oberflächlichkeit, welche die eigene Stilrichtung zum Malen nach Zahlen-Debakel degradierte statt zum definierenden Spektakel. Oder anders gesagt: Taugt das Gebotene zur ebenso fetten wie sinnlichen Party oder doch nur zur Provinzkamelle? Ein qualitativer Gradmesser zum Vergleich ergibt sich hier besonders aus den künstlerischen Vorlagen dreier bärenstarker, deutschsprachiger Alphafrauen des Schlagers.

 Starke Schlager-Frauen

Da wäre zum einen die Dänin Gitte Henning, die mit Songs wie „Ich Bin Stark“ oder „Ich Will Alles“ (beide vom Referenzalbum „Ungeschminkt“ 1982) quasi im Alleingang die perfekt in seine Zeit passende Frauenzeitschrifts-Mucke, den „Brigitte“-Schlager erfand. Eine Musik, die Romantikerinnen und Feministinnen gleichermaßen mitsangen.

Daneben gab es die grandiose israelische Sängerin Daliah Lavi, die mit erotisch rauchigem Timbre – ebenfalls mittels Fischers Label Polydor – Juwelen wie „Oh, Wann Kommst Du?“ (1970), „Wer Hat Mein Lied So Zerstört, Ma?“ (1971) oder „Meine Art Liebe Zu Zeigen) (1972) veröffentlichte.

Und wer die eher mystische und gaslichterne Seite des Schlagers mag, konnte sich stets auf die mitunter leicht sinistre Geschichtenerzählerin Juliane Werding verlassen, die Mitte der 80er mit zeitlosen Killertracks wie „Stimmen Im Wind“, „Geh‘ Nicht In die Stadt Heut‘ Nacht“, „Sehnsucht Ist Unheilbar“ oder „Das Würfelspiel“ verzauberte und etliche Hörer ansprach, die ansonsten mit solchen Klängen so gar nichts am Hut haben.
So stellt sich die Frage, ob die erfolgreiche Entertainerin Fischer auch qualitativ an jene zeitlose Vergangenheit anknüpfen kann, die bereits maßgebend von ihrem Label Polydor mitentwickelt wurde. 18 Stücke befinden sich auf der Standard-Edition; zwei volle Dutzend auf der Deluxe-Variante. Hierfür laufen rund 30 (!) verschiedene Songwriter und Texter auf. So unter Anderem „Atemlos Durch die Nacht“-Komponistin Kristina Bach (Michelle, Jeanette) oder Thorsten Brötzmann. Besonders Brötzmann ist ein Mann mit erstaunlicher Bandbreite. Auf seiner Liste befinden sich sowohl Klangverbrechen a la Oonaghs „Märchen Enden gut“ als auch eine Zusammenarbeit mit den ehrwürdigen Motörhead („Aftershock“).

Trendy Gesichtslosigkeit?

Doch Obacht! Ein dermaßen großes Heer williger Verrichtungsgehilfen birgt nicht selten die Gefahr musikalischer Zerfahrenheit. Selbst Ikonen wie Madonna machten mit dieser Methode zuletzt die Erfahrung, das zu viele Köche eher zu trendy Gesichtslosigkeit führen als zu musikalischer Konturenschärfe.

Und genau das passiert leider auch. „Sonne Auf Der Haut“ klingt als habe man eine zu Recht weg geworfene Skizze des 80er Mike Oldfield exhumiert – nur eben mit weniger Composer-Talent – und das ganze dann zur verstörenden Mischung aus Discofox-Zombie-Folk und zeitgeistiger Nichtigkeit aufgeblasen. Schön ist das nicht.

Aber noch vergleichsweise harmlos. Bezeichnend und ein echter Pferdefuß des gesamten Albums ist die hörbar eiskalt kalkulierte Plünderung pseudomoderner Zutaten, bei gleichzeitiger Amputation jeglicher auch nur halbwegs interessanter Melodien. Die abgezockte Verpackung kann leider nicht eine Sekunde darüber hinwegtäuschen, dass hier – im Gegensatz zu den oben genannten Heldinnen – über weite Strecken lediglich drittklassige Gefühlsimitate geboten werden, die jenseits ’ner halben Pulle Doppelkorn nicht gerade einladend wirken, noch nicht einmal einlullend. Professionalität ersetzt Herzblut und Leidenschaft? Bedauerlicherweise ja!

Wer das nicht glauben mag, checke getrost mal den plastinierten Geisterbahn-Ohrwurm „Herzbeben“ an. Man weiß gar nicht, was eigentlich schlimmer ist: Die aufgesetzte bitchy teenage Fashionshop-Musikattitüde zu Beginn oder doch der Gruselreim „Herzbeben, lass uns leben, wir wollen was erleben! Lass mich leben“? Am Ende nimmt man klangbildlich der Schlagerfachverkäuferin Fischer die 15 jährige Schulhofmobberin genau so wenig ab wie ihren vorgetäuscht schmachtenden Lebenshunger.

Der „Flieger“ zerschellt ebenso am Sangesfelsen Fischer. Ihr Gesang kommt so steril und persilweiß aus den Boxen, das jeglicher Charakter einer eigenen Stimme ins Bodenlose stürzt. Der belanglose Chorus lässt ohnehin sogar jeden DJ-Ötzi-Track wie ein Zeugnis waschechter Authentizität wirken. Diese Austauschbarkeit ihrerer seelenlosen Vocals jedoch ist schlichtweg indiskutabel. Dabei allerdings nicht ganz so schauderhaft, wie die lieblos hingeklecksten Kalenderblatt-Platitüden bar jeder Individualität. Überall lauern Zeilen jener Sorte, wo man niemals aufgibt, heller als das Licht wird, niemals still steht, immer weiter seinen Weg geht usw. Nun ist nichts gegen passionierte Mutmachtracks zu sagen. Es ist auch keine Schande, solche Lieder zu machen. Jedoch ist es eine Zumutung, dabei auf die altbekannte, tausendfach gehörte 200-Wörter-Mottenkiste zu setzen, die sich im Klischee suhlt ohne auch nur im Geringsten nach sprachlicher Unverwechselbarkeit oder gar Originalität zu suchen. Als ranzigen Anspieltipp hierzu empfehle ich „Wir Brechen Das Schweigen“. Wer soll das geil finden und älter als zehn Jahre oder nicht komatös sein?

Von Hoffnungslosigkeit und Wundern

Und dann, während man bereits jegliche Hoffnung fahren ließ, passiert zwischendurch ein gar nicht mal so kleines Wunder. Inmitten dieser Flut popkultureller Nullnummern erhebt sich hernach auf einmal doch ein zweiteiliger lichterner Moment. „Lieb Mich Dann“ glänzt als zaghafter, silbereisenfreier Silberstreif am ansonsten finsteren Horizont. Das Arrangement ist sparsam, für Fischers marktschreiende Verhältnisse geradezu spartanisch angelegt. Gut so, denn es braucht nicht mehr als die zarte Akustikgitarre, um diese tatsächlich ebenso fragile wie romantische Ballade in Szene zu setzen. Auch der Gesang klingt auf einmal organisch, fühlend und angemessen zurückgenommen. Hier erreicht sie tatsächlich jene Klasse ihrer Vorgängerinnen und ehrt das Genre statt es zu töten. Warum denn bitte nicht mehr davon? Es geht doch, verdammt!

Und tatsächlich: Nachdem man einen weiteren Trip durch den Dschungel musikalischer enttäuschungen hinter sich bringt, setzt sie mit „Adieu“ noch einen drauf. Das schnuckelige Liedchen ist ihr womöglich bester Track überhaupt. Der mehr als angedeutete, leicht melancholische Hauch von Chanson steht der Sängerin gut zu Gesicht und transportiert dabei simultan eine frankophone Luftigkeit, deren sinnliche Bittersüße jedem bekannt sein dürfte, der schon einmal unglücklich verliebt war.

Das Fazit lässt den Hörer etwas ratlos zurück. Einerseits erweitert Helene Fischer das Repertoire zaghaft mit wenigen, sehr guten Nummern. Andererseits fehlt ausgerechnet dieser Künstlerin, die es nicht mehr nötig haben sollte, ausschließlich auf das Kommerzkalkül „Freunde retardierter Musik“ zu setzen, anscheinend Wille und Courage, solche Ansätze nicht unter einem Haufen banalsten Plunders zu ersticken. Doch gerade Fischer, die sie weder in relevanter Hinsicht selbst schreibt oder textet, stünde eine solche Weiterentwicklung gut zu Gesicht, falls sie die musikalische Zitrone nicht nur auspressen, sondern auch schmackhaft-haltbare Limonade liefern möchte. Alle Möglichkeiten dazu hätte sie. Sie muss Es nur tun. Vielleicht beim nächsten Album. Denn wie lautet die Mutter aller Platitüden? „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

 

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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