Verblödung durch Drüberreden — Hämophektiken des Stereotypverfertigens (4)

Im 4. Teil des Essays entwirft D. H. Rapoport eine kleine Systematik der Hämophektiken des Stereotypverfertigens


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„Hämophektik“, das Wort steht in keinem Duden und befindet sich dennoch im Gebrauch; das Wort gibt es eigentlich nur halb.i Wer „Hämophektik“ sagt, meint sowas wie „Mechanismus“ und bekennt im selben Atemzug, keine Ahnung davon zu haben, wie dieser Mechanismus im Einzelnen funktioniert. „Hämophektik“, das kann ein kompliziertes Uhrwerk sein, das undurchsichtige Gekröse eines seltsamen Tieres — oder eben ein sozialer Mechanismus. Es soll, will ich sagen, andeuten, dass ich im Folgenden gezwungen bin, im rein Spekulativen zu verbleiben. Nun wir aber einmal haben, dass die Hämophektiken des Stereotypverfertigens in den sprachlichen Sozialisationshandlungen zu suchen sind, will ich mir wenigstens ein paar Andeutungen gestatten, wie ich sie mir im Einzelnen denke.

Sprache: Der große Rasierer

Natürlich lag der Verdacht von Anfang an nahe, dass im Reden die besagten Hämophektiken sich abspielen, denn Reden ist nunmal das technische Mittel der Gleichförmigmachung. Selbst, wenn wir die Eigenschaft der Rede, Sozialisationshandlung zu sein, einmal für den Moment ignorierten. Gleichförmig machen ist die unvermeidliche Kehrseite jedweden Unterscheidungsvermögens. Schon indem einem Kleinkind die Wörter beigebracht werden, mit denen es seine Umwelt so bezeichnet, dass es sich uns verständlich machen kann, ist ein Mechanismus des wechselseitigen Kompatibelmachens am Werk. Unterschiede der Auffassung werden nivelliert, das Label– oder Tokenhafte der Sprache zunächst überbetont. Wenn ich die Nuancen eines Begriffs herausarbeiten will; wenn mir daran gelegen ist, zu verdeutlichen was irgendein Begriff für mich bedeutet, dann muss ich ein erklecklich Maß Verdeutlichungsarbeit und Hermeneutik aufwenden. Dies Lebendigmachen eines Begriffs über seine technische Funktion hinaus ist die typische Arbeit der Dichter und Philosophen. Daß es Aufwand erfordert, die Vielfalt eines Begriffes zurück zu erobern, soll hier nur als Hinweis auf die Eigenart der Sprache verstanden werden, vom Wahrgenommenen das meiste „abzurasieren“, das nicht der schnellen Verständigung und dem Erreichen unmittelbarer Zwecke dient. Die selbe Art, Sprache zunächst wie ein Label auf die mannigfaltigen Erscheinungen und Bedeutungen der Wirklichkeit zu pappen, findet man in der Kindserziehung, in der Schule, beim Erlernen von Fremd- und Fachsprachen usw. Erst später, nach Aneigung einer Vokabel und Abgleich mit den eigenen Erfahrungen, ist man in der Lage, ihre Bedeutungsmitte zu überschreiten, Feinheiten zu erfassen und auszudrücken.

Das aber, meine ich, ist nur eine stereotyp-begünstigende Randerscheinung der Sprache. Die eigentlichen Hämophektiken der Stereotypverfertigung, und darauf läuft dieser Aufsatz hinaus, wähne ich bei der sprachlichen Konstruktion sozialer Gebilde am Werk. Kommen wir zu deren Funktionsweise in typischen und atypischen In-Gruppen.

Dynamik der Verblödung

Stammtisch, Kaffeekränzchen, Kegelclub — die typische In-Group zeichnet sich dadurch aus, dass man ihr freiwillig angehört. Sie entbehrt einer äusseren Sozialisationsklammer ebenso, wie eines inneren Sozialisations-Bindemittels. Wo keine andere sozialisierende Kraft die Gruppenmitglieder zueinander presst, da nimmt die Wichtigkeit klassischer Sozialisationshandlungen überproportional zu. Äusserer Druck, das könnte die Familie sein, aber auch die Kollegen und der Chef, oder eine Freundschaft, mit anderen Worten, Leute, mit denen man irgendwie klarkommen muss und denen man so einfach nicht entkommt. Die typische In-Group hat das nicht. Jede Zusammenkunft muss einen großen Teil ihrer Zeit auf das Bekräftigen des Zusammengehörens verwenden. Der Stammtisch wird zum Stammeltisch aus eben diesem Grund. Die schiere Menge der Sozialisationshandlungen nötigt zur Verblödung.

Dies ist der eigentliche Boden, auf dem Stereotype wachsen. Sobald, sagen wir, einer eine Episode vorträgt, in der von schlechten Erfahrungen mit „Kanaken“ die Rede geht, macht sich der Sozialisationsdruck beispielsweise dadurch bemerkbar, dass man im eigenen (vermutlich durchaus differierenden) Erfahrungsschatz selektiv nach Stories sucht, die das Berichtete bestätigen können. Die gibt man dann zum Besten. Sehr viel seltener wird man eine konträre Erfahrung dagegen setzen. Selbst aber, wenn man es tut, d.h. selbst wenn in der In-Group Erfahrung gegen Erfahrung gestellt wird, entsteht eine Dynamik der Verblödung, deren wesentlicher Mechanismus darin liegt, dass an dieser Stelle ein Entscheidungsproblem markiert wird, obwohl gar keines vorliegt. Beide Erfahrungen könnten widerspruchslos nebeneinander bestehen. Vor dem Sozialisationsdruck der In-Group aber wird eine Wahrheits- und Bekenntnisfrage daraus. Darüber will ich detaillierter im Kapitel über „Debatte und Streit“ handeln.

Natürlich machen ein paar Kanaken-verunglimpfende Geschichten noch kein Stereotyp. Der Punkt hier ist der starke Sozialisations-Kontext, in dem solche Geschichten erzählt werden. So kann das Halten gegen (in der Regel nicht anwesende) Fremdgruppen mit dem Halten zueinander gleichbedeutend werden. Die radikale Vereinfachung und Vereinheitlichung der Fremdgruppe ist einerseits eine Folge des Konsensmachens und andererseits eine Konsequenz der Abwertungsabsicht. Beide Zwecke würden von Vielfalt und Detailreichtum behindert. Je zentraler die Abwertung einer Fremdgruppe für Zusammenhalt und Selbstverständnis der In-Group wird, desto simpler und schablonenhafter muss das prototypische Mitglied der Fremdgruppe werden.

Fremdgruppe als Bedrohung

Die Stereotypisierung einer Fremdgruppe kann noch erheblich beschleunigt und radikalisiert werden, wenn die Fremdgruppe als Bedrohung der In-Group wahrgenommen wird. Dann nämlich wird aus der eigentlich fehlenden äusseren Klammer der In-Group eine reale. Das ist die tiefere Sehnsucht der In-Group, ein soziales Bindemittel zu finden, das nicht auf Beschwörungen und Beteuerungen sich gründet, sondern wirklich, real und verlässlich ist. Jeder Ritus möchte ja eine Wunschrealität erzeugen. Oft genug wird er deswegen als selbsterfüllede Prophezeiung konstruiert. In all diesem Fall wird ein Feind konstruiert, der dadurch, dass man ihn anfeindet, in der Regel tatsächlich zum Feind und in der Folge zu einer Bedrohung wird. An dem Punkt ist das Werk des Stereotypverfertigens in der Regel getan. Es kann nun in unselig selbstbestätigender Weise fortwirken.

Ich möchte davor warnen, diesen „spontanen“ Mechanismus der Stereotypenverfertigung mit den gezielten Mechanismen der Propaganda bzw. der „Bewußtseinsindustrie“ zu verwechseln. Sowohl für die Verantwortungsfähigkeit des Menschen, als auch für ein mechanistisches Verständnis der Stereotypverfertigung, ist ungemein wichtig, dass die Schuld für das Bilden von Stereotypen nicht einfach an eine äussere Macht deligiert wird. Gewiss, der Mechanismus des äusseren Feindes ist bekanntermassen vielfach in der Geschichte indienst genommen und mit Bedacht beschworen worden. Im 20. Jahrhundert natürlich klassischerweise in der Fabel vom Weltjudentum, aber auch im 21. in der Fabel vom todessüchtigen Islamisten, der die zivilisierte Welt mit Terror überzöge. Gleiches wird prototypisch in George Orwells „1984“ behandelt; einmal in Gestalt der „Bruderschaft“ Emmanuel Goldsteins und zum anderen in den ewigen Kriegen „Ozeaniens“ mit den anderen beiden Weltmächten („Eurasien“ und „Ostasien“). — Natürlich wäre töricht, die Wirksamkeit dieser Mechanismen in Abrede zu stellen. Es ist nur eben so, dass sie überhaupt nur wirksam werden können, weil es einen „natürlichen“ In-Group-Mechanismus gibt, der durch solche Techniken getriggert wird.

Kurz noch zu einer anderen typischen In-Group, der politischen Partei. Parteien sind deshalb typische In-Gruppen, weil der Beitritt zu ihnen genauso freiwillig ist, wie das Hinsetzen an einen Stammtisch. Allerdings haben wir hier, anders als bei Stammtischen, Kegel-, und Fußballvereinen, Kaffeekränzchen und so weiter, ein Henne-Ei-Problem. Denn die Partei ist in der Regel ausgesprochen bekenntnisfreudig inbetreff ihrer Auffassung anderer Gruppen. Ihnen tritt bei, wer einen Gutteil dieser Auffassungen bereits zu teilen meint. Was aber war zuerst da, die politische Auffassung des Einzelnen oder das Parteiprogramm? Ist die Partei nur Heimstatt bereits existierender Stereotypen oder ist sie ihr Anfertigungsort? — Am Ende überlasse ich die Antwort auf diese Frage gern dem Leser. Ich will hier nicht über die Soziologie von Parteien handeln. Ich möchte sie nur als eine ganz spezielle Hämophektik des Stereotypverfertigens anführen.

Atypische In-Group. Freunde, Kollegen, Familie.

Die atypische, im Gegensatz zur typischen In-Group verfügt über zusätzliche Mechanismen der Sozialisation. Sie ist nicht in dem Maße auf Sozialisationshandlungen angewiesen, wie jene. Auf Mitglieder atypischer In-Gruppen findet man sich üblicherweise verpflichtet; man muss sich irgendwie mit ihnen vertragen. Kollegen auf der Arbeit zum Beispiel, oder Klassenkameraden; Familie und fernere Verwandtschaft und auch Freunde, an die man sich durch langjähriges Füreinanderdasein im Mindesten emotional bindet. Gruppen, die nicht notwendig großer Sozialisierungshandlungen bedürfen, um fortzubestehen.

Solche Gruppen taugen besonders für das Weitergeben und weniger für das Anfertigen von Stereotypen. Es fällt ja, wie gesagt, der hauptsächliche Grund des Anfertigens fort; die zusätzlichen Sozialisationsmechanismen der atypischen In-Group entbinden von der Notwendigkeit, ein Schibboleth des Dazugehörens zu erschaffen. Gleichzeitig können Stereotype, so sie einmal erworben und in den Schatz persönlicher Riten eingefügt sind, zur Überzeugung sich wandeln. Wie das Tischgebet oder das Grußsprechen integriert sich das Formelhafte in die Lebens- und Wertewelt des Handelnden. Er ergänzt seine Handlungen, selbst die verworrenen und automatischen, im Nachhinein um eine Bedeutung. Es liegt daran, dass wir gewohnt sind (wie schon oben bei der Warnung vor Alltagspsychologie angedeutet), Handlungen Motive zu unterstellen. Wo das Motiv fehlt oder nicht sofort erraten werden kann, erfindet unser Hirn eines.

Ich möchte nicht in die Philosophie des Handelns eintauchen. Mir geht es nur darum, dass Riten, selbst wo sie so rudimentär sind, wie die Einwort-Liturgie eines Stereotyps, perfekte Vehikel der Weitergabe sind. Gerade dann. Das Vaterunser erlernt man nicht so leicht, wie das Wort „Neger“ oder „Jude“ mit verachtendem Beiklang. Die Weitergabe in Familien und Freundeskreisen wird dann noch durch wechselseitiges Wohlwollen befördert. Es öffnet die Kommunikationskanäle, das heisst, es mindert die Achtsamkeit und den Willen zur kritischen Prüfung. Der kritische Geist hinwieder ist nichts anderes als die Prüfung durch den Verstand. Die Sphäre des Handelns und Wohlfühlens, soll das heißen, wird ohne Willen zur kritischen Prüfung weniger häufig verlassen. Gute Voraussetzungen für die Verbreitung von Stereotypen. Gerade natürlich bei Kindern, die ihren kritischen Geist erst noch entwickeln müssen. Natürlich kann ein Kind, sobald es beim Erwachsenwerden die Kraft seines kritischen Denkens entdeckt, selbiges in einer ersten Reaktion des Erwachens gegen das bislang Erlernte richten. Ob aus derlei Pubertrotz allerdings eine verlässliche Haltung sich erwächst, steht dahin. Oft genug endet es ja in einer Art Negativ-Abformung der selben Engstirnigkeit.

Schule…

Schulen sind, neben der Familie, die wichtigsten Lehrstätten von Werten — und Unwerten. Lehren ist Weitergabe; Schulen sind atypische In-Gruppen. Erlernt wird natürlich, was der Lehrer verlautbart; erlernt wird aber auch, was die Klassenkameraden meinen und erlernt wird das Sozialisationsverhalten des gesamten Kollektivs, Lehrer und Schüler inbegriffen.

Nun halte ich Schule für eines der schwierigsten Themen überhaupt. Ich muss eingestehen, keine klare Meinung dazu und kein widerspruchsfreies Verständnis davon zu haben, welchen Formen des Unterrichts, welchen Arten der Leistungsbewertung, welcher Vielfalt der Bildungsangebote den Vorzug geben. Im Grunde steht hier Recht auf Bildung oder Unbildung gegen Pflicht zur Bildung oder Insubordination; Möglichkeiten gegen Notwendigkeiten der Persönlichkeitsentfaltung; kurz, das Grundproblem aller Freiheit.

— Soll man Vielfalt verschiedener Lernsysteme zulassen? Ich tendiere zu: Ja. Es gibt unterschiedliche Kinder in unterschiedlichen Lebens- und Auffassungs-Stadien.

— Soll man die Lernleistung mit Noten bewerten? Ich tendiere zu: Ja, aber. Bildet eine skalare Grösse die Leistungsfähigkeit eines Menschen nicht allzu ungenügend ab?

— Soll man eine Mannigfaltigkeit der Lehrinhalte zulassen? Ich tendiere zu: Jein. Einerseits soll jeder seine Stärken stärken, das heisst, nach seinen Interessen lernen dürfen. Aber. Nichts ist hinderlicher und birgt mehr Konfliktpotential als die Nichtherstellung eines Bildungskanons, auf den die gesamte Gesellschaft zugreifen kann.

— Soll schliesslich überhaupt eine Schulpflicht existieren? Nichteinmal in dieser Frage bin ich entschieden. Es soll ein allgemeines Recht auf Schule geben und an eine Pflicht zur Bildung gekoppelt sein. Aber ist Bildung immer gleich Schule? Ich halte dafür, allen gleichen Zugang zu allen Bildungsangeboten zu gewähren. Am Ende der Schulzeit müssen vereinheitlichte Aufnahme-Prüfungen für den gewählten Fortgang des Bildungswegs stehen… Aber ob das funktioniert?

Das Thema ist schwierig. Aber abgesehen davon, dass ich mich nicht in der Lage sehe, die meisten dieser Fragen zufriedenstellend zu beantworten, ist hier glücklicherweise nicht der Platz zu ihrer Erörterung. Ich erwähne sie nur, weil Schulen in einer Betrachtung über das Verfertigen und Weitergeben von Stereotypen vorkommen müssen. Sie sind ein wichtiger Ort, wenn nicht der wichtigste, an dem die Weiterverbreitung von Stereotypen erfolgt oder vorbereitet wird. Sie sind auch ein wichtiger Ort, an dem dies verhindert werden könnte.

Niemand wird bestreiten, dass Schulen die Hauptplätze sind, an denen nationale und völkische Mythen verbreitet werden. Nicht von Ohngefähr fällt die Einführung der Schupflicht in die Aufkommenszeit kapitalistischer Produktionsweisen und Etablierungszeit der modernen (verfassungsbasierten) Nationalstaaten. Die Schule ist für den Staat, was die Kirche für die, nunja, Kirche; nämlich der zentrale Platz, an dem die herrschenden Werte weitergereicht und immer neu beschworen werden. Natürlich geht das Vermitteln auf vielen Ebenen vonstatten. Mag die frohe bürgerliche Botschaft auch „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ heißen, so lehrt die Konkurrenz zwischen den Schülern; die Angst, keinen der begehrten Jobs zu ergattern; die soziale Ungleichheit zwischen Schülern und zwischen Schulen, und was dergleichen an Lebensstoff vorgeführt und also vermittelt wird — so lehren die bestehenden Verhältnisse die Schüler das Ihrige. Auch an das Thema Mobbing will ich noch einmal erinnern. Hier wird, insbesondere durch gute, aufmerksame Lehrer, das Rüstzeug vermittelt, Mobbing zu erkennen und dagegen vorzugehen; oder, wo dies verabsäumt wird, der Terror, den es verbreitet, tief in die Verhaltens- und Sozialisationsgewohnhieten der Schüler eingegraben und in der Gesellschaft perpetuiert.

Im Resultat dieser Umstände werden Schüler entweder wohlempfänglich oder wohlimmunisiert gegen rassistische Stereotype. Es wäre ungerecht und falsch, den Schulen die gesamte Pflicht zur Immunisierung aufzuerlegen. Aber da man den Familien die Gesinnung und das Niveau nicht vorschreiben kann; Lehrpläne und Sozialverhältnisse an Schulen aber wohl, bleibt viel von dieser Pflicht an den Schulen hängen. Mehr vielleicht, als sie zu leisten in der Lage sind.

Debatte und Streit

Okay. Hier kommt das coolste Kapitel. Zumindest das, von dem ich mir während der Konzeption den größten Schreibgenuss versprochen habe. Weil es ein, wie ich meine, doch recht verblüffendes Phänomen zuerst benennt und dann erklärt. Anhebt also das Kapitel über das Schicksal von Stereotypen, wo sie Gegenstand einer Debatte sind. Mit Debatte meine ich die Auseinandersetzung zwischen jenen, die ein Stereotyp rechtfertigen und jenen, die es entlarven wollen. Den Streit zwischen Einfalt und Vielfalt also, wenn man will. Anhebt das Kapitel, wie das scheinbar einzige Mittel der Stereotyp-Überwindung: Aufklärung nämlich, ehrliches Auseinandersetzen, beherztes sich-entgegen-stellen, gute Argumente geben — wie dieses Mittel komplett in sein Gegenteil umschlagen kann. Anhebt das Kapitel über das massive Aneinanderverblöden in der offen geführten, demokratischen Debatte.

Ich habe den Verdacht schon lange gehegt. Im Grunde seit ich Debatten über die die Politik Israels führte und mich dabei regelmässig mit antisemitischen (oder philosemitischen) Stereotypen konfrontiert sah. Also ungefähr seit den frühen 1990ern. Aber erst in den 2015 geführten und in diesem Jahr sich fortsetzenden (und von völkischen Argumenten triefenden) Debatten über die Schulden Griechenlands und über die Aufnahme von Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten, hat sich mein Verdacht zur Gewissheit erhärtet. Anstatt auf irgendeine Form der Verständigung und Moderation hinauszulaufen, befestigen sich Stereotype in der Debatte über sie selbst. Schlimmer noch. Stereotype brechen erst durch sie aus, wie ein Herpesvirus wenn das Immunsystem schwächelt. Vorher mögen sie virulent gewesen sein und untergründig verbreitet. Aber erst in der „gesamtgesellschaftliche Debatte“ explodiert das rassistische Gerücht. Da kommt es zu letzer Reife. Erst durch den Versuch, ihm Einhalt zu gebieten, erblüht es zu seiner ganzen Scheußlichkeit.

Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde den Befund erstaunlich. In der Regel erwartet man im Ergebnis einer Auseinadersetzung so Resultate wie Moderation der Gegensätze, Kompromisse, aufkeimendes Verständnis für die Position des Andern und so weiter. Zumindest wird die offene Auseinandersetzung als bestes Mittel zum Erreichen solcher Zwecke gepriesen. Es stimmt nicht. Es kann zum Gegenteil sich auswirken. Here’s why.

Offene vs geschlossene Debatten

Zunächst einmal findet natürlich keine offene Debatte statt. Die Unterscheidung offen vs. geschlossen ist fast jedem geläufig: Offen sind jene Debatten, die ehrlich auf Erkenntnisgewinn abzielen, bzw. auf Versöhnung oder darauf, einen beidseitig akzeptablen Kompromiss auszuhandeln. Im Mittelpunkt offener Debatten steht der umstrittene Gegenstand. Geschlossen hingegen sind Debatten dort, wo sie auf Selbstbefestigung oder -bestätigung abzielen, auf Niederwerfung oder Vernichtung eines Gegners, kurz, wo die Debatte etwas anderes will, als den umstrittenen Gegenstand zu klären. Man sieht, die Bestimmungen „offen“ und „geschlossen“ beziehen sich vor allem auf die Frage, ob die Debatte die Meinungen der Debattanden über den strittigen Gegenstand verändern kann (oder nicht).

Die Parallele zur eingangs skizzierten epistemischen vs. sozialisations-Dimension von Sprache liegt auf der Hand. Es ist klar, dass Rechtfertiger und Entlarver rassistischer Stereotype auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen handeln: Der Gegner des Stereotyps redet auf epistemischer Ebene und appeliert an den Verstand des Gegenübers; der Befürworter des Stereotyps jedoch vollzieht mit seiner Rechtfertigung eine Sozialisationshandlung. Er versichert sich seiner sozialen Zugehörigkeit. Eine offene Debatte kann in dieser Konstellation nicht gelingen. Sie wäre nur im Fall sie von beiden Debattanden gesucht wird möglich. Hier aber will der Rassisten-Gegner die offene Debatte erzwingen und ist doppelt erzürnt, wenn sie ihm vom Rassisten, der auf Geschlossenheit beharrt, verweigert wird.

Zum Teil ist es deshalb, dass sich die Parteien in einer solchen Debatte gegenseitig als dumm empfinden. Einesteils aus Frust über die nicht gelingen wollende Debatte. Aber es kommt natürlich auch hinzu, dass es in der Sache keinen wechselseitigen Erkenntnisgewinn geben kann. Sie hängt ja, was den epistemischen Gehalt der widerstreitenden Positionen betrifft, unfassbar schief. An der Position des Rassisten ist kein epistemischer Gewinn zu machen. Bestätigung, er würde trotzdem zu seiner In-Group gehören, will er von seinem Widersacher am allerwenigsten; das heisst, er will sie schon, aber in Form von Feindschaft. Nicht in Form von Bestätigung. Nur auf dieser Ebene ist Gewinn für ihn möglich. Andersherum kann der Gegner eines rassistischen Vorurteils in der Regel nichts vom Rassisten lernen, das ihn klüger machte. Er kann sich bestenfalls sein intellektuelles Niveau bewahren — oder eben unversehens verblöden. Aufstieg ist in dieser Debatte nicht möglich.

Jetzt habe ich Sie ein bisschen an der Nase herumgeführt. Natürlich kann der Rassistengegner in der Debatte lernen. Es ist sogar an der Regel; dieser Aufsatz demonstriert es ja durch sich selbst. Er ist meine Weise, der statthabenden Pein, die ja auch ein Schauspiel intellektueller Verelendung ist, zu begegnen. Daraus verallgemeinere ich, dass etwas Unerwartetes mit dem Niveau in der Debatte geschieht. Während nämlich die Argumente zumindest eines Teils der Stereotyp-Gegner immer ausgefeilter und differenzierter werden — gerade auch in dem redlichen Streben, des Rassisten Psyche und Beweggrund nachzuvollziehen — wird dieser zusehends simpler in der Argumentation, bis er am Ende in rein aggressive Drohgebärden regressiert. Weiteres Debattieren oder sich-verständlich-machen wird in dieser Phase der Eskalation als unnötig abgetan; vielmehr sei die Zeit des Handelns angebrochen (und damit meint der Rassist in der Regel, den Gegner — sowohl den in der Debatte, als auch die rassistisch inkriminierte Gruppe — zu vernichten). Das Niveau, mit anderen Worten, spaltet sich durch die Debatte auf; der Rassistengegner sublimiert sich zum Philosophen, während der Rassist vollends vertiert.

Möglicherweise übertreibe ich. Ein bisschen. Oft genug vertiert auch der Rassistengegner; und manchmal begibt sich ein Rassist auch in die luftigen Höhen rassistischer Philosophie. Aber das Wesentliche stimmt; dass nämlich der Streit um rassistische Stereotypen keine offene Debatte ist und auch keine sein kann. Das sollte so hingehen. Aber es erklärt nicht, wieso sich das rassistische Stereotyp in solchen Debatten plötzlich explosionsartig verbreitet. Freundeskreise fliegen auseinander, durch Familien gehen Risse, Kündigungen werden ausgesprochen, juristische Schritte werden geprüft, landauf und -ab wird gebrüllt, fliegen Widerworte, Steine und Fäuste, rasen Herzen, Polizei- und Krankenwagen; kurz, der Zank um das rassistische Stereotyp kann binnen weniger Wochen ein ganzes Land hysterisieren. Diese Rasanz der Ausbreitung wird durch die Unmöglichkeit einer offenen Debatte nicht erklärt. Sie erläutert uns nur Ergebnislosigkeit und Härte der Debatte, nicht aber, wieso sie binnen kürzester Frist fast die gesamte Bevölkerung in sich einstrudelt.

Druck, sich zu entscheiden

Der Kontagiösität solcher Debatten liegt denn auch ein anderer Mechanismus zugrunde, als die Unmöglichkeit der Debatten-Ebenen, einander in produktiver Weise zu treffen. Dieser Ausbreitungs-Mechanimus liegt darin, dass geschlossene Debatten — gerade, wenn sie in Wirklichkeit Sozialisationshandlungen sind — einen Entscheidungszwang errichten. Verschiedene Faktoren treten zusammen und lassen die Akteure der Debatte zu Missionaren und Heerscharsammlern werden. Zu diesen Faktoren zählen u.a. auf beiden Seiten die zunehmende emotionale Intensität der Debatte; auf Seiten des Rassisten-Gegners die Frustration, keine Annäherung oder Einsicht zu finden und die ansteigende Angst vor dem Rassisten und dessen zunehmender Gewaltbereitschaft; auf Seiten der Rassisten die ansteigende Angst vor der vermeintlichen Gefahr, die vom rassistisch Inkriminierten ausginge, usw. usf. All diese Faktoren lassen den Konflikt in einer Art eskalieren, die ihn zum Imperativ einer Entscheidung für praktisch jedermann hochjazzt. Menschen, die sich ansonsten eher politisch indifferent verhalten, empfinden — durch die Debatte! — einen ungemeinen Druck, sich für die eine oder andere Seite entscheiden zu müssen. Oft genug ist es nicht nur eine Empfindung, sondern eine ganz konkrete Forderung. Der Freund, die Kollegin, die Tante, der Bruder — es sind typischerweise die atypischen Gruppen, die diesen Entscheidungsdruck ausüben.

Und abermals trägt sich zu, dass ein Urteil gefällt wird, das in der Regel eher als Sozialisationshandlung, denn als Ergebnis rationaler Abwägungen verstanden werden muss. Diesmal als Wahl der Seite in der Debatte. Die Debatte tritt gar nicht als Sachdebatte an die Menschen heran, sondern als Aufforderung, Partei zu ergreifen. Und zwar sofort! „Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns!“, diese rabiate Zwangs-Dichotomisierung beherrscht irgendwann die Dynamik solcher Debatten.ii Sie wird in der Regel sehr viel klarer als Sozialisations-Dilemma empfunden, denn als Frage nach Erkenntnis und Wahrheit. Da ist dann plötzlich Rhodos, da muss man springen!

Und jetzt wird klar, wie durch die Debatte die finale Vereinheitlichung des Stereotyps stattfindet, das sich nun gleichzeitig in einem fulminanten Ausbruch verbreitet. Der Zwang zur Entscheidung in der Debatte ist mithin eine weitere Stufe des von uns gesuchten Mechanismus, wie die Vielfalt der Erfahrungen mit einer gemischten Gruppe von Menschen vereinfältigt wird. Die Vereinfältigung geschieht vermittels der Konstruktion einer Kontinuität der Erfahrungen. Von den, sagen wir 20 bis 30 tatsächlichen Begebnissen, die den eigenen Erfahrungsschatz tatsächlich ausmachen (und von denen dann noch ein Gutteil Hörensagen und Zweitehanderfahrung ist) werden jene 10 oder 15 aussortiert, die — je nach beabsichtigtem Urteil — zu einer Linie des Lasters oder einer Linie der Tugend sich fügen lassen (tendenziell eher eine Linie des Lasters). Sie dienen fortan als empirisches Belegmaterial für das Stereotyp; die restliche Gewissheit über die Richtigkeit des Stereotyps gründet sich dann auf das positive Feedback der auf diese Weise gewählten In-Group. Im Resultat aber ist geschehen, wonach unsere eingängliche Frage ging: Aus dem Nebeneinander vielfältiger Erfahrungen ist der scheinbare Zusammenhang einiger weniger, willkürlich ausgewählter Erfahrungen geworden. — Und eine eminent wichtige Handlung der Selbstversicherung und der Sozialisation.

Die Selbstversicherung funktioniert in der Debatte übrigens anders, als beim Verfertigen des Stereotyps. Am Stammtisch — in der typischen In-Group — ist die Selbstversicherung eine Belohnungshandlung; eine, die primär als Versicherung wechselseitigen Wohlwollens sich äussert, wenngleich sie durch gemeinsames Abwerten Anderer vollzogen wird. In der Debatte liegt der Fall ein bisschen komplizierter, denn hier besteht die Selbstversicherung in der zuverlässigen Provokation von Feindschaft. Es muss der richtige, der auserkorene Feind sein, der, indem er die ihm angetragene Feindschaft erwidert, scheinbar den Grund dieser Feindschaft bestätigt.

Die Wirksamkeit dieses Mechanismus soll man nicht unterschätzen. Eine fleißig erwiderte Feindschaft erhöht nicht nur das Gefühl der eigenen Wichtigkeit, sondern auch das Gefühl der eigenen Richtigkeit. Das ist der Grund, aus dem Polemiker Polemiken schreiben. Und ich hege, nebenher gesagt, den Verdacht, dass eben dieser Mechanismus auch ehedem den Kommunisten zu Kopf gestiegen ist; dass sie die vehemente Feindschaft, die ihnen sofort mit ihrem Eintritt in die Geschichte entgegen schlug, als Bestätigung interpretierten, es sei an ihrer Theorie ein durchaus wahrer Kern, der die Herrschenden in Angst und Zorn erbeben lasse. Das beweist nichts gegen die Kommunisten; es zeigt nur an, dass ihre eigentlichen Schwierigkeiten erst dort beginnen, wo sie halbwegs unangefeindet wirken dürfen.iii

Gefährliches Bewegungsdenken

Zurück zur eskalierenden Debatte. Die „getroffene Hunde bellen“—Interpretation einer erwiderten Provokation ist also über Bande gespielte Selbsttäuschung. Die Chance auf „Realitätsabgleich“, die eine Debatte bieten könnte, wird nicht nur verpasst, sondern von Vornherein in den Wind geschlagen, wo die Auseinandersetzung selbst als performative Bestätigung der eigenen Überzeugung mißbraucht wird. Durch die Debatte wird aus einem Stereotyp, das ja ein Freund-Feind-Schema für die eigene In-Group und gegen den rassistisch Inkriminerten markiert, ein neues, ein anderes Freund-Feind-Schema. Eines, in dem sich zwei In-Gruppen gegenüber stehen, die nämlich der Stereotyp-Verfechter und die seiner Entlarver. Dadurch entsteht die Dynamik einer wechelseitigen Zurichtung und das Stereotyp reift zum zentralen Wert eines Bewegungsdenkens heran. Verstehen Sie die Verwandlung? Erst ging es gegen die Kanaken, Neger, Juden usw. — aber in mehr oder minder lethargischer, dumpfer Feindschaft, weil sie ja im Wesentlichen eine Handlung des Gemütlichseins war. Nun aber wird es ungemütlich. Das Ganze gerät in Gärung und Bewegung, wo potentiell eigene (!) Leute sich in Opposition zum Stereotyp begeben. In dieser Auseinandersetzung verwandelt sich das Stereotyp vom Schibboleth eines „wir“ zum Schibboleth einer Bewegung. Und Bewegungsdenken ist eine sehr viel gefährlichere Form des Irrationalismus, als das sozialisierende Stereotyp. Es ist kurzlebiger (das Stereotyp kann ja Jahrtausende überdauern) — aber gewalttätiger.

Am Ende entbehrt es nicht einer gewissen Folgerichtigkeit. Alles verbleibt in der Sphäre des Handelns. Das Stereotyp tritt als Sozialisationshandlung in die Welt und endet als Handlung der Entsozialisation. Dazwischen vermeidet es tunlichst alle Umwege, die über das Denken führen. Das hat durchaus eine praktische Relevanz. Die nämlich, dass das Ringen um Stereotype kein Ringen um deren epistemischen Gehalt sein kann, sondern bestenfalls eines darum, die Debatte überhaupt einmal in die Sphäre des Denkens zu befördern; in den Raum der offenen Debatte. Und an dieser Stelle stellt sich die zeitweise verloren gegangene Einigkeit mit meinem Freund und Hirnteiler Felix Bartels wieder her. Da, wo er sich kritisch zur elften Feuerbachthese äussertiv, um die philosophische Praxis vor der Praxis des Schlagetot zu retten, da kann ich ihm nur beifallen. Offene Debatten verlangen nach einem Abstand zwischen Handeln und Denken. Das befürwortet nicht die Abkoppelung oder das Gegeneinandersetzen dieser beiden Modi der Lebensbewältigung. Es geht lediglich um eine gewisse Verzögerung; Bartels fordert einen Spalt zwischen Denken und Handeln, keinen Abgrund. Es ist dieser kleine Spalt, der den Menschen vom Tier trennt. Er ermöglicht überhaupt nur, einen Gegenstand des Bewegungsdenkens zu einem Gegenstand offener Debatten zu sublimieren. Andernfalls eskaliert die Debatte eben.

Eskalierende Debatten

Nun wissen Sie, wie es geht: Die eskalierende Debatte führt nicht aufklärerisch und verklügernd das Ende des Stereotyps herbei, sondern macht es zum Zentrum einer Bewegung. Die Bewegung wieder geht einher mit der hysterischen Steigerung einer Stimmung, von der auch psychisch gesunde Menschen erfasst werden. Irrationalität, heißt das, kann auch immer ein Affekt sein und benötigt nicht notwendig eine besondere tiefenpsychologische Struktur oder Disposition. Auch diese Dynamik der Hysterie gebe ich als Hinweis gegen Theorien vereinheitlicht fehlgeleiteter Wahrnehmungen. Natürlich können solche hysterischen Zustände nur für vorübergehenden Wahnsinn herhalten, aber erstaunlich oft ist ja der politische Irrationalismus tatsächlich nur vorübergehend. Der Mensch, heißt das vielleicht, ist trotz aller Aufgeregtheit am Ende wohl doch ein vernunftbegabtes Wesen.

Durch die Debatte also wird, was an potentieller Energie im ursprünglichen Stereotyp gespeichert war, schlagartig in Bewegung umgesetzt. Gewiss hängt dieses physikalistische Bild schief. Eigentlich ist bereits das ursprüngliche Stereotyp eine Handlung, also Bewegung. Dennoch verdeutlicht die Idee der sich entladenden Spannung die Funktion der eskalierenden Debatte sehr schön. Sie soll auch nahe legen, wie wichtig solche Dynamiken für das Begreifen der Geschichte sind. Vieles in der Geschichte ist Erzeugen und Ausnutzen von Momentum. Leute, die Machtergreifung und -ausübung im wesentlichen als technisches Problem begreifen, handeln von nichts anderem. Machiavelli, Pareto, Lenin, die ganzen Politik- und Militär-Strategen und die Nazis. Sie alle sitzen der Idée fixe auf, dass Politik eigentlich nur ein Koffer voller Tricks ist, mit denen man Initiative und Momentum erzeugen kann. Ich selber, das an den Rand notiert, halte überhaupt nichts von derlei Theoretikern und Feldherren der Macht. Denn die Aufgabe, eine halbwegs funktionierende Gesellschaft zu errichten, läßt sich auch mit den gerissensten Bewegungstricks nicht überlisten. Lediglich als Frage nach dem Weg, wie man dahin gelangte, dass die Gesellschaft humaner und gerechter werde, halte ich sie für überhaupt diskutabel.

Fein. Und jetzt fügen wir das Gesagte noch zu einem vollständigen Modell zusammen. Fertig!

Debatte
Abbildung: Dreistufenschema. Am Anfang (links) entsteht das Stereotyp in der typischen In-Group. Es erfüllt dabei die Rolle einer Sozialisationshandlung; seine epistemische Funktion ist nachgeordnet. Während seiner Verbreitung (mitte), wird das Stereotyp durch atypische In-Gruppen mit epistemischer Bedeutung aufgeladen. Es dient nun nicht mehr allein dem Ausweis der Zugehörigkeit sondern drückt bereits eine Haltung aus. Zum Ausbruch und zur letzten Vereinheitlichung kommt das Stereotyp schliesslich in der eskalierenden Debatte (rechts). In der eskalierenden Debatte führen verschiedene Mechanismen (Geschlossenheit der Debatte, Errichtung von Entscheidungszwängen) zur radikalen Vereinfachung und massiven Verbreitung des Stereotyps. Es verwandelt sich dabei zum zentralen Wert eines Bewegungsdenkens. – Die Angleichung der Farben soll die zunehmende Vereinheitlichung des Stereotyps verbildlichen.

Presse & Medien

Das Kapitel wird sehr viel kürzer ausfallen, als der medienkritische Leser es sich möglicherweise erwartet. „Erhofft“ wäre das richtige Verbum. Denn es gibt wohl einige, deren Stereotyp „Journalist“ oder „Internet“ heisst. Dort entstünden Lügen und Gerüchte und hirnverderbende Propaganda. Und Stereotype. Die Presse setzte die in Umlauf. Dort triebe der obrigkeitshörige und dem gefühlten Mainstream sich andienende Tastenficker sein Unwesen. In Redaktionsstuben und Landesmedienanstalten säßen sie: Die Schreibtischtäter, die über Zeichen gehn!

Wie gesagt, sehr viele Worte müssen zu Meinungen dieser Art nicht gemacht werden. Es ist klar, dass Zeitungen immer tendenziös sind — genauso wie ihre Leser. Zeitungen dienten von jeher der Bestätigung der eigenen Weltsicht. Kein Linker hält sich ein rechtes Blatt und kein rechter ein linkes. Man liest, was einem frommt. Sie kennen diese Figur ja nun schon zur Genüge. Man liest nicht, um vom Tagesgeschehen in Kenntnis gesetzt zu werden. Sehr viel wichtiger ist dessen mundgerechtes Zubereiten, je nach politischem Gusto. Auch Zeitunglesen, mit anderen Worten, ist Sozialisationshandlung. Und sei die In-Group hier lediglich die imaginierte Leserschaft des eigenen Blattes. Zeitunglesen tut zur grundlegenden Hämophektik der Stereotyp-Verfertigung und -Verbreitung nichts Neues hinzu. Zeitungen, Fernsehen, Radio — all das ist Bestandteil ganz des selben Mechanismus. Medien sind in der Regel Katalysatoren; sie beschleunigen den Gang der Hämophektik, aber sie ändern ihn nur wenig.v

Medien sind in unserem Zusammenhang eigentlich nur von Belang, weil sie das Sozialisations-Substrat vereinheitlichen. Danach haben wir uns ja immer wieder erkundigt. Die hauptsächliche Wirkung der Medien besteht darin, dass alle über das Selbe reden. Über die Silversternacht von Köln, über Griechenland oder Flüchtlinge, über die Dreyfus-Affaire und so weiter. Medien synchronisieren die Wahrnehmung der Massen. Das ist ihr wesentlicher Beitrag zum Stereotyp. Medien sind große Konsensmacher. Ungleich größere Konsens- als Konfliktmacher. Andernfalls würden die Medien längst pleite und aus der Welt sein.

Der Hauptzwang, dem alle Medien (mit Ausnahme vielleicht der eher seltenen Staatsmedien) ausgesetzt sind, ist natürlich der Zwang zur Profitabilität. Darin gleichen sie jedem anderen Betrieb. In dieser Hinsicht hat auch die Sache mit der Anbiederung an den Mainstream ihr Bewenden. Die Medien müssen ja tatsächlich um die Aufmerksamkeit ihrer Leser/Zuschauer/Hörer buhlen und miteinander konkurrieren. Von Zahl und Art des Publikums hängt der Preis der Werbeanzeigen ab, die nunmal das Brot der Medien sind. Nur in unseren Stereotyp-relevanten Zusammenhängen macht das alles wenig Unterschied. Das Andienen der Zeitung ist Sozialisationshandlung als Verkaufsstrategie; Widerspiegelung der Erwartung ihrer Leserschaft. Zwei Spiegel (sic!), einander vorgehalten. Katalysator und Resonanzboden, mehr nicht.vi

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i Ich kenne diese überaus nützliche Vokabel von meinem Freunde Henri Fietz.

ii An der Stelle soll nicht verhehlt werden, dass praktisch alles Bewegungsdenken an irgendeiner Stelle solche Entscheidungs—Dilemmata aufrichtet. Nicht nur der allzugern als „dumm“ abgetane amerikanische Präsident George W. Bush, nein, auch Liberale und Bewegungslinke terrorisieren ihre Mitmenschen durch Entscheidungs-Imperative in der Debatte. Auf der Strecke bleibt natürlich die Vielfalt der Gedanken. Prototypisch gebe ich das bekannte Lied „Sag mir wo Du stehst!“, das Hartmut König für den Oktoberklub in der DDR schrieb:

Refr

Sag mir, wo du stehst
Sag mir, wo du stehst
Sag mir, wo du stehst
Und welchen Weg du gehst!
Zurück oder Vorwärts, du musst dich entschließen
Wir bringen die Zeit nach vorn’ Stück um Stück!
Du kannst nicht bei uns und bei ihnen genießen
Denn wenn du im Kreis gehst, dann bleibst du zurück!
Du gibst, wenn du redest, vielleicht dir die Blöße
Noch nie überlegt zu haben, wohin
Du schmälerst durch Schweigen die eigene Größe
Ich sag’ dir, dann fehlt deinem Leben der Sinn!
Wir haben ein Recht darauf dich zu erkennen
Auch nickende Masken nützen uns nichts
Ich will beim richtigen Namen dich nennen
Und darum zeig mir dein wahres Gesicht!

Natürlich muss man Entscheidungen im Leben treffen; gerade auch weltanschauliche. Es ist nur eben so ungefähr das Falscheste, das sich tun lässt, Menschen zu dieser Art Entscheidung drängen zu wollen. Sie werden sie ohnehin treffen; und möglicherweise nicht in der Weise, die uns frommt. Ich prophezeie sehr viel mehr Ausgewogenheit und Rationalität der Debatten, wo sie, von Sozialisations- und unmittelbarem Entscheidungsdruck befreit, in den offenen Modus überführt werden können.

iii Jedes Bewegungsdenken kommt an den Punkt, wo es dieses Dilemma lösen muss, wie aus sich heraus, ohne äusseren Feind, wirksam werden. Dies mag ein Grund sein, aus dem die meisten politischen Bewegungen zwanghaft nach Abgrenzung und Feindschaft suchen. Es ist die geheime Furcht, impotent zu sein, wenn’s drauf ankommt. Das ist natürlich frech und alltagspsychologisch fabuliert; aber ich bringe es ja auch nur als Fußnote.

iv „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an sie zu verändern“, Karl Marx 1845

v Ich höre die Frage, was denn nun mit Lügen, Hetze und Propaganda sei? Wenn der „Stürmer“ seinerzeit nichts dazu getan hätte, das den Deutschen nicht ohnehin eingefallen wäre, hätte man Julius Streicher am Ende unbehelligt lassen müssen, anstatt ihn in Nürnberg zu hängen. — Ich habe zu dieser Frage eigentlich schon alles gesagt. In der Tat halte ich die Hinrichtung Streichers für einen Fehler. Nicht allein, weil ich gute Gründe gegen die Todesstrafe kenne, sondern auch, weil Streichers Todesschuld die Verantwortungsfähigkeit des Menschen grundsätzlich in Zweifel zieht. Was für ein loses Bild des Menschen, der seine Entscheidungsautonomie verlöre, sobald er Hetzparolen ausgesetzt wird. Wirklich, ist denn die Meinung der deutschen Justiz von ihren Staatsbürgern so gering, dass deren Fähigkeit zur Entscheidung zwischen recht und schlecht, schon durch ein Schmierblatt wie den „Stürmer“ gänzlich zum erliegen kommen kann? Welchen Sinn hätte die Rechtssprechung dann überhaupt? Liegt nicht an ihrem Grunde doch die Annahme einer prinzipiellen Freiheit eines jeden, zwischen gut und böse unterscheiden zu können – selbst wenn in einem Staat Propaganda und Hetze verbreitet werden? Das Todesurteil gegen Streicher reproduziert letztlich den „autoritären Charakter“, den es bestrafen und bessern will. Es entmündigt die Schuldigen.

Es macht aus Streicher einen verkehrten Jesus, der durch seinen Tod alle Schuld auf sich nimmt. Diese immer wieder kehrende Unart des Christentums, Verantwortung als ein delegierbares Gut zu behandeln, erfuhr zwar schon mit dem Rückgang des Ablasshandels handfeste Kritik, aber sie ist offenbar noch lange nicht aus der Welt. Momentan zeigt sie sich in den „Lügenpresse“-Rufen der Pegida-Bewegung. Dabei kann jeder Zeitungskiosk, sonst Hort des Banalen, des Tagesaktuellen und des Schunds, als heiliger Ort der Reinigung des deutschen Volkes herhalten. In seiner schauderhaft bunten Pracht zeigt sich die Realitätsverweigerung der Pegidisten; der Ruf von der Lügenpresse wird an der Scheußlichkeitsvielfalt zur Selbstentlarvung. Wenngleich wohl kein Blatt frei von Propaganda und Manipulationsabsicht sein dürfte, verhält es sich doch unleugbar so, dass ein jeder sich die Lügen aussuchen darf, die zu glauben er gewillt ist.

Natürlich soll Hetze strafbar sein. Kinder zum Beispiel sind ihr schutzlos ausgeliefert. Es reicht doch aber, wo sie belegbar ist, Hetze mit Geldbussen und im Wiederholungsfall Haftstrafen zu ahnden. Man soll mich nicht mißbegreifen. Streicher war ein in jeder Hinsicht widerwärtiger Mensch; selbst den Faschisten trieb er es zu krass. Aber es ist falsch, so zu tun, als wäre der normale Bürger nichts als eine Marionette der jeweils statthabenden Propaganda.

Meinungskampf, falsches Bewusstsein und Ideologie sind immer. Es ist die Aufgabe jedes Menschen, sich zwischen allen Fronten zurecht zu finden. Er kann diese Aufgabe weder an eine herbei gesehnte Wahrheits-Presse, noch an Gott oder an eine ideale Schulbildung abgeben. Allein der Rechtssprechung eines Staates kommt zu, Vernunft, Augenmaß, Weisheit und Gerechtigkeit zu markieren, damit der Mensch einen Rahmen finde. Selbst wenn das dann, im täglichen Betrieb, zu nicht mehr, als Recht und Ordnung verkommt.

vi Gleiches gilt für die Entdeckung der „Filter Bubble“ im Internet durch Eli Pariser, gegen den ich ansonsten gar nichts einwenden will. Aber Sie merken schon, dass es langweilig wird, die Sache immer wieder von Neuem durchzuexerzieren. Natürlich ist die „Filter Bubble“ nicht neu. Abermals ist es die uralte Form der Selbstversicherung am Andern, die nun auch — oh Wunder! — im Internet stattfindet. So ist das nunmal, wenn Menschen kommunizieren. Die Sache wird dadurch, dass die Medien von Einweg-Kommunikation (Zeitung, Radio, Fernsehn) auf Mehrweg-Kommunikation umgestellt haben, nicht anders. Bei den klassischen Medien wählte man das Blatt oder den Sender. Heute wählt man die „Freunde“ auf facebook, bzw. entfreundet sie, wenn sie die Gemütlichkeit der Filter-Blase allzu sehr stören. Es ist bequemer, als ein Journal, über das man sich ärgert, abzubestellen. Das ist der Fortschritt. Gleiches gilt, das zu Ändernde geändert, für Twitter, Diskussionsforen und Online-Chats. Die Menschen sind die selben und ihr grundlegendes Kommunikationsverhalten auch.

Daniel Rapoport

Daniel H. Rapoport, geb. 1971, studierte Chemie an der TU Berlin und arbeitet seitdem als Wissenschaftler an Technologien zur Analyse und Vermehrung menschlicher und tierischer Zellen. Neben wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht D.H. Rapoport Essays und Glossen zu Politik, Philosophie und Kunst.

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