Dekadenz des Westens – Vor der Wahl zwischen Schiffbruch und Reformation
Vielleicht nicht der Untergang, aber „Vermittelmaßung“ droht dem Westen, wenn er sich nicht auf seine ureigene Kraft besinnt, so Gastkolumnist Oliver Weber: Auf die Kraft der Wandelbarkeit.
Zwischen Wirtschaftskrisen, politischem Versagen und gesellschaftlicher Verrohung ist nun auch die repräsentative Demokratie in das vernichtende Trommelfeuer des umgreifenden Nihilismus geraten. Mit zittrigem Stand stehen wir auf den ersten Treppenstufen eines neuen Jahrtausends und müssen uns fragen: Ist der Westen dekadent geworden?
Triumphzug des Westens
Die Geschichte des Westens ist die Geschichte eines epochalen Triumphzugs. Keinesfalls linear, niemals widerspruchsfrei beginnt sie im 16. nachchristlichen Jahrhundert. Bis zu diesem Zeitpunkt repräsentierte China die wohl meistambitionierte Zivilisation der Welt. Das asiatische Großreich, stramm organisiert, durchlebte den kulturellen Glanz blühender Großstädte, auf deren Nährboden ein wahrhaft mächtiges Imperium erwuchs. Zu einer Zeit, in der sich nur drei europäische Städte – London, Paris und Neapel – damit rühmen konnten, 300.000 Menschen zu beheimateten, lebten so viele Bewohner allein in Pekings Regierungsviertel. Die Mandarine, aufwendig geprüfte und getrimmte Zivilbeamte, organisierten die Ordnung eines Reiches, das sich über eine Fläche europäischen Ausmaßes erstreckte, während die Alte Welt, wie wir heute zu sagen pflegen, einer blutgetränkten Provinz glich.
Das sollte sich ändern. Ausgehend vom 16. Jahrhundert durchlebte Europa und schließlich auch Nordamerika drei so umwälzende Revolutionen, die den glorreichen Schiffskahn namens Westen zur allüberblickenden Spitze der neuzeitlichen Welt segeln lassen sollten. Sie alle zeichnen sich durch die unglaubliche Dynamik aus, mit denen sie die Grundlage der europäischen Herrschaftssysteme revolutionierten – das wahre Erfolgsgeheimnis des Westens.
Reform, die Grundlage des westlichen Erfolgs
Der Revolutionär erster Ordnung, ein Mann namens Thomas Hobbes, machte mit seinem Werk „Leviathan“ den Anfang. Der britische Staatsphilosoph, der einmal von sich sagte, er und die Angst seien Zwillinge, wuchs ab 1588 in den Wirren des frühneuzeitlichen Großbritanniens auf. Geprägt von Rebellionen, religiösen Konflikten und politischen Machtspielen entwarf er eine Staatstheorie, die all das beseitigen sollte. Er skizziert den philosophischen Naturzustand der Menschen, vornehmlich charakterisiert durch Chaos, Anarchie und den ständigen „Krieg aller gegen alle“. Denn „der Mensch ist des Menschen Wolf“. Der Souverän, der dies bändigen sollte, so postulierte Hobbes, sollte der Staat sein. Seine Aufgabe sollte es sein, Macht auszuüben, deren Legitimität in ihrer Wirksamkeit begründet liegt. Seine Meinungen definieren Wahrheit, seine Direktiven repräsentieren Gerechtigkeit.
Nicht schwer zu erraten, wie die absolutistischen Königshäuser Europas daran Gefallen finden konnten. Doch es steckt auch ein leicht entfachter Funke Liberalismus in Hobbes‘ Werk. Denn der Leviathan kann auch die Form eines Parlamentes einnehmen und der Bürger bei Hobbes wird zuerst als vernunftbegabtes, mündiges Wesen betrachtet. Die Essenz des „Leviathan“ ist ein Territorialstaat, gebunden an Normen und Gesetze, der für seine Bürger geschaffen ist, nicht die Bürger für ihn.
Eine Revolution. Könige und Fürsten in ganz Europa etablierten in den folgenden Jahrzehnten staatliche Gewaltmonopole, schufen eine eindrucksvolle staatliche Verwaltung und erbauten die uns heute noch bekannten modernen Nationalstaaten, die schließlich mit dem Rückenwind der industriellen Revolution die „Führerschaft der Geschichte“ antraten.
Diese enorme Machtkonzentration, die immer häufiger in Despotie und Tyrannei mündete, bereitete den Weg für die Ideen des Liberalismus. Die zweite Revolution. In Nordamerika proklamierten 1776 die Gründerväter die Unabhängigkeit ihres Staates von der Herrschaft des Königreichs. Das im Kommen begriffene Gemeinweisen der Vereinigten Staaten berief sich auf staatsbürgerliche Gleichheit, Demokratie, Menschenrechte und die Freiheit jedes Einzelnen. In Frankreich stürzten die Revolutionäre 1789 den Inbegriff absolutistischer Macht. Und auch in Großbritannien setzte das Parlament in beeindruckender Art und Weise bürgerliche Freiheitsrechte durch. Die aristokratischen, durch Privilegien gekrönten politischen Eliten westlicher Länder wurden durch Leistungseliten ersetzt. Die Energien, die diese gigantische Umwälzung freisetzte, waren die Grundlage folgenden wirtschaftlichen Aufschwungs und politischer Dominanz. Es war der Beginn der Normativierung des Westens als die Versammlung liberaler Demokratien, auf die wir uns heute als „Wertegemeinschaft“ beziehen.
Und auch diese Revolution legte den Grundstein der nächsten. Die Kluft zwischen den Klassen der Gesellschaft, die Armut und das schreiende Leid der Arbeiterklasse auf der einen Seite und die enorme Wohlstandssteigerung des gehobenen Bürgertums auf der anderen Seite, machte erneut eine grundlegende Veränderung der westlichen Herrschaft notwendig. Es schlug die Stunde des Sozialstaats – und der europäischen Sozialdemokratie.
Unter der Koalitionsregierung Winston Churchills wuchs beispielsweise in Großbritannien mit kostenloser Schulbildung und allerlei Sozialversicherungen ein enormer Wohlfahrtsstaat heran. In Deutschland blähte sich der Sozialstaat, aufbauend auf die Versicherungen der Bismarck’schen Politik, im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer weiter auf. In den USA führte der „New Deal“ Roosevelts zum Ausbau von Transferleistungen sowie den sonst eher unbeliebten Interventionen des Staates in die Privatwirtschaft. Quer durch den Westen erklomm die Staatsquote in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ständig neue Höhen. Das Proletariat, eine Klasse, die bis dato nie mit dem westlichen Herrschaftsmodell versöhnt war, ging entschlossenen, strammen Schrittes im Bürgertum, der „Mitte der Gesellschaft“, auf.
Als dies in den 1970er-, 80er- und 90er Jahren an Stagnation und Ineffizienz scheiterte, begann die neoliberale Reform durch Margaret Thatcher und Ronald Reagan im Vereinigten Königreich und den USA, die zum Ziel hatte, die westlichen Volkswirtschaften wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Allerdings, diese halbe Revolution geschah nur mit mäßigem Erfolg – die Staatsquote Großbritanniens beispielsweise sank um lediglich zwei Prozent.
Es war die vorerst letzte der drei bedeutenden Revolutionen, die uns dort hin beförderten, wo wir nun stehen. Ständige Reform, die Produktion der Ideen als Antwort auf Probleme, ist der eigentliche Wesenskern des Westens. Nichts verkörpert dies besser als die revolutionären Ideen von Territorialstaat, liberaler Demokratie und Sozialstaat.
Dekadenz oder Reform
Nun, im Anbruch eines neuen Jahrtausends, ist der Westen abermals in die Krise geraten. In dem gigantischen Beben der Verhältnisse, das Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Staatsüberschuldung, Globalisierung und Massenmigration über Alte- wie Neue Welt gebracht haben, droht der westliche Triumphzug, ironisch begleitet von Hedonisten-Orchester postmoderner Spaßkultur, zu Ende zu gehen. Ein Trauerspiel. Ein Abgesang.
In Wahrheit aber eine alte Angst. Konrad von Schmidt-Phiseldeck, ein deutsch-dänischer Kantianer, war sich schon im 19. Jahrhundert sicher, die Marginalisierung des Okzidents drohe. Die jungen Völker, womit er vornehmlich die Russen und Chinesen meinte, seien schlichtweg jünger und dynamischer als die europäischen Greise. Ein Gedanke, den die konservativen Revolutionäre Oswald Spengler und Arthur Moeller van den Bruck im 20. Jahrhundert unter der Parole des untergehenden Abendlandes erneut aufgriffen, bis sie schließlich Papst Franziskus mit seiner Betitelung Europas als „unfruchtbare Großmutter“ in das 21. Jahrhundert rüber rettete.
Der Grund, warum diese Prophezeiungen nicht einmal annähernd in Erfüllung gingen – ja, sich sogar ins Gegenteil verkehrten – war die eindrucksvolle Reformtätigkeit westlicher Regierung. Die Dynamik, die aus freier Marktwirtschaft, liberaler Demokratie und offener Gesellschaft erwächst, ist in der Lage Krisen zu bewältigen. Sie befähigte die westlichen Nationalstaaten – zumindest zeitweise – zur „Führerschaft der Geschichte“, weil sie die „besten Ideen“ hervorbrachte, wie der hierzulande längst vergessene Ökonom und Sozialphilosoph Alfred Marshall 1919 bemerkte. Und hier, so scheint es, offenbart sich des Pudels Kern. Ironischerweise sind es die Eliten autoritärer Staaten wie China oder Singapur, die Marshalls Einsicht von Reichtum und Formbarkeit moderner westlicher Staaten verinnerlichen. Die chinesische Führung studiert die großen westlichen politischen Theoretiker – Alexis de Tocqueville erfreut sich besonderer Beliebtheit – und ihre Bürokraten durchkämmen die Welt auf der Suche nach den besten Ideen des Regierens.
Währenddessen erleben wir in der westlichen Zivilisation die Krise der repräsentativen Demokratie. Tag für Tag hauen uns Meinungsforschungsinstitute die katastrophalen Vertrauenswerte politischer Institutionen um die Ohren, wobei längst nicht mehr von einer temporären Unzufriedenheit westlicher Gesellschaften mit ihren Eliten ausgegangen werden kann. Die Krise der Demokratie zeigt sich auch im tosenden Gebrüll der linken und rechten Demagogen, von Donald Trump bis Marine Le Pen, die angesichts der angsteinflößenden Umwälzungen unserer Tage das Gedankengebäude des Westens einzureißen versuchen. Die Eliten selbst, durchgeschüttelt von einer seit 2008 nicht enden wollenden Krise des westlichen Kapitalismus sowie der komplexen, globalisierten Welt, der sie mit althergebrachten politischen Lösungen nicht Herr werden können, verschließen die Augen und scheitern grandios.
Peter Sloterdijk betitelte jüngst die Destabilisierung der bekannten Verhältnisse mit der Formel vom „Dasein im Hiatus“ – zwischen vergangenen Lebenswelten und neuen Verwerfungen der Geschichte klafft ein Riss, der ständig tiefer und breiter wird. Der Westen stagniert, ist überschuldet, seine Bevölkerung unzufrieden, veraltet und droht von autoritären Systemen wie China übertrumpft zu werden. Der elegant-frivole Ausruf der Madame Pompadour zu Zeiten des Ancien Régime – „Nach uns die Sintflut“ – scheint dabei zur empörenden Ouvertüre des Kommenden zu werden. Es lässt schlichtweg nicht los, das Bild des von der Macht in die Arroganz getriebenen alten Westmannes, der in pathetischem Ton, gegen die sich ständig weiterdrehende Welt polemisiert. Doch er wird scheitern.
Als die Sowjetunion zusammenbrach, sprach man vom „Ende der Geschichte“ – dem Siegeszug des Westens über den gesamten Globus. Welch‘ Irrtum! Was ist dies sonst, als die Resignation einer Zivilisation, die sich im eigenen Unwillen, den Verlauf der Geschichte selbst in die Hand zu nehmen, suhlt. Dem Unwillen zu gestalten, zu verändern, reformieren. Nur wenige Jahre später blicken wir Widerwillens auf den vor uns liegenden Trümmerhaufen und stellen erschrocken fest: Die Geschichte hat uns eingeholt. Und wir weigern uns, sich ihr zu stellen.
Dabei liegt gerade die Problemlösung, Veränderung und Formbarkeit in der für unveräußerlich gehaltenen DNA des Westens – nicht die vom einsetzenden Altersstarsinn rührende Weltignoranz. Die vielen Krisen, vor denen wir stehen, sind lösbar. Aber gerade dieser kritische, zweckorientierte Optimismus scheint verloren.
Was droht ist Dekadenz. Vielleicht nicht der Untergang, wohl aber die Vermittelmaßung des Abendlandes, was mit Blick auf das Mittelmaß der Welt nicht gerade erbaulich scheint. Das Mittel gegen die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zerwürfnisse unserer Tage ist und bleibt das, was über fast fünf Jahrhunderte die Resilienz des Westens in Phasen des Nihilismus auszeichnete: Der Wille und die Fähigkeit zur Reform. Oder um es in den Worten des österreichischen Philosophen Otto Neuraths zu sagen: „Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen.“
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