Kann man aus der Geschichte lernen? – Anmerkungen zu einer Kontroverse

Die Geschichte der ersten Hälfte des „kurzen“ 20. Jahrhunderts (1914-1991) wurde durch zahlreiche traumatische Ereignisse und durch menschengemachte Katastrophen geprägt. Haben die politischen Klassen der betroffenen Länder entsprechende Lehren daraus gezogen?


„Lehrmeisterin des Lebens?“

Der von Cicero formulierte Satz, dass die „Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens“ sei, hat in der letzten Zeit im Allgemeinen an Überzeugungskraft verloren. Viel populärer scheint das Diktum des irischen Dramatikers George Bernard Shaw zu sein: „Wir lernen aus der Geschichte, dass wir aus der Geschichte nichts lernen“. Etwa in diesem Sinne argumentierte vor einigen Jahren auch der SZ-Autor Gustav Seibt. In seinem Artikel Wildes Geschichtsdenken. Das Irak-Kriegsdesaster der Intellektuellen (SZ vom 19. Februar 2007) vertrat er die These, man könne aus der Geschichte nichts mehr lernen, „denn die neuzeitlich bewegte Geschichte mit ihrer unentwegten Veränderung aller Grundbedingungen des Daseins verhindert die Wiederkehr ähnlicher Konstellationen und Situationen“. Diese Aussage ist erstens aus meiner Sicht unhistorisch, denn umwälzende Veränderungen gehören zum Wesen aller großen Epochen; was für die Neuzeit gilt, gilt auch für das Mittelalter und die Antike. Zweitens stellt der kulturpessimistische Satz, man könne aus der Geschichte nichts mehr lernen, die Staatsräson der Bundesrepublik weitgehend in Frage.

Denn das Prinzip der „wehrhaften Demokratie“, auf dem die “zweite“ deutsche Demokratie basiert, ist untrennbar mit den geschichtlichen Lehren verbunden, die aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie gezogen wurden. So forderte z. B. der Sozialdemokrat Carlo Schmid im September 1948 im Parlamentarischen Rat, als dieser über die neue Staatsordnung Deutschlands beriet: „Mut zur Intoleranz denen gegenüber, … die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“.

Auch der Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes, in dem von der unantastbaren Würde des Menschen die Rede ist, stellt  eine Antwort der Urheber des Grundgesetzes auf die beispiellose Missachtung dieser Würde in der NS-Zeit dar. Und schließlich wären die europäischen Integrationsprozesse nach 1950 ohne die verheerenden Erfahrungen der beiden Weltkriege undenkbar gewesen. All das zeigt, dass der Satz von der Geschichte als der „Lehrmeisterin des Lebens“ keineswegs veraltet ist. Von der Geschichte könne man durchaus lernen, sagt der britische Historiker Lewis B. Namier (1888-1960), allerdings nur unter der Voraussetzung, dass man genug Phantasie und Intuition habe, um die vergangenen Erfahrungen nicht mechanisch auf völlig neue Situationen zu übertragen. Namier führt mehrere Beispiele für solch  ein mechanistisches Geschichtsdenken an: So habe die Angriffstaktik des preußischen Generalstabes, die 1870 der französischen Armee eine verheerende Niederlage beigebracht hatte, auch viele Generäle zu Beginn des Ersten Weltkrieges inspiriert, was zu entsetzlichen Verlusten an der Westfront führte. Die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges hätten wiederum die französische Militärführung zum Bau der Maginot-Linie bewogen, die 1940 von der deutschen Wehrmacht ohne Probleme umgangen wurde. Dieses mechanistische Analogiedenken veranlasst Namier zu folgendem Fazit: „Die früheren Erfahrungen werden rigide auf die neuen Situationen übertragen, und so sind die Vorbereitungen abgeschlossen, die bereits vergangenen Kriege erneut zu führen“.

Der britische Historiker weist aber zugleich darauf hin, dass auch ein anderer, kreativer Umgang mit der Geschichte möglich sei. So habe die Erinnerung an das Jahr 1918 – an den Sieg über das Wilhelminische Reich – es den Engländern erleichtert, das Jahr 1940, das zu den schwierigsten in der Geschichte des Landes zählte, zu überstehen.

1917 vs. 1991 – zwei russische Revolutionen nach unterschiedlichen Szenarien

Auch die neueste russische Geschichte liefert einige Beispiele für einen „kreativen Umgang“ mit der Geschichte. Dies betrifft nicht zuletzt die Augustrevolution von 1991, die zur Entmachtung der Kommunisten führte. Sie verlief beinahe ohne Blutvergießen und dies am Ende eines Jahrhunderts, das zwei Weltkriege, zahlreiche Bürgerkriege, Auschwitz und den Archipel GULag erlebt hatte! Vielleicht waren es aber gerade diese traumatischen Erinnerungen an die Schrecken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in der Sowjetunion erst 1953 – mit dem Tode Stalins – zu Ende gegangen waren, welche die im Wesentlichen friedliche Auflösung des kommunistischen Regimes in der „Heimat der Diktatur des Proletariats“ mitbedingten. Diese Erfahrungen prägten das Verhalten der Sieger nach der Bezwingung des kommunistischen Putschversuchs vom August 1991. Viele von ihnen wollten die Ereignisse vom August 1991 nicht als eine Revolution sehen, da sie damit Erscheinungen wie Massenterror und Diktatur verbanden. Nicht zuletzt deshalb verzichteten sie auf eine Abrechnung mit den Besiegten nach bolschewistischer Manier. Für einen der führenden Vertreter des demokratischen Lagers, Gawriil Popow, war dies eine Entscheidung von außerordentlicher Tragweite, und zwar nicht nur für Russland, sondern auch für die übrige Welt.

Die später (1998) ermordete demokratische Politikerin Galina Starowojtowa hielt es dagegen für einen unverzeihlichen Fehler der Demokraten, dass sie ihren Sieg vom August 1991 nicht ausreichend genutzt hätten: Gerade damals habe eine einmalige Gelegenheit bestanden, den geschockten alten Machtapparat abzulösen bzw. radikal zu erneuern. Das sei aber nicht geschehen und so hätten die alten Strukturen eine Atempause erhalten, um sich erneut zu konsolidieren. Hätten die Kommunisten gesiegt, fuhr die Politikerin fort, wären sie gegenüber ihren demokratischen Opponenten wohl nicht so großzügig gewesen.

Die Befürchtungen Starowojtowas haben sich bestätigt. Etwa zwei Jahre nach ihrem Tod wurde mit dem Machtantritt Wladimir Putins in Russland das System der „gelenkten Demokratie“ errichtet, das die Revanche der 1991 entmachteten Eilten geradezu symbolisierte. All das steht allerdings auf einem anderen Blatt. Es bleibt dennoch festzuhalten, dass sich der Ausbruch Russlands aus der Sackgasse, in die die Bolschewiki das Land im Oktober 1917 hineinmanövriert hatten,  nach einem ganz anderen Szenario vollzog als seinerzeit der Eintritt Russlands in diese verhängnisvolle Phase seiner Geschichte. Diese Tatsache war eindeutig darauf zurückzuführen, dass die Sieger vom August 1991 in einer „kreativen“ Weise  (Namier) Lehren aus der Geschichte gezogen haben.

Kein „demokratisches Wunder“ im Greater Middle East

Abschließend noch einige Worte zu der von Namier geschilderten mechanischen Übertragung von Geschichtserfahrungen auf neuartige Situationen. Dazu zählte der amerikanische Versuch, die westlichen Demokratiemodelle auf islamisch geprägte Länder auszudehnen. Dies wird von Gustav Seibt in seinem bereits erwähnten Artikel mit Recht kritisiert:

Der wünschenswerte Sturz Saddams wurde umstandslos mit dem Kampf gegen Hitler parallelisiert, die Demokratisierung des Iraks mit der Demokratisierung Westdeutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen, und die Chancen einer demokratischen Ausstrahlung auf den gesamten Nahen Osten legte man sich zurecht mit dem Ende des Ostblocks und der raschen Etablierung bürgerlicher Demokratien danach. Nur über den heutigen Irak und seine reale innere Lage wusste kaum jemand etwas zu sagen.

Man könnte noch hinzufügen, dass die Verfechter solch mechanistischer Analogien Folgendes außer Acht ließen: Die Empfänglichkeit Deutschlands und der ehemals kommunistischen Staaten für demokratische Denkmodelle war nicht zuletzt damit verbunden, dass die Idee vom deutschen „Sonderweg“ durch Auschwitz und diejenige von der kommunistischen „lichten Zukunft“ durch den „Archipel Gulag“ völlig diskreditiert worden waren. Angesichts dieses weltanschaulichen Vakuums war die Bereitschaft, demokratische Ideen zu akzeptieren in Deutschland und in Osteuropa (zumindest in der Zeit der Gorbatschowschen Perestroika) besonders groß.

In der islamischen Welt hingegen lässt sich keine vergleichbare Erosion der traditionellen Wertvorstellungen beobachten. Im Gegenteil, nach einem vergeblichen Versuch, sich an solche westlichen Ideologien wie Nationalismus oder Marxismus anzulehnen, findet dort eine Rückbesinnung auf das ursprüngliche religiöse Selbstverständnis statt. Die Ideen und Lebensweisen des durch und durch säkularisierten Westens rufen große Skepsis hervor.

Als Francis Fukuyama 1989 das Ende der Geschichte verkündete, schienen alle Gefahren, die die offenen Gesellschaften bis dahin bedrohten, der Vergangenheit anzugehören. Das demokratische Prinzip feierte Triumphe beinahe auf allen Kontinenten. Man fühlte sich an das Jahr 1918 erinnert, als die demokratisch verfassten Staaten einen beispiellosen Sieg über autoritäre Regime unterschiedlichster Art feierten und beinahe den ganzen Erdball, bis auf das isolierte Sowjetrussland, unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Dass dieser Sieg keineswegs endgültig war, hat der einige Jahre später begonnene Siegeszug der diktatorischen Regime in Europa eindeutig gezeigt. Und auch die Wende von 1989 stellt bekanntlich kein „Ende der Geschichte“ dar. Die Terroranschläge vom 11. September 2001, die das 21. Jahrhundert einläuteten, haben dies deutlich vor Augen geführt.

Welche Schlussfolgerungen werden die Verfechter der „offenen Gesellschaft“ aus dieser „Rückkehr der Geschichte“ ziehen? Werden sie auf die Gefahren, die diese Gesellschaft erneut bedrohen, sensibel reagieren? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet hierfür viele Lösungsversuche, wenn auch keine Patentrezepte, die man mechanisch auf die Situationen von heute übertragen kann. So bleibt die Geschichte auch heute noch die vielleicht wichtigste „Lehrmeisterin des Lebens“. Allerdings nur für diejenigen, die im Sinne Lewis Namiers einen „kreativen“ Umgang mit ihr pflegen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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