Entpören Sie sich!
Empören ist der neue Volkssport. Es gibt nichts, über das sich nicht jemand empört. Es geht aber auch anders. Versuchen Sie es einfach mal.
Seit einiger Zeit sind ständig welche empört. Das ist ja empörend, unfassbar, unglaublich, skandalös. Da muss man doch sofort etwas gegen unternehmen. Worüber man sich empören will, ist relativ beliebig. Ob dasjenige überhaupt stimmt, ist auch egal. Hauptsache, es gibt alle paar Tage etwas Neues, über das man sich erregen kann. Es gibt bald mehr Säue, die durchs Dorf getrieben werden, als Dörfer.
Die Empörungsmaschinerie
Natürlich gibt es empörende Dinge, aber die sind gar nicht erforderlich, um die Empörungsmaschinerie am Laufen zu halten. Wichtigster Empörungsturbo ist das Internet und innerhalb des Internets die mehr oder eher weniger sozialen Netzwerke Facebook und Twitter.
Was hat es für den Lauf der Welt oder auch nur für meine kleine Welt oder mein persönliches Wohlbefinden für eine Bedeutung, wenn ein Journalist bei Facebook ein überflüssiges Smiley postet und dann Ärger mit seiner Redaktion bekommt? Was passiert, wenn ein Sänger, der öffentlich seltsame Meinungen geäußert hat, von einem Sender für einen mittelmäßigen Wettbewerb nominiert wird? Und dann doch wieder nicht. Nichts.
Da kann ich eine Meinung zu haben oder auch nicht und ich kann sie auch äußern oder nicht, aber beides ist doch kein Grund, jetzt die giftgrüne Hasskappe aufzusetzen und alarmistisch das Ende von irgendwas, wenn nicht schon gleich den Weltuntergang, zu beschwören, Petitionen zu starten und eine Tsunamiwelle an Empörung auszulösen.
Der einzige Grund, der mir dazu einfällt, ist, dass es Spaß macht, sich öffentlich zu erregen. Es kann zwar nicht jeder als Exhibitionist durch den Park rennen, aber als Cyberexhibitionist durch das WorldWideWeb, das geht immer. Facebook ist das Viagra der Meinungsonanierer, das eine Dauerlatte garantiert. Der tapfere Wichser aus dem Beitragsbild steht übrigens in Dubrovnik gleich neben der Kirche, warum auch immer. Seine Dauererrektion ist in Stein gemeißelt. Manchen wird auch das empören.
Untergang geht immer
Alle naselang ist irgendwo von irgendeinem Untergang die Rede. Untergang der Demokratie, weil man nicht vor jeder Entscheidung jeden Deppen gefragt hat, Untergang der Pressefreiheit, weil seriöse Medien nicht jede Verschwörungstheorie verbreiten, Untergang des Abendlandes, Untergang Deutschlands, sowieso.
Neben der Empörung, die sich in erster Linie durch Facebook-Posts und Tweets bei Twitter Luft macht, ist die Lust am Untergang ebenfalls weit verbreitet.
Die sozialen Netzwerke sind ein Tummelplatz für Apokalyptiker. Einige sehen Deutschland vor einer „Invasion von Immigressoren“, ausgelöst von „Buntifanten“ unter Leitung der „Irren aus dem Bundesbunker“ und finanziert vom „Steuersklaven“, andere wittern hinter jeder kritischen Frage zur aktuellen Flüchtlingspolitik mindestens einen nationalsozialistischen Hintergrund des Fragenden. Andere sehen in Jedem, der für etwas Widerspruch erntet, was er gesagt oder geschrieben hat, aber der sich ansonsten bester Gesundheit erfreut, gleich einen Märtyrer der Meinungsfreiheit, manche meinen auch das schriebe man „Mehrtürer“. Merke: Märtyrer sind mindestens tot. Das gehört zur Berufsbeschreibung eines anständigen Märtyrers.
Verbale Schwanzvergleiche
Obwohl die sozialen Netzwerke eigentlich die ideale Plattform für einen breiten Meinungsaustausch und damit Demokratie fördernd sein könnten, wird dort nur an wenigen Stellen halbwegs gesittet diskutiert. Dem Anderen mal spaßeshalber zuzuhören, wird wohl als Zeichen von Schwäche gesehen. Das ist schade. Von Diskussionskultur ist da nichts zu sehen. Der verbale Schwanzvergleich zählt mehr, als ein offener Diskurs. Und es ist nicht mal nur der Pöbel, der pöbelt.
Aus der Sicht der sozialen Netzwerke leben wir in Deutschland offenbar in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand, der umgehendes Handeln erfordert. Besonders durchgeknallte – hah, ein gefährliches Wort – fordern schon eine Bewaffnung der Bevölkerung, jedenfalls des Teils der Bevölkerung, die ihre Meinung teilen, und kokettieren offen mit dem Widerstandsrecht des Grundgesetzes. Übrigens besonders die, die meinen, dass dieses Grundgesetz gar nicht gilt – womit der jammernde Barde wieder durch die Kolumne wabert.
Dauererregte Paranoide
Außerirdische, die die sozialen Netzwerke scannen würden, um sich einen Überblick über das Leben in Deutschland zu verschaffen, müssten den Eindruck eines großen Reservates von dauererregten Paranoiden im Zeichen des „blauen f“ oder des kleinen Vögelchens bekommen.
Allerdings nur, solange sie ernsthaft denken würden, die Wirklichkeit sei identisch mit dieser partiellen, verzerrten Wirklichkeit der sozialen Netzwerke.
Ich war letzten Samstag zuerst in einer Shopping-Mall in Hürth und danach in der Kölner City. Ehrlich gesagt hatte ich damit gerechnet, dass es dort relativ leer wäre, weil – Sie wissen schon, German Angst – jederzeit an jedem belebten Ort mit Terroranschlägen zu rechnen ist. Ich sah mich schon als einsamen Helden der Konjunktur in leeren Läden, unerschrocken dem Terror die Stirn bietend. Da hatte ich mich aber gründlich verkalkuliert. Rappelvoll waren die Geschäfte. Die einzige Angst, die zu spüren war, war die, dass die Schlange an der Kasse zu lang werden könnte oder die Klamotten nicht in der richtigen Größe vorhanden sein könnten. Weit und breit keine furchtsamen Blicke. Ich glaube jetzt mal nicht, dass das nur in Köln so war.
Echte Relevanz
Okay, auf eine real empörte Person bin ich tatsächlich gestoßen. Während ich draußen, mitten in der Fußgängerzone an einem öffentlichen Aschenbecher eine Zigarette rauchte, kam eine Frau ohne Not in meinen Nahbereich – sie hatte rechts wie links 10 Meter Platz um an mir vorbeizugehen – und empörte sich.
Als noch bekennender FB-Junkie musste ich Idiot das natürlich gleich posten:
„Ich rauche gerade draußen in einer Fußgängerzone. Eine Frau schnaubt empört:“Jetzt habe ich gerade geatmet!“ Muss sie meinetwegen nicht.“
Und wissen Sie was? Dieser weiß Gott überflüssige Thread bekam 425 Likes und 99 Kommentare. Das sind etwa so viele Likes wie eine gut laufende Kolumne von mir normalerweise bekommt und etwa 10 Mal so viele Kommentare. Da stimmen doch die Relationen nicht mehr, oder? So etwas treibt dann ernsthaft den sogenannten Klout-Score in die Höhe. Eine angebliche Messlatte für Relevanz in den sozialen Medien. Da sieht an mal, was so ein Score wert ist. Vermutlich lassen Katzenfotos die vermeintliche Relevanz noch dramatischer anschwellen.
Nothing is real
Ich wusste doch schon immer, dass die Beatles recht hatten. Nothing is real and nothing to get hung about. Bei Facebook ist das so. Strawberry fields forever.
Schön, dass die Welt außerhalb der sozialen Netzwerke wesentlich empörungsresistenter zu sein scheint.
Beruhigend sind Gespräche mit Menschen, die sich jenseits der sozialen Netzwerke bewegen. Meine Mutter erzählt mir die üblichen Geschichten aus dem Bekanntenkreis. Die Terroranschläge entlockten ihr ein,“ist das nicht schrecklich“, mehr aber auch nicht. Sie lebt ihr Leben unbeeindruckt von eingebildeten Risiken und jenseits künstlich erzeugter Empörung. Sie guckt die Nachrichten und liest die Tageszeitung. Das reicht ihr. Ich hab den Test gemacht. Von Matussek hatte sie – tut mir leid, Matthias – noch nie was gehört und Xavier Naidoo sagte ihr auch nichts. Den ESC hat sie zuletzt gesehen, als der noch „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ hieß. Soll denn all die schöne Empörung in der wirklich wirklichen Wirklichkeit völlig verpuffen? Schön wär’s.
Genießen Sie das erste Adventswochenende im Kreise Ihrer Lieben – natürlich erst, nachdem Sie diese Kolumne geteilt und geliked, gewittert und gegoogleplust haben.
Und dann lassen Sie einfach mal 24 Stunden die Finger vom Netz und entpören sich.
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