Das Gesicht meines Deutschlands

Deutschland ist eine unvollendete Nation, die zu Selbstverfehlung und Selbstverletzung neigt und damit Europa tragisch erneut belastet. Ein Gastbeitrag von Christian Edom


Auch das neue Deutschland bleibt das alte Deutschland: Jenes der unbarmherzigen Härte gegen sich selbst, das daraus eine moralische Vorrangstellung ableiten zu können meint; jenes Deutschland, das einst schon Adorno kritisierte, jenes Deutschland, welches auf Leistungsdrill und Perfektionismus setzt statt auf Selbstliebe und Akzeptanz eigener Grenzen; das Deutschland, welches sich Ost- wie West vor allem durch seine industrielle Leistungskraft und Disziplin zu beruhigen und seine Existenz zu rechtfertigen weiß (Exportweltmeister, olympische Erfolge, Fußballweltmeister), das Deutschland, welches zu Kaisers Zeiten die meisten Nobelpreise hatte, jenes Deutschland, dessen militärische Leistungen und Opferbereitschaft an Menschen und Material gefürchtet war. Mein Deutschland ist das Land mit einem Reifegrad, dass von der Illusion befreit ist, Irrtümer durch den Anschein moralischer Fehlerlosigkeit zu vermeiden.

Politisierung und Moralisierung vergiftet das soziale Klima

Es ist ein Deutschland, in dem die Parteien sich scheinbar in der Mitte drängen, tatsächlich aber harsch politisiert wird wie eh und je und dazu eine Lagermentalität gepflegt wird; ein Deutschland, in dem mittlerweile nahezu alle Politiker untereinander kollegial miteinander reden zu können meinen, aber kein einziger mehr zum Volkspolitiker alten Schlages taugt. Nicht, wie mitunter behauptet, die „Shitstorms“ in Social Media sind das Problem, sondern diejenigen, die das Beispiel dafür abgeben; dazu zählen aktuell auch die unerbittlichen Moralpredigten der Repräsentanten der beiden großen Kirchen, ganz so, als hätten weder Nietzsche, noch Arnold Gehlen und Niklas Luhmann über das Maß des Moralgebrauchs reflektiert. Aber es ist auch ein Deutschland, in dem die Schriften von Jürgen Habermas anscheinend nicht mehr gelesen werden und demzufolge nicht mehr beachtet werden, wie es ihrem Stellenwert entsprechen würde. Die Konsequenz: Blindheit für die von ihm beschriebenen Unterschiede zwischen strategischem Handeln, Täuschungshandeln und echtem kommunikativen Handeln.

Die Kontinuität unüberwundener deutscher Unarten

Fluch und Bann der kollektiven Unarten der deutschen Nation wirkt ungebrochen fort: erneut weckt Deutschland den Argwohn Europas, und zwar durch seinen Eigensinn. Im Glauben befreit und aufgeklärt sowie moralisch einwandfrei zu handeln, ist Deutschland unbemerkt in längst überwunden geglaubte Muster zurückgefallen. Mein Deutschland ist nicht jenes der „vaterländischen Gesinnung“ eines Fichte oder Hegel, sondern das Schleiermachers und der Frühromantik mit ihrer Kommunikationskultur. Es ist nicht einmal das Deutschland der Rigidität Kants. Es ist nicht das des Gehorsams, sondern jenes des Freiheitsstrebens Preußens, weder ein Land der erzwungenen Unterordnung noch der Anpassung und Konformität, sondern der Gedankenfreiheit und des Streitgesprächs  – und  genau darin beispielgebend für die Welt. Das Asylrecht dient der Realisierung jener politischen Freiheit, auf die das geteilte Deutschland als Nation so lange sehnlichst warten musste. Es taugt somit weder für Imagepflege noch für humanitäre Zwecke, sondern bekräftigt den Freiheitswillen und die Friedenssehnsucht.

Mein Deutschland ist nicht das, welches die Zeile „Deutschland über alles in der Welt“ wortwörtlich auffassen musste, sondern jenes der dritten Strophe, das von Einigkeit und Recht und Freiheit, das 1919, 1949 – und 1968 ideell ergänzt – neugegründet wurde und 1990 seine territoriale Vollendung fand.

Die Schatten der Vergangenheit

Mein Deutschland ist jenes der Verteidigung der Weimarer Reichserfassung durch Ernst Cassirer und der späten Entschlossenheit zur Machtkritik durch Martin Heidegger. Es ist nicht ein Deutschland der sakralisierten Parteienstaatslehre, sondern das der befreienden Kritik von Wilhelm Hennis. Mein Deutschland ist nicht jenes der Ruhrbarone, der IG Farben und Hugenbergs, sondern das von Walter Eucken und Dolf Sternberger. Mein Deutschland ist nicht eines radial chic, sondern der versöhnten Bürgerlichkeit und des Aufbruchs von 1989: „Wir sind das Volk“. Und mein Deutschland ist auch zweifelsfrei das Deutschland der Suhrkamp-Kultur.

Mein Deutschland ist nicht das von Bismarck, Kaiser Wilhelm II, Hindenburg und schließlich Hitlers. Darum darf Deutschland niemals wieder ein Machtstaat werden. Die Einigung Europas erfolgt weder mit „Blut und Eisen“ noch mit einem unverstellten Machtrealismus, sondern im Wege der Konsensfindung und des Interessenausgleichs.

Mein Deutschland ist das der Friedensfeier Hölderlins. Mein Deutschland ist nicht nur das der Re-Demokratisierung und der re-education, sondern jenes der Friedens- und Konfliktforschung. Mein Deutschland steht nicht nur für aufgeklärtes Eigeninteresse, sondern auch für einen geläuterten Friedenswillen. Mein Deutschland ist das der Totalitarismuskritik Hannah Arendts, einschließlich der Ablehnung jeglicher Pseudopolitisierung und des Genarrtwerdens wie es in den Ostblockstaaten der Fall war.

Deutschlands Zukunft in Europa

Mein Deutschland bleibt das der Europäer Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Konservativ sein heißt zu wissen, was für die Nation unumkehrbar erhaltenswert bleibt. Willy Brandts Formel „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ darf in keiner Situation Angst bereiten, genauso wenig wie Ludwig Erhards Preisung der Freiheit in seiner Antrittsrede als Bundeskanzler. An allem ist ohne Abstriche genauso festzuhalten, wie das Ziel der Wiedervereinigung in selbstbestimmter Freiheit niemals aufgegeben wurde. Mein Deutschland ist jenes Land, welches sich nicht getrieben von Seelenpein in moralischer Verzweiflung und neuem altem Weltschmerz zwanghaft in ein entgegengesetztes Schicksal als Extrem taumelt und geschwindelt wird, sondern – ganz mit Platon – ein besseres Lebensschicksal für sich und Europa als zuvor in der Geschichte wählt. Das alles zeigt, dass die schmerzhaften Wunden des 20. Jahrhunderts noch nicht ausgeheilt sind. Diesen Schmerz gilt es nicht länger zu verdrängen, weil durch die Folgen daraus und Verzweiflung über das Erbe alle Schaden nehmen und sich Unbeteiligte in Mithaftung gedrängt sehen. Jede kollektive Selbstverfehlung bedeutet auch eine tragische Selbstverletzung. Mein Deutschland sucht nicht länger sich selbst zu gewinnen durch gewaltsame Opfer der Selbstaufgabe oder Selbstverleugnung. Ich möchte nicht, dass ein besseres Deutschland auf Jahrzehnte ein Traum bleiben muss wie die Wiedervereinigung und dass ein geeintes Europa an Deutschland wiedereinmal verzweifeln muss.

Christian Edom

Der gebürtige Niedersachse Christian Edom lebt seit über 10 Jahren in Berlin. Nach Stationen im Bundestag in mehreren Jahren als studentischer Mitarbeiter begleitet der Christdemokrat seit 2010 die Berliner Republik mit seinem Blog "Das Politische anders denken. Frühling der Bürgerlichkeit?".

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