Nobelpreise: Die Papstwahl der säkularen Welt

Wozu brauchen wir Nobelpreise? Was lehren sie uns, und warum geraten wir alljährlich ins Schwärmen über Dinge, die wir nicht verstehen, über Bücher, die wir nicht lesen, und über Menschen, die so gut sind wie wir nie sein können?


Es gibt viele Preise. Selbst der Schreiber dieser Zeilen hat schon einen Preis gewonnen, es war der zweite Preis bei einem Lyrik-Wettbewerb im Schiller-Jahr. Jawohl. Und in wenigen Tagen wird z.B. der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen, den wird, man weiß es schon, Navid Kermani erhalten, und wenn Sie, liebe Leserin, jetzt auf den Link geklickt haben und sich dort ein bisschen umgesehen haben, dann werden Sie vielleicht mit Erstaunen festgestellt haben, dass diese lokale Kombination aus Friedens- und Literaturnobelpreis vor zwei Jahren an Swetlana Alexijewitsch ging.

Ja, an die Swetlana Alexijewitsch, die in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur bekam. Das wussten Sie natürlich, das hat Sie, weil Sie auf dem Laufenden bleiben in den wichtigen Dingen von Kultur und Politik, in den letzten Tagen auch beschäftigt. Sie haben sich vielleicht gefragt, wer diese Autorin ist, Sie werden vielleicht gesagt haben, dass Sie den Namen nie zuvor gehört haben. Sie werden sich, wie der Kollege Sören Heim, gefragt haben, ob das, was die Preisträgerin veröffentlicht hat, Literatur sei.

Sie haben natürlich auch schon vom Friedenspreis des deutschen Buchhandels gehört – klar. Aber wer merkt sich da schon die Preisträger! Was ist ein deutscher Buchhandelspreis im Vergleich zum Nobelpreis! Richtig: Nichts.

Wer kennt die Preisträgerin vom vorletzten Jahr?

Gut, wer vor zwei Jahren den Literaturnobelpreis bekam, wissen Sie vielleicht auch nicht mehr. Ich habe es für Sie gegoogelt: Es war Alice Munro. Ich hatte auf Herta Müller getippt, aber das war – es ist unfassbar – schon 2009.

Aber Sie werden mir zustimmen, verehrte Leserin, diese Woche jedes Jahr im Oktober, immer pünktlich zum Oktoberfest in Bayern, in der die Nobelpreise verliehen werden, die ist schon was ganz besonderes. Da spüren wir, worauf es ankommt, erst in der Wissenschaft, dann in der Literatur und in der Politik, und am Ende auch noch in der Ökonomie. Und die Leute, die den Preis erhalten, sind von diesem Tage an etwas ganz Besonderes: Man kann sie alles fragen, und sie dürfen zu allem ihre Meinung sagen. Gut, das darf ich auch, aber darüber berichten dann keine Zeitungen. Wenn die Nobelpreisträger mit wichtiger Mine ihre Bedenken über den Lauf der Welt kundtun, dann hört die ganze Welt hin, denn das sind quasi unsere ganz Weisen, die Bescheidwisser schlechthin.

In den ersten drei Tagen der Nobelpreiswoche versuchen wir gar nicht erst, uns die Namen zu merken, es sei denn, es ist einer dabei, der irgendwie deutsch klingt. Wehmütig denken wir dann an die Zeit zurück, als wenigstens noch die Physik-Preise fest in deutschsprachiger Hand waren. Das ist lange her, seitdem die Nazis einen großen Teil unserer intellektuellen Elite aus dem Land getrieben haben, sind wir in den Naturwissenschaften nur noch Mittelklasse. Aber wir staunen kurz über die Dinge, die diese geistigen Riesen da so erforschen, die unvorstellbaren Objekte der Physiker, die unverständlichen Prozesse der Chemiker und die hoffnungsfrohen Resultate der Mediziner – wobei uns nie klar wird, wie diese subtilen Entdeckungen der Forscher uns vor Diabetes, Lungenkrebs und Krankenhauskeimen bewahren werden.

Wir Menschheit

Aber irgendwie verbreiten diese Preisträger und vor allem die nachgeschalteten Fernsehmagazine die Gewissheit, dass es vorwärts, immer weiter vorwärts geht mit dem Fortschritt der Wissenschaften. Wir, und das sind dann wir alle, wir Menschen, wir neugierigen Forscher und wissbegierigen Zuschauer – wir Menschheit eben, wir kriegen immer mehr raus und erkennen immer besser, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wir sind faustischer als jeder Faust und vergessen gern, dass die Sätze, die wir da so gern zitieren, in einer Tragödie stehen.

Die Wissenschaft kommt mit Riesenschritten voran, und sie kriegt alles raus, was rauszukriegen ist – das sagen uns die Wissenschaftsjournalisten die uns von den Ergebnissen der Preisträger berichten.  Dabei reißen Sie die Augen weit auf, die Augenbrauen fast bis zum Haaransatz, damit wir ja wissen, dass wir jetzt staunen sollen und dann staunen wir auch, wie die Kinder, die ihre Eltern bestaunen und die sich sicher sind, dass die schon alles richten werden. Wir haben ja so Angst vor der Zukunft, vor dem Klimawandel und den Atomkraftwerken und den Giften, die sich in unseren Körpern ablagern und uns neue unbekannte Krankheiten bescheren. Da wollen wir wenigstens einmal im Jahr die Geschichte hören, dass da kluge Menschen wie besessen forschen um uns aus dem Elend zu erlösen. Dass die gleichen Leute mit ihren tollen Erfindungen das Elend mit in die Welt gesetzt haben, haben wir vergessen. Die kriegen das schon wieder hin.

Dann kommt, immer am Donnerstag, der Literaturnobelpreis. Sofern er ein wirklicher Literaturpreis ist, erinnert er uns daran, dass wir mal wieder ein gutes Buch lesen können. Also gehen wir am Wochenende in die Buchhandlung, das ist in dem Falle dem Online-Händler ganz klar vorzuziehen, denn da liegen die Bücher der Preisträgerin dann gleich vornean und damit wir uns nicht vertun, prangt auf jedem ein roter Aufkleber: Nobelpreis! So wissen wir jetzt, dass wir, falls wir das Buch lesen, Weltliteratur konsumieren, und damit können wir uns ein ganz kleines bisschen zur kulturellen Elite der Welt zählen. Jawohl. Und wenn wir es nicht lesen, können wir es wenigstens gut im Regal platzieren, denn die Werke sind zumeist recht anständig hergemacht, mit Hardcover und Leinenimitat, mit Schutzumschlag und Bändchen. Man darf nur nicht vergessen, die Schutzfolie zu entfernen, sonst glänzt der Buchrücken so unschön wie ein billiges Paperback.

In den meisten Fällen ist der Literaturpreis aber ein zweiter Friedenspreis. Das soll uns daran erinnern, wozu wir die Literaten überhaupt brauchen: Genau, Literatur ist nicht zur Erbauung und zum Genuss da, wenn so was passiert, dann ist es meistens Schund. Literatur muss uns zum verzweifelten Nachdenken über die Welt bringen, denn davon werden wir bessere Menschen und dann verbessert sich auch die Welt.

Der Nobelpreis für Literatur sagt uns: Literatur ist ganz wichtig für unsere Menschlichkeit, für unsere Moral – und diese Moral gilt universell, denn jede Nobelpreisträgerin, egal, worüber sie schreibt und woher sie kommt, kann uns helfen, moralischer zu werden.

Die guten Menschen, die wir nicht sind

So vorbereitet können wir dem Freitag entgegengehen, an dem wir nun noch mal ganz genau gesagt bekommen, was überhaupt das Wichtigste ist: Der Frieden, richtig! Über den Friedenspreis können wir entweder schimpfen, weil er an einen Politiker geht, oder wir sind begeistert, weil ihn die richtig guten Menschen bekommen, die Vorbilder, die, die so sind, wie wir eigentlich alle sein müssten, friedlich und aufopfernd, ständig geplagt von dem Elend der Welt und trotzdem nie verzagt, immer aktiv an der guten Sache arbeitend. Die Friedenspreisträger sind die legitimen Nachfahren Jesu.

Da wissen wir: So gute Menschen sind wir leider nicht. Aber wir sagen uns: solange es diese Menschen gibt, sind wir nicht verloren. Sie vertreten uns im Kampf um das Gute, solange die so gut sind, brauchen wir es nicht selbst zu sein.

Die Vergabe des Friedenspreises ist der Höhepunkt der Nobelwoche, die in ihrer Bedeutung, ich hoffe, dass ist klar geworden, ein bisschen Ähnlichkeit mit der Karwoche hat. Aber seit ein paar Jahrzehnten gibt es da noch diesen Nachzügler, den Ökonomiepreis, der ja eigentlich gar kein richtiger Nobelpreis ist. Wie die Wirtschaftswissenschaftler es geschafft haben, sich da einzuschleichen, bleibt genauso im Dunkeln wie die Frage, warum es keinen Meteorologie-Nobelpreis, keinen Soziologie-Nobelpreis und keinen Malerei-Nobelpreis gibt.

Vermutlich hat man in den 1960er Jahren gemerkt, dass die Naturwissenschaften, so hoch wir sie auch schätzen, die eigentlichen Probleme der Menschheit nicht nur nicht lösen können, sondern sie gar nicht berühren. Statt auf den Gedanken zu kommen, dass diese Probleme von gar keiner Wissenschaft gelöst werden können, hat man verzweifelt nach der Disziplin gesucht, die genau dazu in der Lage ist – und ist ausgerechnet auf die Ökonomie gekommen. Seit dem erklären uns die Wirtschaftsweisen, was wir alles falsch machen und wie wir es richtig machen könnten, damit es allen Menschen auf der Welt so richtig gut geht. Auch auf dieser Plattform hat sich ja bekanntlich schon einer dieser klugen Menschen geäußert. Dumm nur, dass jeder Ökonom was anderes sagt – da kann man sich nicht wirklich danach richten, oder man sucht sich den aus, der zu den eigenen Vorstellungen am besten passt. Einer liefert immer die passende wissenschaftliche Begründung für das eigene Weltbild – da kann man sicher sein.

Der Ökonomiepreis geht allerding meistens an Leute, die sich in die aktuelle Politik nicht einmischen. Das ist sehr klug von der Jury, denn so kann man den Mythos aufrecht erhalten, dass die Ökonomie an sich schon die richtigen Mittel zur Lösung aller gesellschaftlichen Probleme hätte – die Ökonomen dürfen sich nur nicht mit dem Dreck des politischen Alltagsgeschäfts beschmutzen.

Wozu brauchen wir die Nobelpreise? Um unseren Glauben nicht zu verlieren. Die Nobelpreisverleihung ist die Papstwahl der säkularen Welt. Mit großer Geste werden uns jährlich die guten großen Weisen präsentiert – und wir stehen mit leuchtenden Augen und glauben an sie.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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