Null Uhr fünf Domplatte
Henning Hirsch langweilt sich auf einer Silvesterparty und beschließt spontan, Mitternacht auf der Domplatte zu feiern
Mer kann och üvverdrieve
sagt der Kölner Volksmund und mir klingen dabei Sätze wie:
„Gefährlichste Stadt Deutschlands“
„Man kann in Köln abends nicht mehr auf die Straße gehen“
„Der Innenstadtbereich ist eine einzige No-Go-Area geworden“
„Politik und Verwaltung tun Nullkommanichts gegen die ständig steigende Kriminalität“
im Ohr.
Ist das noch die Stadt, in der ich in den 70er und 80er Jahren meine Kindheit und Jugend verbracht habe, überlege ich oft, wenn ich die entsprechenden Beiträge und Kommentare in der Boulevardpresse und in Facebook überfliege.
…
Die Party im Kölner Süden, auf der ich mich seit 20 Uhr befinde, hält nicht das, was ich mir von ihr versprochen hatte. Zu wenig Frauen und die drei, die mir hätten gefallen können, werden argwöhnisch von ihren Begleitern bewacht. Gegen elf entschließe ich mich deshalb, mein Glück woanders zu versuchen. Ich sage der Gastgeberin Adieu, die meine spontanen Abschiede kennt und bloß fragt, »kommst du später nochmal zurück?«. »Mal schau’n«, antworte ich, gehe zu meinem Auto und fahre über Universitätsstraße und Innere Kanal Richtung Norden bis zum Fernsehturm. Dort parke ich den Wagen, wende mich nach rechts, marschiere über Subbelrather und Venloer zum Friesenplatz. Ein paar frühe Betrunkene torkeln mir entgegen, einer erbricht sich quer über den Bürgersteig. Auf Höhe der Ringe wird das Treiben bunter, ne Menge Volk unterwegs, lange Schlangen vor den Diskotheken. Ich laufe weiter die Magnus- und Zeughausstraße entlang, erreiche auf Höhe Sankt Andreas die Sicherheitszone. Zwei junge Polizisten taxieren mich, lassen mich unkontrolliert durch. Ich entspreche offensichtlich nicht dem Gefährderprofil. Mit jedem weiteren Meter wird es nun anstrengender, mich vorwärts zu bewegen. Körper dicht an dicht wie beim Rosenmontagszug. Die Luft vibriert von Stimmen, der Lärm von zischenden Raketen und Musikfetzen vermischt sich zu einem zähen Klangbrei. Ein paar Sekunden lang wünsche ich mich auf die ruhige Party zurück, wo sich meine Bekannten jetzt vermutlich mit Bleigießen beschäftigen.
Als ich vor den Stufen, die zur Domplatte hinaufführen, angelange, zeigt meine Uhr Null Uhr fünf. Feuerwerk steigt in die Luft, Menschen umarmen und küssen sich, der Platz von einer Lichtshow in grelle Farben getaucht. Ich bin fünf Minuten zu spät gekommen, habe den Jahreswechsel auf der Straße spazierend irgendwo zwischen Stadtmuseum und McDonald‘s erlebt, ohne den mitternächtlichen Glockenschlag zu bemerken. Ich zwänge mich weiter bis zum Eingangsportal des Doms, von dort nach links, lehne mich mit dem Rücken an die Nordfassade, lasse meine Augen über die Szene schweifen. Bahnhofsvorplatz und die große Treppe: Gedränge, aber nicht proppenvoll, viele junge Leute, Geschlechterverteilung geschätzt 70% männlich zu 30 weiblich. Stimmung ausgelassen, angeheitert, betrunken, laut, ich vernehme ein paar Flüche, „fick dich du Hurensohn!“ … „selber Hurensohn“ … „willst du eine aufs Maul bekommen? … „verpiss dich, du Opfer!“, das übliche Imponiergehabe junger Männer an Silvester und Karneval. Überall Uniformierte, teils in Signalwesten gekleidet, die damit beschäftigt sind, größere Gruppen aufzulösen und Streithähne voneinander zu trennen.
»Hey Kumpel, willst’n Schluck?« Ein Typ mit Kapuzenjacke und schlechten Zähnen hält mir eine Flasche mit einem selbstfabrizierten Cola-Captain-Morgan-Gemisch vor die Lippen. »Nein danke. Hab’s mir abgewöhnt«, antworte ich. »Was bist du denn für ein Penner?«, lallt er und torkelt weiter. Während unserer kurzen Unterhaltung sehe ich, wie die Polizei eine circa dreißig Kopf große Gruppe nordafrikanisch anmutender junger Männer beim Verlassen des Bahnhofes anhält und sich von jedem einzelnen die Papiere zeigen lässt. Eine Handvoll von ihnen wird von den Beamten zurück zu den Bahnsteigen eskortiert, der Rest darf passieren. Warum erscheinen sie immer in Pulks, überlege ich. Kein Türsteher wird so viele Kerle, egal welcher Nationalität sie angehören, in seinen Laden reinlassen. Der Anteil Nafris, wie sie im internen Behördenjargon genannt werden, scheint mir in dieser Neujahrsnacht bei weitem nicht so hoch zu liegen wie in den beiden vorangegangenen Jahren. Ob sie sich eine alternative Feiermeile ausgesucht haben oder lieber zu Hause in ihren Unterkünften geblieben sind?
Das Feuerwerk, das links und rechts des Rheins abgebrannt wurde, ebbt ab. Die Schaulustigen strömen von der Uferpromenade und den Brücken Richtung Innenstadt, um dort weiterzufeiern oder mit der U-Bahn zurück in ihre Vororte zu fahren. An einigen Handgelenken entdecke ich das Armband mit der Aufschrift „Respekt!“ Neben mir gerät der Kapuzenmann mit einem Jogginganzug-Russen in Streit über die nahezu geleerte Rum-Cola-Pulle. Bevor sie sich gegenseitig an der Gurgel packen können, gehen zwei hünenhafte Bullen dazwischen, zerren die beiden auseinander. Sie sind heute echt überall und superaufmerksam, denke ich. Schaue auf die Uhr: eins. Die Party vor dem Dom ist gelaufen, das Aggressionslevel ist geringer als beim Sommerfest des Gymnasiums am Hansaring; wird Zeit, dass ich die Platte putze und mir auf dem Rückweg zum Auto überlege, ob ich nochmal bei der Gastgeberin im Kölner Süden vorbeischaue oder eins der Striplokale im Friesenviertel besuche, wo heute sicher ganz ordentlich die Post abgeht, als plötzlich ein junger Mann an meine rechte Schulter tippt und fragt: »Rauchen Sie?« Ich schaue ihn an und erkenne in ihm einen der Nordafrikaner, die vor einigen Minuten am Fuß der Treppe von der Polizei kontrolliert worden waren, der mir freundlich lächelnd eine Packung Marlboro entgegenstreckt.
…
An dieser Stelle stoppt der Autor übermüdet aufgrund zu wenig Schlafs am Neujahrsmorgen. In der Fortsetzung erzähle ich die Geschichte von Hassan dem Marokkaner, der im Sommer 2016 mit seinem Bruder und zwei Cousins nach Deutschland aufgebrochen war, um hier Arbeit und – falls es gut läuft – auch Ehefrauen zu finden.
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