Fairytale of Reeperbahn – eine fast festliche Kolumne
Weihnachtszeit, Zeit der Besinnlichkeit. In seiner aktuellen Hörmal Kolumne macht Ulf Kubanke sich auf den Weg, den Spirit of Christmas zu erhaschen. Ob das klappt? Daneben gibt es noch das ultimative Weihnachtslied.

Die Feiertage stehen breitbeinig in der Tür.
Bald noch der Jahreswechsel.
Das alte Jahr, es schwindet.
Gut so.
Verpiss Dich!
Hast Du mich bzw. uns beide – Zizino und mich – doch mehr als nur einmal fast endgültig abgeräumt.
Warum also nicht nach alledem zum Ausklang etwas für die Leser Besinnliches planen, machen und hinterher für Euch zu Papier bringen?
OK, nun bin ich persönlich kein übertriebener Anhänger der christlich verknöcherten Heilslehre, des kirchlichen Getüdels etc.
Eher so synkretistisch unterwegs mit „The Buddha says „Don’t be a Dick.““ Rest ergibt sich schon.
Und ein Romantiker. An der Stelle herrscht meinerseits Kompatibilität.
Schaut euch das Foto an.
– Ich liebe diese Minikirche. Warum? Erzähl‘ ich, wenn wir da sind.
Sie steht inmitten allen zügellosen Trubels.
Also los, auf die Socken machen für ein gutes, feierlich beruhigendes Pic.
Kann so schwierig nicht sein.
Ich laufe also von Seite Nobistor, Reeperbahn, biege in die Große Freiheit.
In Rosie’s Bar feierten schon die Beatles
Über den ebenfalls geliebten Beatles Platz.
Um die Ecke: Rosie’s Bar.
Rosie war bzw ist Kumpel der Beatles, ehemals Freundin von Tony Sheridan. Sie führt den Laden noch immer.
Um mich herum jetzt: Große Freiheit.
Begebe mich in Richtung der kleinen Kirche. Viel los. Behende springt eine Ostasiatin aus nem seitlichen Torbogen. Fällt mich an, greift den Kragen meiner Jacke.
„Hi, Sexy, Sexy ah, come ah with me, ah!“
„Get the fuck off.“
Kann sie nicht augenblicklich abschütteln, weil ich spontan nicht brutal genug agiere. Zu zivilisiert. Doch es bleibt keine Zeit für nerdy Gezögere.
„Oh you so nice, so nice, ah come ah with me, ah.“
Sie tastet in perfekt fließender Bewegung des Profis mit einer Hand nach der Innentasche, mit der anderen greift sie beherzt nach dem Smartphone in meiner Jeans.
Schnauze voll.
So richtig.
Ich schleudere sie von mir. Sie fällt schmerzhaft, schreit auf, schüttelt sich wie ein nasser Hund, rennt fort.
Tja.
Adventstimmung auf der Großen Freiheit
Feierliche Adventstage.
Eigentlich alle Tage, aber in solchen Phasen ist alles grell potenziert.
Sogar für die Verhältnisse dieses Ortes.
Besoffene.
Nutten.
Party Gröler.
Nieselregen arschkalt.
Gerotze und Gewichse
Reeperbahn pur.
Schlägerei 20 m Nordost, besser links halten.
Typ mit umgedrehter Mütze grabscht derb meine rechte Schulter.
Klammergriff.
Er kann nicht mehr stehen, reißt mich beinahe mit zu Boden.
Fällt hart.
Gafft mich überrascht an.
„Ey, voll Zombieeeeh, Diggah.“
„Selber.“
Komme nicht recht voran.
Massen schieben sich inzwischen wie beim Festival.
Betrunkenes Touri Paar vor mir.
„Hörste ma uff, die Bitches anzuglotzen?“
(Er total voll, nicht minder ehrlich und entwaffnend entrüstet) „Ja, wen denn sonst?“
Weiter
Nordwest kotzen drei simultan.
„Alter, echt….“
Weiter kommt mein Gedanke nicht.
Transenhure: „$üßer, wie wärs mit uns zwei Hübschen?“
Typ hinter mir stolpert
Sein Handballen, sein Regenschirm, mein Rücken.
Ich gerate aus dem Tritt, stolpere fast, beschleunige.
Transe rechtschaffen empört: „Sachma nee, geehssu jetzt ächt schnella wech von miä oder was?“
„Werteste. Ich ignoriere dich nicht. Der Mob, der Atem, vastehst?“
„D u brauchst Atem?“
„Superwitzig.“
„Mach ich Dich nicht ein bisschen an?“
„Bin glücklich verheiratet.“
Hinterrücks anrollende Partyfluten dirigieren uns beide gen Straßenflucht.
„Den Witz höre ich täglich, Darling “
„Nicht von mir.“
Links reißt ein Typ seine Soundbox auf.
Grölt.
Arme gereckt, Faust gereckt. T-Shirt voller Regen und Bier.
„Ey, Döpdäpdöp-dada-Döpdäpdöp,….eyahh!“
Gulli mit Schmand.
Bäm.
Er fällt so richtig übel in eine sumpfpissige Randsteinregenpfütze.
Box bricht.
Er auch.
Guter Liter Galle im Rinnstein.
Wir lachen beide.
Ich wende mich wieder der Liebesdienstleisterin zu.
„Hör mal, eigentlich will ich nur ein Foto von der alten Kirche. Betrachte mich doch als Nachbar oder Kollege oder so. Deine Zeit will ich dir ja nun nicht klauen.“
„Welche Kirche?“
„Das fragst du mich? D u stehst doch hier tagtäglich rum.“
„Bin nur ne dumme Nutte. Und neu hier. Mach dein Foto, Süßer. Fistbump?“
„Fistbump.“
Plötzlich Stille: katholischer Underdog Punkrock in dunkler Gelassenheit
Es wird leerer.
Auf einmal fast niemand mehr.
Von einem Meter zum anderen.
Tot.
Nein!
Eher…stille Balance.
Ja.
Hier liegt St Josephs Kirche quick lebendig im toten Winkel.
Fast auf den Tag genau 300 Jahre alt.
Sie erstrahlt in dunkler Gelassenheit.
Monolith der Straßenflucht.
Diesen Knuddel als Kontrast zu bezeichnen, hieße sträfliches Unterschätzen.
Saint Joe ist für Hamburger Verhältnisse richtig Underdog Punkrock, weeeil ausgerechnet bei uns
– genießt die Pointe –
total k a t h o l i s c h.
Tja.
Hat alles überlebt, Napoleon, Hitler, Beatles, Albers, Kabel, Luden, Huren, Politik & ein halbes Dutzend deutsche Reiche & Republiken.
Noch immer
verschlafen.
Vorhanden.
Liebenswert.
Und nun wünschen die Pogues ein besinnliches Weihnachtsfest
An diesem Punkt stellt sich selbstverständlich die Frage nach der passend vorweihnachtlichen Musik.
OK, nach der Kieztour geht ja nur:
The Pogues – „Fairytale of New York“
Was sonst, eh?
Zwar stimmt das verbreitete Vorurteil nicht, wonach die Pogues vor allem eine verschrammelt-alkoholisierte Pubcombo wären. Trotz aller toxischen Eskapaden Shane MacGowans handelt es sich um höchst versierte Multiinstrumentalisten mit ausgeprägtem Händchen für subtile Details.
Dem „Fairytale“ etwa wollen sie 1988 unbedingt das märchentypische „Es war einmal“ impfen. Als gesungene Zeile kam ihnen die Einleitung jedoch zu abgedroschen vor. So zitierten sie kurzerhand ein paar Noten aus Morricones Score zu „Es war einmal In Amerika“. Raffinierte Bande.
Der Song selbst steht seit fast 40 Jahren für Liebe und Romantik, die sich ihren Pfad durch den derben Schlagabtausch eines irischen Emigrantenpaares von der ganz falschen Seite der Stadt bahnen muss.
Vielen gilt es als das ultimativ beste Weihnachtslied aller Zeiten. Das Subversivste ist es allemal. Wer muss nicht grinsen, wenn deutsche Kirchen- und Kinderchöre in stoischer Unwissenheit zur Adventszeit …
„Du Drecksack, du Made, du billige, lausige Schwuchtel“
… des weiblichen Parts intonieren?
Letzteren überhaupt zu finden, erweist sich dabei als Herausforderung. Schon vor der Veröffentlichung gingen Finer und MacGowan jahrelang schwanger mit dem Track, ohne den rechten Dreh zu finden. Die musikalische Pointierung gelingt erst durch die tatkräftige Mithilfe des erfahrenen Produzenten Steve Lillywhite. Man plante die weibliche Rolle ursprümglich für Cat O Riordan, die bereits als Sängerin der Ballade „A Man You Don’t Meet Every Day“ nicht wenige Fans beeindruckte. Doch diese verließ die Band vor Fertigstellung des dritten Albums, um Elvis Costello zu heiraten und mit diesem zu arbeiten. Tja.
Nun war guter Rat ebenso teuer wie guter Whiskey. Wer könnte den Job übernehmen? Man ging Freundinnen der Band durch. Chrissie Hynde von den Pretenders? Passend, war aber verhindert. Suzie Quatro? Stilistisch nicht kompatibel. Sinead O’Connor? War noch nicht wirklich auf der muskalischen Bildfläche aufgetaucht.
Lillywhite schlug seine Frau, Kirsty MacColl vor. Die Pogues reagierten zunächst reserviert. MacColl war eine enge, höchst beliebte Freundin. Ihre Karriere hingegen nahm man nicht ganz so ernst, da ihre wenigen Shows deutlich unter extrem ausgeprägtem Lampenfieber litten. In Eigenregie legte sie am Wochenende einfach im Studio los, sang den Part allein ein und mixte ihn mit dem bisherigen Rohentwurf der Männer. Das Ergebnis klingt – wie wir alle wissen – berückend.
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