Wo ist eigentlich der Nachtkönig abgeblieben?
Henning Hirsch lässt sich von seinem Sohn überzeugen, endlich ‚Game of Thrones‘ anzuschauen. Obwohl durchgängig gute Unterhaltung, hadert er am Ende mit dem abrupten Tod einer wichtigen Figur und sagt: Chance auf mehr Tiefe der Handlung leider vertan. Eine Neues-vom-Netflixjunkie-Kolumne.

„Hast du schon ‚Game of Thrones‘ gesehen, Papa?“, will Sohn Nr. 1 vor einigen Wochen wissen.
„Ist das nicht so’n Famtasy-Kram mit Drachen?“
„Ja.“
„Drachen und Einhörner sind eher nicht mein Ding.“
„Mein Kumpel Lukas sagt, das ist ne echt krasse Serie.“
„Der Lukas sagt das?“
„Ja, und der Lukas hat echt Ahnung von so was. Vom dem kam vor 3 Jahren der Tipp mit ‚Snowfall‘ und ‚House of Cards‘. Die Serien fandst du dann auch super.“
„Stimmt … ich werde mir die ersten 2 Folgen von ‚Game of Thrones‘ anschauen und im Anschluss entscheiden, ob sich 8 Staffeln lohnen.“
„Tu das, Papa. Ich beginne auch heute Abend damit.“
Die Leere hinter dem Eis
Um es vorneweg zu sagen: Game of Thrones ist eine große Erzählung. Etwas, das über das übliche Fantasy-Schwertgerassel weit hinausgeht. Ein (fiktives) Mittelalter-Epos in 73 Episoden – angelehnt an die Romanreihe ‚A song of ice and fire‘ des US-amerikanischen Schriftstellers George R. R. Martin, aufgeteilt in 8 Staffeln, die zwischen 2011 und 2019 vom Kabelsender HBO ausgestrahlt wurden –, in der selbst Menschen, die sonst Thomas Bernhard & Peter Handke lesen und beim Wort ‚Popkultur‘ die Augen verdrehen, plötzlich mitreden wollen. Eine Serie, die angeblich die naturalistische Härte des realen Lebens, politische Grauzonen, den moralischen Dreck und all so hochkomplexe Sachen verhandelt – und gleichzeitig unterhaltsam rüberkommt, wenn man sie mit Chips & Bier/Coke Zero auf dem Sofa bingt.
Ja ja, ich weiß, dass ich mit meiner Rezi spät dran bin. Aber besser spät dran als komplett versäumt.
Und dann ist da noch der Nachtkönig
Der Nachtkönig manifestiert das, was sich in einer Heldensaga als ‚Das ultimative symbolische Zentrum“ erahnen lässt. Der Nachtkönig ist die drohende Kälte, der Mythos, das transzendente Andere, das Vage „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Jon Snow, als du dir in deinen schlimmsten Albträumen vorstellen kannst“.
Kurz: Er stellt das wirklich Große dar, das Game of Thrones zu bieten hat.
Und die Serie tut, was diese Serie irgendwann mit allem tut, was größer war als ein mittelalterliches Bruder-und-Schwester-Drama: Sie rei0t es kaputt, schmeißt es hin, stampft kurz drauf, zieht weiter.
Serie, die ihre beste Idee nicht versteht
Begeben wir uns an den Anfang, also dort, wo Game of Thrones noch weiß, dass Atmosphäre kein Luxus ist, sondern der Grund, warum man Geschichten erzählt. Der Prolog der ersten Folge ist vielleicht der stärkste Beginn einer High-Fantasy-Reihe seit Jahrzehnten. Nicht, weil er inhaltlich so komplex wäre. Sondern weil er etwas macht, was die Drehbuchautoren danach zunehmend verlernen, bis es in der Serie dann endgültig aufgegeben wird: Er setzt Prioritäten.
Die Weißen Wanderer, der Frost, das namenlose Grauen.
Sie sind das erste Bild der Geschichte.
Eindeutig.
Unmissverständlich.
Und wenn eine Handlung so beginnt, dann sagt sie: „Das hier ist der Kern. Alles andere ist Variation.“
Doch die Serie entwickelt sehr früh eine Leidenschaft fürs Variieren – und bald auch fürs Variieren des Variierens. Und weil jedes neue Figurenpaar, das man irgendwo in Westeros platziert, eine halbe Staffel an „Wohin-gehen-sie-als-Nächstes-und-wen-treffen-sie-unterwegs“-Plotlines nach sich zieht, wird die eigentlich zentrale Bedrohung in die Ecke geschoben wie ein Spielzeug, das man zwar teuer gekauft hat, aber zu sperrig findet, um es regelmäßig in die Hand zu nehmen.
Der Nachtkönig ist in den Staffeln 3–6 das, was im Theater „das drohende Bühnenbild“ heißt. Es steht da, es wirft Schatten, es kündigt an. Und man erwartet, dass etwas damit passiert. Man erwartet, dass die Bühne sich öffnet und etwas Größeres dahinter sichtbar wird.
Aber Game of Thrones folgt einem anderen Prinzip, das aus der Serialisierung stammt: Alles darf passieren, solange es nicht jetzt sofort passiert. Und wenn dann der Moment kommt, an dem es passieren muss, fällt der Produktion plötzlich ein: „Oh. Scheiße. Wir brauchen ja ein Ende.“
Vom Mythos zum Setpiece
Hartheim war der Moment, an dem ich dachte: Okay. Jetzt. Jetzt wird der Nachtkönig endlich in die große Erzählung integriert. Sein stummes, triumphierendes Armheben, das kalte Reanimieren der Gefallenen – das ist der Stoff, aus dem Mythen gemacht werden. Mythen, die größer sind als die Figuren. Mythen, die nicht nur atmosphärisch faszinieren, sondern vor allem erzählerisch überzeugen.
Doch die Serie behandelt diesen (Nicht-) Wendepunkt wie einen CGI-Effekt.
Ein schöner.
Ein teurer.
Aber eben ein Effekt.
Die Serie versteht den Nachtkönig nicht als Figur, sondern als Stimmungserzeuger. Und Stimmung kann man zwar für einen Trailer hervorragend nutzen. Aber für eine Erzählung?
Das Ende des Nachtkönigs und der Tod jeglicher Relevanz
Wenn man es ganz nüchtern ausdrückt, dann war die Tötung des Nachtkönigs in „The Long Night“ die größte dramaturgische Arbeitsverweigerung der jüngeren Fernsehgeschichte. Nicht, weil er stirbt – Bösewichte sterben. Sondern weil alles, was vorher über ihn erzählt wurde, nun bedeutungslos wird.
Er wollte nicht herrschen.
Er wollte keine Macht.
Er wollte keine Ordnung umstürzen.
Er wollte keine neue Welt schaffen.
Er wollte… ja, was eigentlich?
Bran töten?
Die Menschheit auslöschen?
Oder einfach nur einmal bedeutungsvoll irgendwo hinmarschieren?
Die Serie weiß es nicht. Weil sie sich nie die Mühe macht, es herauszufinden.
Und so endet der Nachtkönig wie ein Non-Player Charakter in einem mittelmäßigen Rollenspiel, bei dem der Entwickler das Budget für weitere Sequenzen gestrichen hat: Man prügelt munter auf ihn ein, und irgendwann droppt man die Figur.
Dummerweise droppte in der entscheidenden Szene nichts richtig.
Nicht einmal Erkenntnis.
Nicht 1 Folge, die sich danach mit den Konsequenzen des abrupten Abgangs des eigentlichen Antagonisten beschäftigt.
Alles verpufft.
Als wäre es nie gewesen.
Das eigentliche Drama: Die Serie braucht ihn, aber sie weiß es nicht
Vielleicht das Bitterste an alledem: Der Nachtkönig ist nicht nur eine interessante Figur.
Er war das einzige strukturelle Korrektiv, das die Serie hatte.
Westeros ist eine Welt voller aristokratischem Müll, voller Intrigen, die nur deshalb funktionieren, weil alle an dieser Stadt kleben wie Fliegen auf einem Haufen Pferdeäpfel. Ein Reich, das realistisch betrachtet längst kollabiert wäre. Aber der Nachtkönig gab dem Ganzen eine Richtung. Eine Notwendigkeit. Eine übergeordnete Bedeutung.
Er war der einzige Grund, warum diese Erzählung hätte mehr sein können als eine hochbudgetierte Darstellung von mittelalterlichem Sex & Crime gewürzt mit Drachen und ein paar (Licht-) Hexen.
Und die Serie entledigt sich seiner, weil er offenbar im Weg stand.
Im Weg wofür:
Für den Machtkampf zwischen Daenerys und Jon?
Für die Frage, ob Tyrion noch einmal eine schlechte Entscheidung treffen darf?
Für die Diskussion: „But what about my claim?“
Die Lange Nacht war nicht DIE Schlacht, sondern schlichtweg ein Fehler
Es gibt viele schlechte Serienfinals.
Es gibt viele verschenkte Figuren.
Aber der Umgang mit dem Nachtkönig ist mehr als das.
Er ist die demonstrierte Unfähigkeit, eine Erzählung zu Ende zu denken.
Denn der Nachtkönig war keine Figur, der man sich rasch enlledigen konnte.
Er war der Grund, warum all das in Gang gesetzt wurde.
Er war – strukturell betrachtet – die Notwendigkeit überhaupt, diesen monströsen, mäandernden, tonal schwankenden Riesenklumpen namens „Game of Thrones“ zusammenzuhalten.
Und als man ihn tötete, starb nicht nur der Nachtkönig.
Es starb die Relevanz von allem, was davor passiert ist.
Der gesamte Norden-Plot?
Atmosphärisches Vorspiel ohne Auflösung.
Brans Entwicklung zum 3-äugigen Raben?
Letzten Endes belanglos.
Jon Snow?
Eine Fußnote.
Drachenglas?
Drehbuchprothesen.
Die Mauer?
Ein CGI-Objekt, das hauptsächlich dazu da ist, in Staffel 7 spektakulär zu zerbersten.
Die Serie hat keinerlei Bedenken, (ständig) wichtige Figuren sterben zu lassen.
Keine Angst, Tabus zu brechen.
Keine Hemmungen, exzessive Gewalt plakativ in Szene zu setzen.
Mit dem abrupten Abgang des Nachtkönigs demonstriert sie jedoch unerklärlicherweise Scheu, größer sein zu wollen als eine bloße Fantasy-Seifenoper.
Warum dieser Verrat so schwer wiegt
Die Serie gab anfangs das Versprechen, mehr zu sein als Intrigantenstadl & Bettgeschichte von Adligen. Eine Story, die etwas über Menschheit, Überleben, Sinn und Unsinn politischer Ordnungen hätte erzählen können. Und am Ende mutiert sie zu einem visuell aufwendigen Wettereffekt. Ein Schneesturm, der zufällig ein Gesicht hat.
Der Nachtkönig war nicht bloß eine Figur. Er war die Chance, die Serie in die Sphäre echter Mythologie zu heben. Und die Showrunner sagten: „Mythologie? Och nee. Wir machen stattdessen lieber: Daenerys sieht traurig aus. Schnitt. Tyrion runzelt die Stirn. Schnitt. Arya sagt ’not today‘ und springt‘. Fertig.“
Das endgültige Urteil
Dass der Nachtkönig stirbt, ist nicht das Problem, sondern dass er nichts bedeutet, darin liegt der fatale Irrtum des Drehbuchs. Dass nichts an ihm und seinem Ableben Konsequenzen hat. Dass alles, was die Serie über ihn erzählt, letztlich in sich zusammenfällt wie ein Schneemann im April.
Game of Thrones hat den Nachtkönig nicht getötet.
Es hat die Idee seines Charakters geschreddert.
Und damit den eigenen Mythos gleich mit.
Die Lange Nacht war am Ende nicht das epische Schlachtfeld. Sie war der Moment, in dem die Serie ihren eigenen erzählerischen Bankrott erklärte:
Alles Eis – keine Substanz.
Alles Aufbau – kein Schluss.
Alles Mythos – aber ohne Mythos.
Die größte Ironie dabei: Nichts offenbart die Fehlkonstruktion so sehr wie dieser eine Moment, in dem der Nachtkönig in 1000 Splitter zerbirst. Denn in diesem Augenblick zerfällt die ganze Serie. Und sie merkt es nicht einmal.
Rubrik: Da wäre durchaus mehr drin gewesen.
+++
Am Ende eine dreigeteilte Bewertung:
(1) 9 Punkte (Staffel 1-6)
(2) 7.5 Punkte (Staffel 7)
(3) 5 Punkte (Finale)
+++
Lesen Sie auch von Sören Heim: Was Game of Thrones richtig macht (und was nicht)
+++
Epilog:
„Ich hab‘ nach der ersten Folge ausgeschaltet. War doch zu viel Fantasy-Prinzessinnen-Kram; wie du befürchtet hattest. Echt langweilig“, erzählt mir ein paar Wochen später Sohn Nr. 1, „du hast es doch bestimmt genauso gemacht, Papa?“.
„Ups!“
Zur Person
Newsletter abonnieren
Sie wollen keine Kolumne mehr verpassen? Dann melden Sie sich zu unserem wöchentlichen Newsletter an und erhalten Sie jeden Freitag einen Überblick über die Kolumnen der Woche.
Schreibe einen Kommentar