Radfahrer

Täglich beobachtet Julia Grinberg von ihrem Auto aus Radfahrer. Was sie da sieht, hat sie aufgeschrieben.

Radfahrer

Egal von wem der Witz „Die Juden sind an allem Schuld, meinte einer. Und die Radfahrer… sagte ich. Wieso denn die Radfahrer? antwortete er verdutzt. Wieso die Juden? fragte ich zurück. stammt, von Remark, Tucholsky oder von einem Unbekannten hellen Kopf, heute widme ich mich den Radfahrern.

Da ich außerhalb der öffentlichverkehrten Infrastruktur wohne, bin ich auf mein Auto angewiesen. Ich fahre fast täglich durch Ortschaften, auf den Landstraßen, manchmal Autobahnen. Oft fahre ich Radfahrern hinterher.

Ich mag es, hinter einem Sportler zu fahren. Zum ersten, motiviert es mich ungemein. Ich sage mir jedes Mal, wirklich jedes, „So! heute Abend treibe ich Sport!. Zum zweiten, manchmal ist es, unter uns gesagt, ein schöner Anblick. Zum dritten, wenn die Mütter mit ihren Kleinen unterwegs sind, erinnere ich mich an die Zeit, wo meine Kinder auch klein waren und schwelge in Nostalgie. Im Winter, bei Dunkelheit habe ich Mitleid mit Fahrradfahrern und für ihre ausreichende Beleuchtung wünsche ich ihnen alle Güter der Welt.

Ich mache um die Fahrradfahrer einen großen Bogen, weil ich Vorsicht walte und Einfühlungsvermögen besitze. Weil ich und mein Auto ein schweres Geschoss sind im Vergleich zu einem Radfahrer. Was sagt uns auch das  Statistische Bundesamt?

Im Jahr 2024 starben 1165 Autofahrer, 402 FußgängerInnen und 441 Radfahrer im Straßenverkehr. Obwohl die Gesamtzahl der Verkehrstoten gesunken ist, ist die Zahl der getöteten Radfahrer im Zehnjahresvergleich um elf Prozent gestiegen. Besonders betroffen sind ältere Menschen und Pedelec-Fahrer, wobei fast die Hälfte der tödlich verunglückten Radfahrer im Jahr 2024 ein E-Bike nutzte und unter den E-Bike-Fahrern diese Altersgruppe sogar fast 69 % ausmachte. 70,7 Prozent der Fahrradunfälle mit Personenschaden waren Kollisionen mit Autos, wobei die Autofahrer in 75,3 Prozent der Fälle die Hauptschuld trugen.

Eigentlich ist die Sache offensichtlich und Diskussionen dazu überflüssig. Dennoch entbrennen immer wieder virtuelle Schlachten darüber. Warum? Wahrscheinlich, weil es Auto- aber auch Radfahrer gibt, die ihren Geltungsdrang auf der Straße ausleben. Neulich missachtete eine Radfahrergruppe den vorhandenen Fahrradweg, fuhr direkt auf der engen Landstraße. Es war Freitagnachmittag, es entstand eine PKW-Schlange. Die Ungeduldigsten hupten, diejenigen, die von hinten die Ursache nicht sehen konnten, versuchten auszuscheren, sahen das Ausmaß der Behinderung und kehrten in die Schlange zurück.

Das glorreiche Dutzend fuhr gemütlich weiter. Ich bog an der Ampel ab und weiß nicht, ob es irgendwann doch auf den Fahrradweg wechselte. Ich habe so einiges auf der Straße gesehen: Kuriose, ärgerliche, gefährliche, traurige, aber auch lustige und erfreuliche Dinge.

So habe ich beispielsweise einen Radfahrer gesehen, der schimpfend auf das Dach eines Kleinwagens klopfte. Darin saß ein junges Mädchen, das bitterlich weinte.

Ich habe einen Ferrari-Fahrer gesehen, der an drei Rennradfahrern viel zu nah und viel zu laut vorbeibretterte – mit viel Gestank.

Ich habe einen betrunkenen Radfahrer in der Abenddämmerung gesehen. Er zeichnete Slalomlinien auf der von Weinbergen umgebenen Landstraße. Ich hoffe, er kam heil nach Hause.

Ich habe einen Busfahrer gesehen, der einen Radfahrer so bedrängte, dass dieser im Graben absteigen musste. Der Bus fuhr weiter und der Radfahrer schüttelte den Kopf.

Ich habe genug aggressive und rücksichtslose Fahrer erlebt und sehe sie immer noch regelmäßig. Ich bin selbst kein Engel: Manchmal fluche ich im Auto wie ein Rohrspatz – zum Glück hört mich keiner.

Wäre es nicht ein annehmbarer Vorschlag, den Druck ins Schimpfen zu kanalisieren und sich im Verkehr trotzdem an die Regeln und den guten Willen zu halten?

Was uns allen fehlt – und das fällt mir seit einigen Jahren immer öfter auf – ist Gelassenheit. Da ich viel Zeit im Verkehr verbringe, kann ich mit Sicherheit sagen, dass der Umgang (Umfahr!) der Verkehrsteilnehmer miteinander wesentlich rauer geworden ist. Gründe dafür gibt es reichlich, das liegt auf der Hand. Aber ist es nicht gerade deswegen besser, milder zueinander zu sein?

Als ich heute nach Hause fuhr, sah ich, wie ein Mann und eine Frau mittleren Alters von ihren Pedelecs stiegen, um einen überlangen Lkw, der die falsche Ausfahrt aus dem Kreisverkehr genommen hatte und nun versuchte, rückwärts wieder hineinzukommen, zu lotsen. Wir Feierabendnomaden rollten einige Meter zurück, eins nach dem anderen, und warteten geduldig. Das Pärchen dirigierte aber souverän das komplizierte Manöver. Als der Lkw-Fahrer es in den Kreisel und zur richtigen Ausfahrt geschafft hatte, blinkte und hupte er freudig, winkte durchs geöffnete Fenster und lachte wie ein Honigkuchenpferd – nicht nur er.

Ach Mensch! Tue mir einen Gefallen: Sei eine Spur achtsamer.

Lesen Sie auch die letzte Kolumne von Julia Grinberg über unser Verhältnis zu unseren Tieren.

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