So nicht, Herr Streeck!
Über die Verfassungswidrigkeit der Äußerungen von Hendrik Streeck zur Einschränkung der medizinischen Versorgung Hochbetagter. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz

Die jüngsten Äußerungen des „C“DU-Gesundheitspolitikers und Bundesdrogenbeauftragten Hendrik Streeck, wonach bei Hochbetagten der Einsatz besonders teurer Medikamente hinterfragt werden solle, haben eine breite gesellschaftliche und politische Diskussion ausgelöst. Soll man alte Kranke nicht mehr behandeln, wenn die Medikamente teuer sind? Weil die sowieso bald den Löffel abgeben? Erinnert mich an Boris Palmer während der Coronaphase , der sagte:
Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären
Streeck sprach in einer Talksendung von der Notwendigkeit, „klarere und verbindliche Leitlinien“ zu schaffen, damit „bestimmte Medikamente auch nicht immer ausprobiert werden sollten“, insbesondere bei sehr alten Menschen. Er stellte die Frage, ob es sinnvoll sei, „bei einer 100-Jährigen“ noch teure Medikamente einzusetzen, wenn der Nutzen nur gering sei.
Diese Aussagen werfen neben einer moralischen auch erhebliche verfassungsrechtliche Fragen auf – insbesondere im Hinblick auf die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG).
Verfassungsrechtlicher Rahmen
Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)
Art. 1 Abs. 1 GG garantiert jedem Menschen die unantastbare Würde. Der Staat darf Menschen niemals zum bloßen Objekt seiner Entscheidungen machen. Diese Schutzpflicht umfasst insbesondere, dass Leben und Gesundheit jedes Einzelnen unabhängig von Alter, Herkunft, Krankheit oder Leistungsfähigkeit als gleichwertig anzusehen sind. Der Wert des Lebens ist nicht relativierbar.
Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG)
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt das Leben und die Gesundheit jedes Menschen. Dieser Schutz richtet sich nicht nur gegen staatliche Eingriffe, sondern begründet auch eine staatliche Schutzpflicht: Der Staat muss Leben und Gesundheit aktiv schützen – insbesondere durch ein funktionierendes Gesundheitssystem, das allen gleichermaßen zugänglich ist.
Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG)
Der Gleichheitsgrundsatz verpflichtet den Staat, niemanden willkürlich zu benachteiligen. Eine Ungleichbehandlung aufgrund des Alters wäre nur dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist – bloße Effizienz- oder Kostenargumente genügen hierfür grundsätzlich nicht.
Verfassungsrechtliche Bewertung der Äußerungen
Objektivierung des Menschen nach Nützlichkeitskriterien
Streecks Aussage impliziert eine Bewertung menschlichen Lebens nach ökonomischen und utilitaristischen Maßstäben. Die Frage, ob man „bei einer 100-Jährigen wirklich noch teure Medikamente“ einsetzen solle, rückt das Leben alter Menschen in ein reines Kosten-Nutzen-Kalkül. Damit droht die Würde des Einzelnen auf den Wert seiner Restlebenszeit reduziert zu werden. Konsequent zu Ende gedacht, müssten Rentner und Dauerkranke sich gleich entleiben, um der Gemeinschaft nicht auf der Tasche zu liegen.
Zur Erinnerung,
Schon vor den 1930er Jahren kursierten Forderungen, Menschen mit Behinderungen zu töten: Die 1920 von dem Juristen Karl Binding und dem Psychiater Alfred Hoch veröffentlichte Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ sorgte in der Weimarer Republik für teils auch kritische Debatten, fand allerdings später bei den NS-Ideologen Anklang. Das Werk prägte die Vorstellung, Menschen als „lebensunwert“ einzustufen zu können. Es regte auch Überlegungen an, menschliches Leben an wirtschaftlicher Rentabilität zu messen und damit die Ermordung von kranken oder behinderten Menschen zu rechtfertigen.
(c) bpb/Bundeszentrale für politische Bildung: Vor 80 Jahren: Beginn der NS-„Euthanasie“-Programme
Dies widerspricht dem zentralen Gedanken des Art. 1 Abs. 1 GG, wonach Leben nicht verrechnet werden darf. Die Verfassung untersagt jede Form der Bewertung menschlicher Existenz nach ökonomischem Nutzen. Das ist auch eine Lehre aus der Nazizeit.
Gefahr der Diskriminierung aufgrund des Alters
Die Äußerungen legen nahe, dass ältere Menschen im medizinischen System nachrangig behandelt werden sollten. Eine solche Haltung läuft dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zuwider. Wenn Alter zum entscheidenden Kriterium für die medizinische Versorgung wird, liegt eine verfassungswidrige Altersdiskriminierung vor.
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt betont, dass der Staat sicherzustellen hat, dass niemand aufgrund biologischer Merkmale von existenziellen Leistungen ausgeschlossen wird (vgl. BVerfGE 115, 320 – Luftsicherheitsgesetz).
Dort hat das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich festgestellt:
Unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürdegarantie) ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten. Die Annahme, dass derjenige, der als Besatzungsmitglied oder Passagier ein Luftfahrzeug besteigt, mutmaßlich in dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls dieses in einen Luftzwischenfall verwickelt wird, ist eine lebensfremde Fiktion. Auch die Einschätzung, dass die Betroffenen ohnehin dem Tod geweiht seien, vermag der Tötung unschuldiger Menschen in der geschilderten Situation nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz.
Verletzung der staatlichen Schutzpflichten
Würde die von Streeck geforderte Praxis in verbindliche Leitlinien einfließen, würde dies bedeuten, dass der Staat seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht in vollem Umfang nachkäme. Es wäre ein staatlich sanktioniertes System der medizinischen Priorisierung nach Lebensalter, was gegen die Grundidee des solidarischen Gesundheitssystems verstößt. Zwar sind medizinische Ressourcen begrenzt, und Priorisierungen finden auch faktisch statt – etwa bei Organspenden oder Triage-Situationen. Doch diese Entscheidungen werden nach medizinischer Dringlichkeit und Erfolgsaussicht, nicht nach dem Lebenswert getroffen. Streecks Vorschlag überschreitet hier die verfassungsrechtliche Grenze.
Meinungsfreiheit und politische Verantwortung
Selbstverständlich fällt Streecks Äußerung zunächst unter die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG). Politiker dürfen – und sollen – gesellschaftlich schwierige Fragen offen diskutieren.
Allerdings unterliegt auch die Meinungsfreiheit Schranken, insbesondere den allgemeinen Gesetzen und den verfassungsimmanenten Grenzen wie dem Schutz der Menschenwürde. Wenn ein Regierungsvertreter oder Mandatsträger eine Haltung äußert, die geeignet ist, den verfassungsrechtlich garantierten Wert des Lebens bestimmter Bevölkerungsgruppen zu relativieren, kollidiert seine Meinungsfreiheit, abgesehen von der Widerlichkeit eines solchen Gedankens, mit seiner Amtspflicht zur Wahrung der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG). Somit kann eine solche Äußerung zwar formal zulässig, politisch und ethisch aber verfassungswidrig im Sinne der Werteordnung des Grundgesetzes sein.
Gesellschaftliche und ethische Dimension
Die Debatte berührt ein zentrales Spannungsfeld: den Umgang mit begrenzten medizinischen Ressourcen in einer alternden Gesellschaft. Doch jede Diskussion über Verteilungsgerechtigkeit darf niemals dazu führen, dass bestimmte Gruppen als weniger lebenswürdig erscheinen.
Ein Staat, der beginnt, Lebensverlängerung nach Alter zu rationieren – auch wenn es nur um wenige Tage geht –, gefährdet die normative Grundlage seiner eigenen Verfassung, die bedingungslose Achtung der Menschenwürde. Was soll als nächstes kommen? Eine ökonomisch begründete Verpflichtung zum sozialverträglichen Ableben? Heißt das neue Motto „Live and let die“?
Merkwürdigerweise fremdeln „C“DU-Politiker häufig mit der Frage der Sterbehilfe. Warum man nun über die Verweigerung von lebensverlängernden Medikamenten das Sterben fordern sollte, weiß ich nicht.
Die Äußerungen von Hendrik Streeck sind in ihrer Tendenz verfassungsrechtlich höchst problematisch. Sie widersprechen der im Grundgesetz verankerten Vorstellung, dass jedes Leben gleichwertig und unantastbar ist. Eine Priorisierung medizinischer Versorgung nach Alter oder Kosten wäre mit Art. 1, Art. 2 und Art. 3 GG unvereinbar, da sie den Menschen zum Objekt eines ökonomischen Kalküls degradiert.
Während die Äußerung als persönliche Meinung durch Art. 5 GG geschützt bleibt, steht sie im Widerspruch zur Werteordnung des Grundgesetzes und ist daher im verfassungsrechtlichen Sinne unhaltbar.
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