Artikel 146 GG – Vom „Provisorium“ zur vollen Verfassung

Ständig liest man davon, dass das Grundgesetz keine gültige Verfassung sei. Das ist grober Unfug. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.

Grundgesetz Verfassung

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Artikel 146 Grundgesetz ist ein echter Sonderling. Während viele Normen ziemlich technisch klingen, hat dieser Artikel fast etwas Poetisches:

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Kurz gesagt: Das Grundgesetz gilt – aber es könnte irgendwann durch eine neue Verfassung ersetzt werden. Klingt nach einer offenen Tür, oder? Genau das war auch so gemeint.

Ein Blick zurück: Warum gibt es Art. 146 überhaupt?

1949 war Deutschland geteilt und unter alliierter Kontrolle. Eine „richtige“ Verfassung für ganz Deutschland war damals schlicht nicht drin. Also hat man das Grundgesetz geschaffen – danals bewusst als „Provisorium“.

Art. 146 war dabei ein Versprechen: Sobald Deutschland wieder frei und geeint ist, sollte das Volk selbst in freier Entscheidung eine Verfassung beschließen. Bis dahin tat halt das Grundgesetz seinen Dienst.

Dann kam die Wiedervereinigung

1990 stand die Frage im Raum: Brauchen wir jetzt eine neue Verfassung nach Art. 146 – oder reicht es, das Grundgesetz einfach auf ganz Deutschland auszudehnen?

Die Politik entschied sich für den pragmatischen Weg: Die DDR trat der Bundesrepublik nach Art. 23 a.F. bei. Seitdem gilt das Grundgesetz für alle Deutschen – und zwar nicht mehr als vorübergehende Notlösung, sondern als endgültige Verfassung.

Das heißt, Art. 146 blieb bestehen, aber eher als Erinnerung daran, dass das Volk sich theoretisch immer eine neue Verfassung geben könnte.

Juristisch kurz eingeordnet – Es gibt zwei Ebenen:

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Art. 79 GG: Hier geht’s um Änderungen am Grundgesetz. Das geht, solange die „Ewigkeitsklausel“ (z. B. Demokratie, Menschenwürde) nicht angetastet wird.

Art. 146 GG: Hier geht’s nicht um Änderungen, sondern um einen kompletten Neuanfang. Wenn das Volk in freier Entscheidung eine neue Verfassung beschließt, würde das Grundgesetz durch diese ersetzt.

Wichtig: Das ist keine Einladung zum Chaos. Das Volk kann so etwas nur als verfassungsgebende Gewalt tun – also in einem geordneten Verfahren, etwa durch eine verfassungsgebende Versammlung und Volksabstimmung.

Politische Bedeutung

Heute erfüllt Art. 146 vor allem drei Funktionen:

Er erinnert symbolisch daran, dass jede Verfassung letztlich vom Volk getragen sein muss. Das ist letztlich eine Binse.

Er lässt aber die Tür offen für eine mögliche neue Verfassung, wenn das Volk das jemals will.

Und er steht als geschichtlicher Marker als Übergang vom Provisorium zur echten Verfassung.

Missverständnisse – vor allem bei „Reichsbürgern“

Einige Gruppen, besonders die sogenannten „Reichsbürger“, behaupten, Art. 146 beweise, dass Deutschland gar keine gültige Verfassung habe. Das ist aber schlicht falsch.

Denn das Grundgesetz ist längst eine vollwertige Verfassung – mit Grundrechten, Gewaltenteilung, demokratischer Ordnung. Genau das, was eine klassische Verfassung ausmacht.

Art. 146 sagt eben nicht: „Bis dahin gibt es keine Verfassung.“ Sondern: „Bis dahin gilt das Grundgesetz – und danach vielleicht etwas Neues, wenn das Volk das so will.“

Gerichte – allen voran das Bundesverfassungsgericht – haben immer wieder bestätigt: Das Grundgesetz ist die vollwertige und gültige Verfassung Deutschlands. Punkt bzw. Ausrufezeichen.

Die „Reichsbürger“-Argumentation lebt also von einem Missverständnis – oder besser: von einem bewussten Verdrehungsversuch.

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Artikel 146 GG ist heute weniger eine praktische Handlungsanleitung als ein demokratisches Versprechen: Das Volk bleibt souverän und könnte sich jederzeit eine neue Verfassung geben.

Aber: Das ändert nichts daran, dass das Grundgesetz seit 1990 die verbindliche Verfassung Deutschlands ist – und zwar eine, die international hoch angesehen ist und die es zu verteidigen gilt..

Art. 146 ist daher eher ein Erinnerungsstück an die besondere Entstehungsgeschichte der Verfassung – und ein Symbol für gelebte Demokratie.

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