Der nicht gehörte Visionär – Georgij Fedotow über die europäische Krise der 1930-er Jahre

Die Erfolge der Rechtspopulisten und die Erosion der bis dahin als selbstverständlich geltenden Gewissheiten veranlassen einige Autoren dazu, in der heutigen Krise, die den Westen erschüttert, eine Art Neuauflage der Vorkommnisse der 1930-er Jahre zu sehen. Nicht zuletzt deshalb gewinnt die Frage nach den Ursachen für den Zusammenbruch der europäischen Ordnung in der Zwischenkriegszeit einen aktuellen Bezug. Dabei darf man nicht vergessen, dass sich dieser Zusammenbruch nicht über Nacht vollzog. Er hat sich lange angebahnt und an Warnern hat es nicht gefehlt. Besonders sensibel reagierten manche russische Exildenker auf die Vorboten dieser Krise. Sie begriffen, dass die bolschewistische Revolution nur den ersten Akt des allgemeinen europäischen Zivilisationsbruchs darstellte und versuchten die Öffentlichkeit in ihren jeweiligen Gastländern vor der sich anbahnenden Katastrophe zu warnen. Mit einem dieser Warner – dem russischen Exilhistoriker Georgij Fedotow (1886–1951) –, dessen Schriften nur selten in westliche Sprachen übersetzt wurden, befasst sich Leonid Luks in dieser Kolumne.

Georgij Fedotow

Die Furcht vor der Freiheit

Georgij Fedotow, der Ende 1925 aus der Sowjetunion emigriert hatte, konnte von nun an aus nächster Nähe die Krise der europäischen Demokratien beobachten, und er tat dies mit großer Sorge. Zu den ersten Stellungnahmen Fedotows zu diesem Thema gehört sein Artikel „Carmen saeculare“, den er 1928 in einer russischen Exilzeitschrift veröffentlichte. Der Titel der Abhandlung bezieht sich auf ein Gedicht von Horaz, das der Dichter anlässlich des Anbruchs einer neuen Epoche der Römischen Geschichte unter Kaiser Augustus verfasste.

Auch Fedotow versucht, die Gesichtszüge der neuen Epoche zu erkennen, die nach dem „langen 19. Jahrhundert“ von 1789-1914 anbrach. Zwar benutzt Georgij Fedotow nicht expressis verbis den Begriff „das lange 19. Jahrhundert“, die Dauer dieses Jahrhunderts stand aber für ihn, ähnlich wie später für Eric Hobsbawm, fest: 1789-1914.

Was fällt Fedotow bei seiner Analyse des soeben angebrochenen neuen Jahrhunderts auf? Vor allem die abgrundtiefe Kluft, die es von dem vorangegangenen Jahrhundert trennt. Der neue Zeitgeist lehne sich gegen die raffinierte Ästhetik des 19. Jahrhunderts, gegen die kulturelle Komplexität und gegen die humanistischen Werte auf. Willensstärke und die technische Effizienz stünden demgegenüber hoch im Kurs. Kämpfernaturen und nicht reflektierende Denker gelangten nun zum höchsten Ansehen. Welche Gefahr drohe der alten europäischen Kultur von diesem neuen Europäer? – fragt Fedotow: „Vielleicht ist es die Bestialität, die nun auf den Trümmern (der Humanität) errichtet werden soll?“

Auch eine andere Entwicklung erfüllt Fedotow mit größter Sorge, und zwar die Tatsache, dass der moderne Europäer den Wert der Freiheit immer weniger schätze:

Er verrät die Freiheit auf Schritt und Tritt – in der Politik, im gesellschaftlichen Leben, in der Religion. Die Freiheit stellt für ihn einen diskreditierten Begriff dar, ein Symbol der Ohnmacht und der bürgerlichen Anarchie.

Die „Furcht“ der Europäer „vor der Freiheit“, die Erich Fromm 1941 in seinem berühmt geworden Buch beschreiben sollte, wurde von Fedotow bereits dreizehn Jahre zuvor konstatiert.

Welche anderen Wesenszüge des neuen Jahrhunderts fallen Fedotow in seiner Abhandlung von 1928 auf? Dies ist vor allem der Hang zum Kollektivismus:

Früher versuchte jedes Individuum, sich selbst treu zu bleiben, und zugleich gehörte es verschiedenen Organisationen an, um seine unterschiedlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Diese gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren Verbunden ist nun immer weniger möglich. Jede Organisation verlangt vom jeweiligen Individuum eine totale Identifikation mit ihr, wie mit seinem Stamm, seiner Familie oder seiner Nation …. Von jedem Mitglied fordert sie Treue und Gehorsam – die Disziplin eines Soldaten. …. Nur keine Zweifel haben … nur in geschlossenen Reihen im Gleichschritt marschieren! Es lebe Lenin! Es lebe Mussolini! Die Führer werden vom Kollektiv auserkoren (und dann) gelten sie in den Augen der Massen als Übermenschen.

Wenn man bedenkt, dass Fedotow diese Worte über die neuen totalitären Tendenzen in Europa im Jahr 1928 schrieb, als diese Entwicklungen sich lediglich in zwei europäischen Ländern durchgesetzt hatten – in Russland bzw. in der UdSSR und in Italien – verblüfft seine Hellsichtigkeit um so mehr.

In einem Punkt erwies sich Georgij Fedotow allerdings als falscher Prophet: Wie so oft, war Fedotow auch bei der Analyse der immer stärker werdenden totalitären Tendenzen in Europa keineswegs ein Fatalist. Er diagnostizierte im damaligen Europa nicht nur ein Anwachsen der zerstörerischen, sondern auch der schöpferischen Kräfte. Es ging ihm dabei in erster Linie um die christlichen Kirchen aller Konfessionen. Er hoffte, dass es den überzeugten Christen gelingen könnte, sich den totalitären Versuchungen wirksam entgegenzusetzen, den Marsch in den Abgrund zu stoppen. Dies ist bekanntlich nicht, zumindest nicht rechtzeitig, geschehen. Die Kirchen vermochten nicht Auschwitz und den Archipel Gulag zu verhindern.

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Das Scheitern der Weimarer Republik

Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 und der immer tiefer werdenden Krise der Weimarer Republik zu Beginn der 1930er Jahre wird Fedotow zunehmend pessimistischer. In seinem Artikel „Die soziale Frage und die Freiheit“, den er 1931 veröffentlichte, äußerst sich Fedotow sehr besorgt über die Erosion der politischen Mitte im Parteienspektrum Europas. Der Liberalismus spiele in den westlichen Ländern so gut wie keine Rolle mehr, schreibt der Autor. Die Sozialdemokraten, die nach dem Niedergang des Liberalismus zur wichtigsten Stütze der offenen Gesellschaft geworden seien, verlören in ihrer Auseinandersetzung mit dem rechten und dem linken Extremismus die politische Initiative:

Der demokratische Sozialismus verfügt zurzeit nirgendwo über ein durchdachtes … soziales Programm. Er hat keine überzeugenden Mittel, um sich der verführerischen Demagogie der Nationalsozialisten und der Kommunisten entgegenzusetzen.

Ähnliche Sorgen über den möglichen Ausgang der Auseinandersetzung der Sozialdemokraten, vor allem der SPD, mit ihren extremen Gegnern auf der Rechten und der Linken äußerte damals der Landsmann Fedotows, Alexander Schifrin, der zu den originellsten sozialdemokratischen Theoretikern der damaligen Zeit gehörte.

Organisatorische Probleme und Verwaltungsaufgaben hätten die SPD derart stark in Anspruch genommen, dass sie es verlernt habe, um menschliche Seelen zu kämpfen, schreibt Schifrin unmittelbar nach den Reichstagswahlen vom September 1930:

Was uns jetzt droht, ist nicht die unsachliche Politik, sondern die unpolitische Sachlichkeit.

Die SPD habe den größten Pressekonzern in Europa, setzt Schifrin Mitte 1931 seine Gedankengänge fort, und nichtsdestotrotz sei sie nicht in der Lage, die deutsche Öffentlichkeit in einem nennenswerten Ausmaß zu erreichen.

Die deutsche Katastrophe von 1933 führte Fedotow nicht in erster Linie auf den Willen zur Macht der radikalen Gegner der deutschen Demokratie, sondern auf die Willenslähmung der Demokraten zurück. Was Georgij Fedotow allerdings besonders stark beunruhigte, war die Tatsache, dass diese Ohnmacht der Demokratie kein deutsches oder italienisches, sondern ein allgemein europäisches Phänomen darstellte:

Die Demokratie war nirgendwo in der Lage sich selbst zu verteidigen. Sie leistet so gut wie keinen Widerstand gegen die (Versuche, sie zu zerstören…). In der Politik stellt die Schwäche nicht nur ein Unglück, sondern auch ein Laster dar. Eine Herrschaftsordnung, die nicht im Stande ist, sich zu wehren, ist umso weniger im Stande, umfassende Programme zu realisieren und das Volk zu führen.

Diese Sätze schrieb Georgij Fedotow 1934 in der Zeitschrift „Nowyj Grad“ (Die Neue Burg), die er 1931 gemeinsam mit dem russisch-deutschen Philosophen Fjodor Stepun und dem sozialrevolutionären Publizisten Ilja Bunakow-Fondaminski gründete. Die Zeitschrift stellte eine programmatische Reaktion auf die europäische Krise der 1930er Jahre dar. Ihr wichtigstes Ziel war die Verteidigung der Freiheit – des aus der Sicht der Herausgeber des „Nowyj Grad“ wichtigsten Erbes des 1789 begonnenen „langen 19. Jahrhunderts“ – gegen ihre totalitären Feinde von links und von rechts.

„Die Demokratie schläft“

Bereits 1933 veröffentlichte Georgij Fedotow im „Nowyj Grad“ einen Artikel unter dem vielsagenden Titel „Die Demokratie schläft“, in dem er seine tiefe Sorge darüber äußerte, dass die deutsche Katastrophe es nicht vermochte, die noch übriggebliebenen europäischen Demokratien wachzurütteln:

Dies ist bereits die dritte Warnung. Zunächst versank Russland im Abgrund, danach Italien, jetzt Deutschland. … Ein großer Teil Europas befindet sich nun unter Wasser, und die Fluten, die auch den äußersten Westen des Kontinents bedrohen, kommen immer näher.

Als Fedotow diese Worte schrieb, gab es in Europa Beschwichtiger unterschiedlichster Art, die meinten, man solle die Zäsur von 1933 nicht überbewerten. Die konservativen Verbündeten der NSDAP waren davon überzeugt, es würde ihnen gelingen, Hitler zu zähmen: „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt“, sagte damals einer der konservativen Verächter der Weimarer Demokratie, Franz von Papen.

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Georgij Fedotow war insoweit viel weitblickender. Er war sich darüber im Klaren, dass Deutschland nun in eine völlig neue historische Epoche eintrat:

 In ein Zeitalter, in dem die Würde des Menschen an der Reinheit des Blutes gemessen wird…. Es gibt noch keine Scheiterhaufen, auf denen die Menschen verbrannt werden (man übt dies noch an den Büchern). Man wird allerdings nicht allzu lange auf (die Verbrennungen von Menschen) warten müssen. Ein großer Teil des Weges ist bereits zurückgelegt worden.

Die Erosion der europäischen Demokratie führt Fedotow nicht zuletzt darauf zurück, dass die demokratische Idee, für die in früheren Epochen so viele auf die Barrikaden gingen, nun kaum jemanden begeistere:

Es fehlen die Ideen, es fehlt der Wille. Dies ist die Formel, mit der man die Krise der Demokratie beschreiben kann. Diese Krise offenbart nicht nur die Defizite von Institutionen, sondern etwas viel Schlimmeres: das Verwelken der demokratischen Kultur.

Gegen die Appeasementpolitik

Fedotows Diagnose von 1933/34 nahm die Entwicklung der nächsten Jahre gedanklich vorweg. Bald wurde die mangelnde Bereitschaft der westlichen Demokratien, die rechtsextremen Regime in ihre Schranken zu weisen, offensichtlich, was den letzteren erlaubte, einen aggressiven Akt nach dem anderen ungestraft zu begehen. Die Appeasementpolitik der Westmächte bestätigte die These Fedotows, dass politische Schwäche nicht nur ein Unglück, sondern auch ein Laster darstelle. Denn bei der Schwäche, die die westlichen Demokratien damals offenbarten, handelte es sich keineswegs um ein unentrinnbares quasi physikalisches Gesetz, sondern um die Folge von bewussten Entscheidungen der maßgeblichen politischen Kreise Frankreichs und Großbritanniens, die sich von dem Hochstapler in Berlin im Grunde betrügen lassen wollten, als sie den Friedensbeteuerungen Glauben schenkten, mit denen er jede seiner neuen Forderung verknüpfte. Es gab damals aber auch andere Optionen, für die der in der politischen Klasse Englands recht einsame Churchill plädierte. Er prangerte die Kapitulationsbereitschaft vieler Vertreter des britischen und französischen Establishments unentwegt an und bezeichnete Kompromisse mit Hitler als sinnlos und töricht.

Ähnlich wie Churchill zeichnete sich auch Georgij Fedotow durch den Mut aus, unpopuläre Positionen zu verteidigen. Gerade in der Zeit der allgemeinen Erosion des demokratischen Gedankens schrieb Fedotow im Artikel „Unsere Demokratie“ im „Nowyj Grad“ (1934):

Die Zeitschrift ´Nowyj Grad´ ist unpopulär, aber wir haben nichts zu verlieren. Deshalb bekennen wir uns zur Demokratie und sind bereit, sie zu verteidigen.

Den Verächtern der Demokratie schleuderte Fedotov zwei Jahre später entgegen:

Die Demokratie – das ist heute die letzte Zuflucht der Menschlichkeit. Und die Menschlichkeit, das ist das Letzte, was in der heutigen Welt noch von der christlichen Zivilisation übrigbleibt.

Die nationalistische Versuchung

Die Niederlage der spanischen Volksfrontregierung im spanischen Bürgerkrieg bestätigte die These, die Georgij Fedotow schon seit Jahren vertrat und die besagte, dass nicht nur der demokratische, sondern auch der sozialistische Gedanke seit dem Beginn der 1930er Jahre eine weitgehende Erosion erlebe. Beide Ideologien wurden von den chauvinistischen bzw. faschistischen Ideen in die Defensive gedrängt. Der extreme Nationalismus, der damals Europa in einem noch stärkeren Ausmaß als vor 1914 in ein Pulverfass verwandelte, schien der „Sieger der Geschichte“ zu sein.  Fedotow schreibt:

Das Vaterland scheint für die Mehrheit der heutigen Europäer die einzige Religion, der einzige moralische Imperativ zu sein, der von der individualistischen Zersetzung rettet. Die Größe des Vaterlandes rechtfertigt jede Sünde, verwandelt jede Niedertracht ins Heldentum.

Fedotow hebt hervor, dass dieser nationalistischen Verführung nun auch die proletarischen Massen erlagen, die früher den sozialen Kampf in den Vordergrund stellten. Die Arbeiterbewegung habe früher viel zur Humanisierung der bestehenden Ordnung, zur Durchsetzung des Gerechtigkeitsprinzips in der kapitalistischen Gesellschaft beigetragen:

Nun strömen aber die Arbeitermassen in die Armeen der siegreichen Faschisten hinein. Sie glauben, dass ihre sozialen Forderungen nicht der Sieg ihrer Klasse, sondern nur der Triumph des über den Klassen stehenden Nationalstaates sichern kann … Mit dem Wegfall der Arbeiterklasse verliert die Welt einen der größten Motoren des Fortschritts.

Welche Botschaft wollten die siegreichen europäischen Nationalisten der Welt vermitteln, fragt Georgij Fedotow. Was unterscheidet z. B. den Verfechter des großdeutschen Gedankens vom italienischen Faschisten? So gut wie nichts, meint Fedotow. Alle bewunderten die moderne Technik, die Kasernendisziplin, seien führertreu und marschierten, marschierten ohne Ende. All das, was dieses monolithische nationale Selbstbild gefährde, werde aus dem Kulturerbe der jeweiligen Nation ausgeschlossen.

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Nietzsche als Prophet des 20. Jahrhunderts

Die Frage, ob das, wonach die radikalen Nationalisten strebten, die Verteidigung der Interessen der eigenen Nation sei, wird von Fedotow bezweifelt:

Nicht der Kampf ums Dasein, sondern der Wille zur Macht bewegt sie.

Deshalb sei Nietzsche der eigentliche Prophet des 20. Jahrhunderts, so Georgij Fedotow. Nicht das Wohl ihres jeweiligen Vaterlandes, sondern der Schaden, den man den Gegnern zufügen könne, interessiere die Nationalisten am meisten. Angesichts einer solcher Einstellung verliere sogar die Perspektive eines allgemeinen Untergangs ihren Schrecken:

Der Tod ist besser als der Triumph des Feindes. Die Welt, in der mein Land nicht den ersten Platz erringen kann, soll lieber untergehen.

So hat Georgij Fedotow bereits 1935 die Trümmerlandschaft von 1945 vorausgesagt, in die Extremisten unterschiedlichster Art den europäischen Kontinent verwandeln sollten. Es war ihm klar, dass der nationalistische Größenwahn zwangsläufig zu Zerstörung und Selbstzerstörung ungeahnten Ausmaßes führen musste. Es war ihm aber auch klar, dass die nach außen derart selbstbewussten und im Stechschritt marschierenden Nationalisten unentwegt von inneren Zweifeln geplagt waren:

In der Tiefe ihrer Seele glauben sie nicht an den glücklichen Ausgang ihres Kampfes. Ihre Heimat ist von Feinden umzingelt, der Kampf der Völker kennt kein Ende und keine Lösung. Wie Samson ist der Nationalist bereit, die Säulen des ihm unsichtbaren Tempels der europäischen Kultur zu zerstören und sowohl seine Feinde als auch sich selbst unter den Ruinen zu begraben.

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